Eine große Zahl an Jugendlichen in stationärer Jugendhilfe konsumiert Drogen. Wie ich selbst in meiner praktischen Ausbildung erfahren habe, spielen auch Schnüffelstoffe keine untergeordnete Rolle bei jugendlichem Drogenkonsum. Da meine Kolleginnen über wenig Kenntnisse verfügten und Informationen nicht in ausreichendem Maß zu beschaffen waren,
stellte sich mir die Frage, ob andere Einrichtungen Jugendliche mit Schnüffelstoffkonsum betreuen. Ist Fachkräften die Gefahr der Droge überhaupt bewusst bzw. bekannt? Wie gefährlich ist die Droge wirklich? Was macht die Konsumenten aus? Und wie wird mit dem Konsum umgegangen?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Drogenkonsum im Jugendalter
1.1 Drogen - eine Definition
1.2 Lebensphase Jugend
1.3 Erklärungsansätze für Drogenkonsum im Jugendalter
1.3.1 Drogenkonsum als Risiko- und Bewältigungsverhalten
1.3.2 Drogenkonsum als erlerntes Verhalten
1.3.3 Risiko- und Schutzfaktoren
1.3.3.1 Personale Risiko- und Schutzfaktoren
1.3.3.2 Soziale Risiko- und Schutzfaktoren
1.3.3.3 Sozioökonomische Risiko- und Schutzfaktoren
2. Drogenkonsum in der Heimerziehung
2.1 Heimerziehung im Kontext der Erziehungshilfen
2.2 Gesetzliche Grundlagen
2.3 Angebotsformen
2.4 Kinder, Jugendliche und die Problemlagen
2.5 Heimerziehung und die Einstellung zu Drogenkonsum
2.5.1 JULE - Ergebnisse zu Drogenkonsum
2.5.2 Sozialgesetzbuch VIII zu Drogen
3. Schnüffelstoffe als Drogen
3.1 Schnüffelstoffe - eine Einführung
3.2 Konsum und Konsumenten
3.3 Epidemiologie
3.4 Wirkungen, Folgen und Risiken
3.5 Industrie und Gesetz
4. Schnüffelstoffkonsum im Heim - die Untersuchung
4.1 Planung der Untersuchung
4.1.1 Erhebungsinstrument
4.1.2 Untersuchungsteilnehmer
4.1.3 Fragebogen
4.1.4 Ablauf der Datenerhebung
4.2 Auswertung
4.2.1 Allgemeine Angaben
4.2.2 Angaben zum Schnüffelstoffkonsum
4.2.3 Pädagogische Realität
4.2.4 Eigene Einschätzung
4.2.5 Sonstiges
4.3 Diskussion der Ergebnisse
5. Zusammenfassung und Ausblick
6. Weiterführende Konsequenzen für die sozialpädagogische Arbeit mit schnüffelstoffkonsumierenden Jugendlichen in der Heimerziehung
7. Schnüffelstoffe in der Heimerziehung - eine unterschätzte Droge?
Glossar
Verwendete Literatur
Anhang
Abbildungsverzeichnis
4.1: Häufigkeitsverteilung der stationären Gruppen
4.2: Rangfolgenverteilung der Drogen
4.3: Derzeitige Betreuung von Schnüffelstoffkonsumenten
4.4: Geschlecht der Schnüffelstoffkonsumenten
4.5: Altersdurchschnitt der Schnüffelstoffkonsumenten
4.6: Konsumumfeld der Schnüffelstoffkonsumenten
4.7: Verwendete Konsumprodukte
4.8: Auftreten von körperlichen Folgen des Konsums
4.9: Pädagogische Maßnahmen zum Umgang mit Schnüffelstoffkonsumenten
4.10: Erkennungsmerkmale des Schnüffelstoffkonsums
4.11: Gründe für den Konsum von Schnüffelstoffen, bezogen auf die Droge
4.12: Gründe für den Konsum von Schnüffelstoffen, bezogen auf die Person
4.13: „Schnüffelstoffkonsum kann zum Tode führen“
4.14: „In den letzten drei Jahren hat der Schnüffelstoffkonsum in der Einrichtung abgenommen“
4.15: „Bezüglich des Schnüffelstoffkonsums hat die Einrichtung Kontakt mit Experten (Drogenberatung, Ärzte etc.) aufgenommen“
4.16: „Schnüffelstoffkonsum wird in den Teams der stationären Gruppen tabuisiert“
4.17: „Mein Wissen zu Schnüffelstoffen ist “
Tabellenverzeichnis
2.1: Hilfen zur Erziehung außerhalb der Familie
2.2: Familienstand der Eltern
2.3: Alters- und Geschlechtsverteilung
2.4: Vorangegangene Hilfen
Einleitung
Anfang dieses Jahres berichtete ich Kommilitonen, Dozenten und Freunden von der Idee, meine Diplomarbeit zum Thema jugendlicher Drogenkonsum - genauer über Schnüffeln - zu schreiben. Die Reaktionen waren jedoch ernüchternd. Von vielen kamen die Antworten „Das machen nur Straßenkinder“, „Das ist doch eine Armutsdroge“ und „In Deutschland schnüffelt doch keiner an Kleber“.
Im Rahmen meiner praktischen Ausbildung zur Dipl. - Sozialpädagogin (BA) in einer stationären Wohngruppe machte ich jedoch ganz andere Erfahrungen. Einige Mädchen konsumieren sehr wohl Schnüffelstoffe. Sie missbrauchen Deodorants und anderes Sprays, um sich - für kurze Zeit - in eine andere Welt zu „beamen“. Die körperlichen Folgen sind gravierend. Von einer nahe gelegenen Jugendhilfeeinrichtung wurde berichtet, dass zwei Jugendliche aufgrund des Schnüffelstoffkonsums ins Koma gefallen waren und bleibende Organ- und Hirnschäden davon getragen haben. Da meine Kolleginnen einstimmig der Meinung waren, nicht ausreichend Kenntnisse über diese Droge zu haben, erklärte ich mich bereit, Informationen zu beschaffen. Dies erwies sich schwieriger als erwartet. Weder im Internet noch in der Literatur konnte ich auf Anhieb aufschlussreiche Materialien finden. Der Versuch, Informationen über die Drogenberatung zu beziehen, erwies sich ebenfalls als Sackgasse. Der dortige Sozialpädagoge berichtete, dass es hier keine Schnüffler gebe und er außer von Berlin keine Berichte aus Deutschland kenne. Diese Sachlage deutete an, dass es sich im deutschen Sprachraum um ein recht unbekanntes Thema handelt.
Die Medien bestärkten mich jedoch in der Wahl meines Themas. Ende Januar berichtete das Reportagemagazin „Stern.tv“ unter dem Titel „Tödliches Feuerzeuggas“ über einen 13 - jährigen Jungen, der wenige Minuten nach der Inhalation von Feuerzeuggas erstickte. Weiteren Berichten zufolge (Die Welt, Die Ärzte Zeitung, WDR etc.) kam es in der Vergangenheit bereits mehrfach zum Konsum mit Todesfolge.
Die Reaktionen der Außenstehenden auf meine Idee, die Erfahrungen aus den beiden Jugendhilfeeinrichtungen, die erste Recherche nach Informationen und die Berichte aus den Medien waren nicht auf einen Nenner zu bringen. Zunehmend stellte sich mir die Frage, ob andere Einrichtungen auch Jugendliche mit Schnüffelstoffkonsum betreuen. Gibt es so wenige Konsumenten, dass der Bedarf an Informationsmaterial nicht vorhanden ist? Oder besteht eine Fehleinschätzung? Die Mitarbeiter aus Einrichtungen der Jugendhilfe werden immer wieder mit Jugendlichen konfrontiert, die Drogen konsumieren, mit ihnen experimentieren, sie missbrauchen oder gar von ihnen abhängig sind. Zunehmend offenere Formen und ein verstärktes Auftreten des jugendlichen Drogenkonsums sind zu beobachten. Neben Tabak, Alkohol und Cannabis sind immer wieder auch andere Drogen im Spiel. Zudem ist zu beobachten, dass der Einstieg in viele Drogen in einem frühen Jugendalter stattfindet. Mitarbeiter der Jugendhilfe haben einen verpflichtenden Schutzauftrag für die Kinder und Jugendlichen. Dieser Auftrag verlangt eine zielgerichtete Auseinandersetzung und die Vermittlung eines verantwortungsbewussten Umgangs mit Drogen. Für die Umsetzung dieses Auftrags ist ein fundiertes Wissen über Wirkungsweisen, Gefahren und Ursachen Voraussetzung. Ebenso notwendig ist es, den Blick nicht auf bekannten Suchtmitteln ruhen zu lassen. Berichte über „tolle“ Blumen in Trompetenform, der hohe Verbrauch des Muskatnuss - Gewürzes oder z.B. die Ansammlung von Sprays an Aufenthaltsplätzen der Jugendlichen sollten Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit geben. Neue Suchtmittel und Informationen zu betrachten und mit einzubeziehen gehört zur pädagogischen Arbeit. Es stellt sich daher auch die Frage, ob bereits Erfahrungen zum Schnüffelstoffkonsum in den Jugendhilfeeinrichtungen bestehen. Wie gefährlich und aktuell wird der Konsum von Fachkräften eingeschätzt? Welche Kenntnisse bestehen bereits? Und welche Maßnahmen werden gegen den Schnüffelstoffkonsum initiiert?
Zur Klärung dieser Fragen wurde in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, das Problem des Schnüffelstoffkonsums zu untersuchen und zu beschreiben. Zudem soll aufgezeigt werden, welche Erfahrungen im Umgang mit Schnüffelstoffkonsumenten in der stationären Jugendhilfe bestehen. Die Diplomarbeit soll einen Beitrag leisten, diese Konsumform mit seinen weitreichenden Folgen in unserer Gesellschaft besser zu verstehen. Ferner soll sie Aufschluss geben, ob Schnüffelstoffe unterschätzt werden.
In Kapitel 1 wird jugendlicher Drogenkonsum thematisiert. Für ein einheitliches Verständnis wird zu Beginn der Begriff Drogen definiert. Danach wird die Lebensphase Jugend hinsichtlich ihrer Bedeutung im menschlichen Lebenslauf betrachtet. Die Darstellung der Entwicklungsprozesse soll verdeutlichen, welche anforderungsreiche Zeit Jugendliche zu bewältigen haben. Im Weiteren werden darauf aufbauend einige Erklärungsansätze für jugendlichen Drogenkonsum angeführt. In diesem Zusammenhang haben Risiko- und Schutzfaktoren eine große Bedeutung; sie bilden den letzten Bestandteil dieses Kapitels.
Kapitel 2 widmet sich dem Drogenkonsum in der Heimerziehung. Zu Beginn folgt ein Überblick über die stationäre Jugendhilfe. In Betracht des Bezugsrahmens dieser Arbeit werden gesetzliche Grundlagen, Angebotsformen und Problemlagen der Kinder und Jugendlichen erläutert. Daran anschließend sollen Ausführungen zu Drogen in der Heimerziehung den Kontext weiter verdeutlichen. Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung zu Drogenkonsum in der Heimerziehung sowie die Aussage des Sozialgesetzbuchs VIII zur Arbeit mit drogenkonsumierenden Kindern und Jugendlichen werden dazu genutzt.
Kapitel 3 bildet mit dem Thema Schnüffelstoffkonsum den theoretischen Schwerpunkt. Nach einer begrifflichen Einführung in die Schnüffelstoffe werden der Konsum und die Charakteristik der Konsumenten dargestellt. Die epidemiologischen Daten sollen Aufschluss über die Verbreitung geben. Anschließend zeigen Wirkungen, Risiken und Folgen die Auswirkungen des Konsums auf. Zum Schluss wird der Beitrag von Industrie und Gesetz näher betrachtet.
Kapitel 4 eröffnet den empirischen Teil dieser Arbeit. Auf der Grundlage der theoretischen Erkenntnisse werden zunächst die Fragestellungen in Form von Hypothesen sowie Zielen der Untersuchung zu Schnüffelstoffkonsum im Heim präzisiert. In Kapitel 4.1 wird die Forschungsmethodologie der Untersuchung im Einzelnen dargestellt. Das Erhebungsinstrument, die Untersuchungsteilnehmer, der Fragebogen und der Ablauf der Datenerhebung werden dazu erläutert. Kapitel 4.2 gibt die Ergebnisse der schriftlichen Befragung in Form einer deskriptiven Auswertung wieder. Anschließend folgt in Kapitel 4.3 die Be- bzw. Widerlegung der Hypothesen.
Kapitel 5 fasst die theoretischen und empirischen Ausführungen zusammen, woraufhin Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse für die sozialpädagogische Arbeit erörtert werden.
In Kapitel 6 werden aufbauend auf den Erkenntnissen und den Erfahrungen der befragten Mitarbeiter und Einrichtungen Bausteine der sozialpädagogischen Arbeit im Umgang mit Schnüffelstoffkonsumenten aufgezeigt.
Kapitel 7 schließt diese Arbeit mit einem Resümee ab.
Auf das Glossar, das zum besseren Verständnis einige Begriffe näher erläutert, weist das Zeichen Æ hin. Um den Lesefluss zu erleichtern wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit ausschließlich die maskuline Schreibweise verwendet, wobei beide Geschlechter gleichermaßen angesprochen sind.
Die Verwendung der Berufsbezeichnung „Sozialpädagoge“ dient der Vereinfachung. Es sei ausdrücklich darauf verweisen, dass die Ausführungen gleichermaßen für andere pädagogische Fachkräfte, z.B. Erzieher gelten.
1. Drogenkonsum im Jugendalter
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass der Erstkonsum von Drogen in der Jugend stattfindet. Doch welche Gründe gibt es dafür, dass gerade Jugendliche mit dem Konsum von Drogen beginnen? Was „passiert“ mit Jugendlichen? Zur Klärung dieser Hintergründe bedarf es einer genaueren Betrachtung der Entwicklungssituation im Jugendalter. Nach einer begrifflichen Definition von Drogen wird die Lebensphase Jugend hinsichtlich ihrer Bedeutung im menschlichen Lebenslauf betrachtet. Des Weiteren werden Erklärungsansätze und Risiko- sowie Schutzfaktoren für jugendlichen Drogenkonsum erläutert.
1.1 Drogen - eine Definition
Die begriffliche Verwendung von „Drogen“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch uneinheitlich. Im Volksmund werden unter Drogen meist illegale Substanzen, wie Ecstasy, Heroin oder Kokain verstanden. Diese alltagssprachliche Bedeutung weicht erheblich von der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Laut der WHO wird jede Substanz als Droge verstanden, die aufgrund ihrer Æ psychotropen Wirkung die Körperfunktionen verändert. Eine Æ psychotrope Wirkung liegt vor, wenn die Einnahme der Substanz (rauchen, schlucken, trinken, spritzen, schnupfen oder inhalieren) zur Veränderung von Motorik, Denken, Verhalten, Wahrnehmung, Stimmung oder zu Halluzinationen führt. Zu den Substanzen zählen Genussmittel, wie Alkohol und Tabak, pflanzliche Wirkstoffe, wie z.B. Opiate, synthetische Wirkstoffe, wie z.B. Amphetamine, Medikamente und auch toxische Substanzen, wie z.B. Schnüffelstoffe (vgl. Friedrichs 2002, S. 21 f.).
Neben dem Konsum werden zwei Formen des Gebrauchs - der Missbrauch und die Abhängigkeit - unterschieden. Nach den Kriterien der WHO in der Æ ICD - 10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist jeglicher Gebrauch von Drogen ohne medizinischen Grund als Missbrauch zu verstehen. Folgt man der aktuellen Definition von Abhängigkeit nach der Æ ICD - 10 der WHO, die die Unterscheidung von körperlich und psychisch aufgehoben hat, lässt sich Abhängigkeit nur als Syndrom von körperlichen und kognitiven Veränderungen beschreiben. Für die Diagnostik müssen dafür bestimmte Erscheinungsbilder erfüllt sein. Gegenwärtig wird jedoch sowohl in der Literatur als auch in der Öffentlichkeit immer noch zwischen psychischer und körperlicher bzw.
physischer Abhängigkeit unterschieden. Eine psychische Abhängigkeit kennzeichnet sich durch das unwiderstehliche Verlangen nach der Wiedereinnahme der Droge, auch Craving genannt. Die Kontrolle über den Konsum ist stark eingeschränkt. Körperliche Abhängigkeit besteht, wenn sich der Körper nach mehrfachem Gebrauch an die Wirkung gewöhnt hat und somit eine Toleranz entstanden ist. Diese geht einher mit einer Steigerung der Dosis. Wird die Droge abgesetzt, kommt es durch einen veränderten Stoffwechsel zu Entzugserscheinungen (vgl. Uchtenhagen 2000 a, S. 2 f.).
1.2 Lebensphase Jugend
Das Jugendalter ist eine bedeutende Phase im Leben, die durch grundlegende biologische, intellektuelle und soziale Veränderungen charakterisiert ist. Dieser Lebensabschnitt stellt den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter dar und wird umgangssprachlich von vielen als „erwachsen werden“ bezeichnet.
Der Begriff Jugend hat multidisziplinäre Bedeutung. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive werden unter Jugend bzw. Adoleszenz vor allem Entwicklungsaufgaben betrachtet. Soziologen knüpfen an die Entwicklungsaufgaben an, verstehen unter „Jugend“ aber vordergründig die Übernahme von Erwachsenenrollen. Auch die Bezeichnung von Gleichaltrigen als Jugend fällt hierunter. Ferner bezeichnen Mediziner diese Lebensphase als Pubertät (vgl. Oerter / Dreher 2002, S. 258 f.).
Eine zeitgemäße Einteilung der Jugendphase folgt angelehnt an Steinberg in Oerter / Dreher (2002, S. 259) in folgende Altersbereiche:
frühe Adoleszenz: 11 - 14 Jahre
mittlere Adoleszenz: 15 - 17 Jahre
späte Adoleszenz: 18 - 21 Jahre
Den Anfang des Jugendalters kennzeichnen das Eintreten der Geschlechtsreife sowie die Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen im Alter von etwa 10 - 14 Jahren, bei Mädchen meist früher als bei Jungen. Die körperliche und hormonelle Veränderung bedingt eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Sie stellt zugleich eine völlig neue Anforderung an die eigene Person dar, die mit vielfältigen Ängsten und Sorgen der Jugendlichen einhergeht.
Entwicklungsaufgaben
Jugendliche haben in dieser Lebensphase eine Vielzahl von Entwicklungsaufgaben zu lösen, deren Bewältigung erst die Entwicklung darstellt. Die Auseinandersetzung damit dient dem Erwerb lebensnotwendiger Fähigkeiten und Kompetenzen, sie führt im Normalfall zu Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit.
Die bereits erwähnte Auseinandersetzung mit körperlichen Veränderungen zählt ebenso wie der Aufbau eines Freundeskreises und der Bildung einer engeren partnerschaftlichen Beziehung zur Entwicklung einer Geschlechtszugehörigkeit. Die zunehmende Bedeutung der Æ Peergroup geht einher mit der Ablösung und Distanzierung des elterlichen Einflusses. Elterliche Wertorientierungen werden häufig in Frage gestellt. Gleichaltrige befinden sich in ähnlichen Lebenslagen. Sie bieten emotionale Unterstützung, Orientierung und die Gelegenheit zum Austesten neuer Verhaltensmöglichkeiten. Akzeptanz und Anerkennung durch Gleichaltrige sind von enormer Bedeutung. Darüber hinaus nimmt die Eigenverantwortlichkeit gegenüber schulischen und beruflichen Anforderungen zu. Bei der Entwicklung von Zukunftsperspektiven sind Jugendliche gefordert, sich mit Ausbildung und Beruf als Grundlage einer eigenen Existenz auseinanderzusetzen. Die Zunahme an Selbstverantwortung richtet sich außerdem auf eigene Handlungsmuster bezüglich der gewissenhaften Nutzung von Konsumgütern sowie der Entwicklung ethischer, politischer und moralischer Wertmaßstäbe. Diese dienen zugleich als Grundlage für die gesellschaftliche Integration und die Übernahme von neuen sozialen Rollen. Ziel hierbei ist die Entwicklung eines eigenen Lebensstils, der auch die Beteiligung an außerfamiliären Angeboten beinhaltet. Anpassung und Duldung, aber auch Verweigerung und Protest kennzeichnen diese unruhige Zeit der Suche nach der eigenen Identität (vgl. Hurrelmann 2005, S. 26 ff.).
Erst durch die täglichen Auseinandersetzungen mit den vielfältigen Anforderungen entwickelt sich eine eigene Persönlichkeit.
Laut Schäfers (2001, S. 18.) kann das Jugendalter als abgeschlossen gelten, wenn Unabhängigkeit bezüglich Beruf, Einkommen und Verselbständigung erreicht sind und das Individuum seine persönliche und soziale Identität gefunden hat.
Die mit der Volljährigkeit einhergehende Selbständigkeit im Hinblick auf Geschäftsfähigkeit, Strafmündigkeit und Wahlrecht ist also bei weitem nicht ausreichend. Zudem ist die gesellschaftliche Vorstellung, dass das Ende der Jugendzeit um das 20. Lebensjahr liegt, in Zeiten von Arbeitslosigkeit für viele schwer erreichbar. Einen eindeutigen bzw. verbindlichen Zeitpunkt für das Ende der Jugendphase festzulegen, ist somit nicht möglich.
Die Sozialisation im Jugendalter gilt nach Hurrelmann (2002, S. 157) als gelungen, wenn Jugendliche die vielen Entwicklungsaufgaben bewältigen. Zugleich kann dies als Voraussetzung für eine gesunde Persönlichkeit und Ich - Identität betrachtet werden. Wird eine wichtige Entwicklungsaufgabe nicht oder nur teilweise bewältigt, können sich anstauende Entwicklungsaufgaben ungünstig auf den weiteren Entwicklungsverlauf auswirken. Dazu kann es folglich kommen, wenn die Bestimmung von Entwicklungszielen misslingt, wenn die Realisierung der Ziele aufgrund fehlender Kompetenzen nicht möglich ist (Schulschwierigkeiten, kein Ausbildungsplatz etc.) oder weil zu viele Aufgaben gleichzeitig anstehen.
1.3 Erklärungsansätze für Drogenkonsum im Jugendalter
Die Jugend stellt wie wahrscheinlich kein weiterer Lebensabschnitt eine Lebensspanne dar, in der die jungen Menschen, aufgrund der vielen Erwartungen, besonders herausgefordert sind. Bei dem Versuch diese Erwartungen zu bewältigen kann es aus unterschiedlichen Gründen zu Drogenkonsum kommen. Eine verbindliche Antwort ist beim gegenwärtigen Wissensstand nur ansatzweise möglich. Verschiedenste Disziplinen beschäftigen sich mit diesem vermutlich multifaktoriellen Geschehen, das nur im Wechselspiel zwischen Person, Umwelt und Droge verstanden werden kann.
Es erscheint sinnvoll, jugendlichen Drogenkonsum im Rahmen einer besonders tief greifenden und anforderungsreichen Lebensphase zu betrachten.
1.3.1 Drogenkonsum als Risiko- und Bewältigungsverhalten
„Es gibt viele Ursachen und Motive für den Gebrauch von Drogen. Letztlich aber ist jeder Drogenkonsum ein subjektiver Austausch des Versuchs, sich alltäglichen Lebensrealitäten, Leistungs- und Entwicklungsanforderungen zu stellen, also eine - wenn auch problematische - Form der Lebensbewältigung“ (Schmidt 1995, S. 63).
Jugendlicher Drogengebrauch kann Teil eines jugendspezifischen Experimentier- und Risikoverhaltens sein. Das Ausprobieren von Verhaltensweisen und das Testen von Grenzen sind in diesem Alter völlig normal. Das Erlernen des Umgangs mit Drogen gehört in einer von legalen Drogen geprägten Lebenswelt zu den Entwicklungsaufgaben. Um herauszufinden, mit welchen Herausforderungen ein Jugendlicher umgehen kann und mit welchen nicht, stellt das Experimentieren auch ein entwicklungsförderndes Verhalten dar. Schließlich verlangt diese Lebensphase, verschiedenste Facetten zu testen und kennen zu lernen (vgl. Hurrelmann 2002, S. 136 ff.).
Von diesem Verständnis ausgehend kann Drogenkonsum aufgrund des Kennenlernens von Grenzen als ein positives Entwicklungsziel betrachtet werden. Andererseits kann es aber auch als Hilfsmittel zur Bewältigung zahlreicher weiterer Anforderungen gesehen werden. Generell muss von einer Vielfalt von Motiven ausgegangen werden. Die folgenden Funktionen stellen nur eine Auswahl dar (vgl. Hurrelmann / Unverzagt 2002, S. 76):
- Bewusste Verletzung von gesellschaftlichen Normvorstellungen
- Vorwegnahme des Erwachsenenstatus
- Möglichkeit der grenzüberschreitenden, bewusstseinserweiternden Erfahrung
-Zugangsmöglichkeit zu Freunden und Teilhabe an Zusammengehörigkeiten Mittel zur Lösung bei frustrierendem Versagen, Entspannung und Genuss.
Drogenkonsum wird somit auch als eine Strategie interpretiert, mit der Jugendliche der aktiven Problemlösung aus dem Weg gehen, indem sie Belastungen (scheinbar) erträglicher machen oder den Konsum zum Ersatzziel werden lassen. Die lebensalterspezifischen Hintergründe der Jugendphase machen deutlich, mit welch enormen Anforderungen und Belastungen Jugendliche umgehen müssen, die zuweilen gleichzeitig und gehäuft auftreten. Die Belastungen, die Jugendliche zusätzlich noch zu tragen haben, sind dazu im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen. Wandelnde Familienformen, veränderte Lebens- und Berufsbedingungen der Eltern, die zu Lasten der Kinder gehen sowie wachsende schulische Anforderungen in Bezug auf Berufsperspektiven stellen Konstellationen dar, die Jugendliche immer öfter überfordern. Jugendliche befinden sich zudem in einer entscheidenden Phase der Neuorientierung, in der sie noch nicht im Besitz einer gefestigten Persönlichkeitsstruktur sind. Da die Bewältigung der vielen Anforderungen sich nicht von selbst ergibt und auch nicht nur durch bloßes Nachahmen erreicht werden kann, stehen Jugendliche automatisch vor einer Reihe von Problemen.
Die frühe Adoleszenz (13 - 15 Jahre) ist hiervon besonders betroffen. Mädchen und Jungen gehen mit alltäglichen Belastungssituationen, Stress und Gefühlen unterschiedlich um. Während Mädchen auf Alltagsstress viel häufiger mit psychosomatischen Beschwerden reagieren, tragen Jungen Anspannung und Überforderungen z.B. durch Aggressivität aus sich heraus. Mädchen versuchen häufiger über ihre Probleme zu reden, sie weinen häufiger oder knallen die Tür. Auch das Tagebuch ist ein hilfreicher Begleiter, um Wut und Ärger nicht nach außen auszuleben. Jungen hingegen schieben Probleme eher weg, lenken sich davon ab, leben sie nach außen aus oder versuchen sie durch Drogen zu vergessen (vgl. Fend 2005, S. 215 ff.).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Mädchen tendenziell eher nach innen gerichtete Muster in Form von Rückzug verwenden und Jungen eher eine rebellische, aggressive, nach außen gerichtete Strategie aufweisen. Doch auch Mädchen zeigen immer mehr die Tendenz, Drogen zur emotionalen Entlastung zu konsumieren.
Im Laufe der Jugendphase entwickeln Jugendliche Bewältigungsstrategien, die oft in Zusammenhang mit Sozialisationsbedingungen stehen. Nicht jeder Jugendliche greift bei Anstrengungen, Herausforderungen oder Stresssituationen gleich zu Drogen. Je nachdem wie ein Kind die nötige Unterstützung bekommt, entwickeln sich eher günstige Strategien oder eher Strategien mit ausweichender bzw. vermeidender Reaktion auf Probleme. Laut Schmidt (2001, S. 67) wird Drogenkonsum als problematisch betrachtet, wenn es eine unproduktive Art des Æ Copings ist.
Nach dem Konzept der Belastungsverarbeitung nach Lazarus sind Reaktionen das Ergebnis einer subjektiven Bewertung zwischen entsprechender Situation und den persönlichen Ressourcen. Je nach Bewertung kann ein Ereignis Verlust / Schaden (Trauer), Bedrohung (Angst) oder Herausforderung (positive Aktivierung) für die Person bedeuten und sich als Informationssuche, direkte Handlung oder in Form von Aktionshemmung auswirken (vgl. Krause 2006, Folie 149). Zur Bewältigung der Vielzahl an Entwicklungsaufgaben sind permanente Anpassungsleistungen erforderlich. Mayr (1995, S. 32) fasst treffend zusammen, dass „die Passung zwischen den Anforderungen der geänderten Lebenssituation auf der einen und den einer Person zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auf diese Anforderungen einzugehen, auf der anderen Seite“ nicht mehr stimmt. Erforderlich sind deshalb neue Strategien und Verhaltensweisen.
Diese Entwicklung erfordert viele Anstrengungen und Entscheidungen. Sie ist geprägt von Verunsicherungen, Gefühlsschwankungen, Frustrationen, Anspannungen und Überforderungen. Das Jugendalter offenbart sich als ein risikoreiches Lebensalter. Als Reaktion auf Entwicklungsdruck greifen viele auf riskante, gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen, wie Drogenkonsum zurück. Sie verschaffen sich so eine bessere Stimmung und versuchen den Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Das anfängliche Neugier- und Probierverhalten wird vor allem dann problematisch, wenn das Risikoverhalten über das für Jugendliche normale Probieren hinausgeht. Zu dieser Grenzüberschreitung kommt es, wenn sich der Konsum dauerhaft als Handlung bei der Bewältigung von täglichen Lebensanforderungen festigt und fortwährend an Routine gewinnt (vgl. Hurrelmann 2002, S. 136 ff.). Mit dieser Reaktion gehen Jugendliche einerseits die Gefahr der Abhängigkeit ein, andererseits stellt dieser „Weg der Manipulation“ (Hurrelmann 2002, S. 169) auf der Suche nach Auswegen und Entlastung eine blockierende Form der Lebensbewältigung dar.
1.3.2 Drogenkonsum als erlerntes Verhalten
Da beim erstmaligen Gebrauch von Drogen meist eine Geschmacksaversion als unangenehme Wirkung beschrieben wird, ist es für das Verständnis des Drogenkonsums bedeutend, die Rolle des Umfelds zu beleuchten. Zur Erklärung dieses Phänomens werden die Æ klassische Konditionierung nach Pawlow, die Æ operante Konditionierung nach Skinner sowie das Æ Modelllernen nach Bandura herangezogen.
Nach den Prinzipien des Imitationslernens werden durch Beobachtung des Verhaltens von Eltern, Geschwistern oder Freunden Konsumgewohnheiten erworben. Bereits in der Kindheit beobachten Kinder genau ihre Umgebung und so auch Konsumgewohnheiten der Eltern. Sie lernen nicht nur die Wirkung und Art und Weise, sondern auch die Motive und Anlässe kennen.
Viel wichtiger aber erscheint hier die Bedeutung der Æ Peergroup. Der Jugendliche erfährt durch das Beobachten anderer die positiven Folgen des Konsums. Probiert er dann selbst, erfährt er Akzeptanz, Anerkennung und Gruppenzugang im Sinne positiver Verstärkung. Diese Bekräftigung ergänzt durch das gesellige Beisammensein der Clique ist häufig ausschlaggebend für die Fortführung des Konsums. Wird der Konsum im Folgenden auch in Konflikt- und Stresssituationen aufgrund der erleichternden Wirkung eingesetzt, lernt der Jugendliche im Rahmen der Æ operanten Konditionierung, dass er sich bei Konsum besser bzw. schlechter fühlt, wenn er nicht konsumiert. Der Gebrauch kann allmählich zur Gewöhnung und schließlich zur Abhängigkeit führen (vgl. Schmidt 2001, S. 67 ff.).
Weitere Bedeutung kommt den Lerntheorien im Zusammenhang mit der elterlichen Erziehung zu. Kinder und Jugendliche beobachten, wie Eltern Probleme lösen. Wenn Kinder daheim sehen, dass Stress z.B. mit einem Bier heruntergespült oder eine Zigarette zur Beruhigung geraucht wird, lernen sie, dass man sich nicht unbedingt allen Schwierigkeiten und Anforderungen stellen muss. Ein Familienklima, in dem Probleme nicht bearbeitet werden, ist für die eigene Persönlichkeitsentwicklung nicht förderlich.
Eine ähnliche Wirkung kann nach Hurrelmann et al. (2000, S. 113) ein überbehütender oder auch ein lässiger Erziehungsstil hervorrufen. Beim Laissez faire - Stil führt das fehlende Aufzeigen von Grenzen dazu, dass eigene, aber auch Grenzen anderer nicht erfahren und erprobt werden können. In einer überbehüteten Erziehung führt das Beseitigen von Schwierigkeiten dazu, dass Verhaltensweisen nicht geübt werden können, die im späteren Leben aber zur Bewältigung schwieriger Situationen notwendig sind.
1.3.3 Risiko- und Schutzfaktoren
Aus der vorherigen Betrachtung wird erkennbar, dass das Vorhandensein von individuellen und sozialen Ressourcen eine günstige Entwicklung fördert. Je mehr individuelle Kompetenzen ein Jugendlicher besitzt, desto größer ist die Chance einer gelingenden Bewältigung. Bestimmte Faktoren beeinflussen dabei jugendlichen Drogenkonsum und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer dysfunktionalen Entwicklung, andere wiederum senken sie.
Auf diesem Ansatz basiert das Modell der Risiko- und Schutzfaktoren. Als Risikofaktor für Drogenkonsum definieren Clayton et al. (In Schmidt 2001, S. 40 f.):
„an individual attribute, individual characteristic, situational condition, or environmental context that increases the probability of drug use or abuse or a transition in the level of involvement with drugs”.
Schutzfaktoren sind dementsprechend Einflüsse, die Drogenkonsum verhüten, einschränken oder reduzieren, einen Puffer für Risikofaktoren darstellen oder deren Wirkung reduzieren.
Schmidt (2001, S. 40 f.) macht darauf aufmerksam, dass derzeit noch nicht ausreichend geklärt ist, in welcher Relation Risiko- und Schutzfaktoren stehen. Klar ist aber, dass die Æ Prävalenz dieser Faktoren je nach Person unterschiedlich ist und dass sich die beiden Faktoren nicht gegenseitig ergänzen. Das Vorhandensein eines protektiven Faktors bedeutet nicht zugleich die Abwesenheit eines Risikofaktors. So stellt z.B. starke Religiosität zwar einen protektiven Faktor für Drogenkonsum dar, geringe Religiosität jedoch nicht einen Risikofaktor. Ferner ist unklar, inwieweit ein Kausalzusammenhang zwischen Risikofaktoren und Verhalten besteht. Im Vergleich zu Risikofaktoren fehlen außerdem empirische Studien, die die Bedeutung der protektiven Faktoren als Schutz vor Drogenkonsum genauer untersuchen.
Zusammenfassend wird mit diesem Ansatz der Tatsache Rechnung getragen, dass nie nur eine Ursache allein zur Entwicklung von Drogenkonsum führt. Entscheidend ist stets ein Zusammenspiel von individuellen, sozialen und sozioökonomischen Faktoren.
1.3.3.1 Personale Risiko- und Schutzfaktoren
Zu den personalen Risikofaktoren, die im Zusammenhang mit Drogenkonsum stehen, zählen die genetische Veranlagung, Persönlichkeitsmerkmale sowie persönliche Einstellungen und Verhaltensweisen.
Genetische Veranlagung
Hinweise, dass Erbanlagen bei einigen Suchtformen eine Rolle spielen und zu einer höheren Vulnerabilität führen, ergeben sich aus Zwillings- und Adoptionsstudien. Eine direkte Vererbung konnte bisher zwar nicht festgestellt werden, aber eine erhöhte Æ Konkordanzrate für Alkoholabhängigkeit bei eineiigen Zwillingen sowie bei Geschwistern, die in verschiedenen Adoptivfamilien aufgewachsen sind. Für andere Substanzen gibt es nur wenige Befunde (vgl. Uchtenhagen 2000 b, S. 194).
Persönlichkeitsmerkmale
Ein geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie minimale Belastbarkeit wirken gefährdend. Die Entwicklung von geeigneten Handlungskompetenzen zur Bewältigung von Anforderungen wirkt sich hingegen protektiv bezüglich des Drogenkonsums aus. Eine optimistische Grundhaltung und die Überzeugung, dass das eigene Verhalten einen Einfluss auf Situationen hat sowie die Einschätzung, alltägliche Anforderungen bewältigen zu können (internale Kontrollüberzeugung), gelten nach Schmidt (2001, S. 43 ff.) als wichtige Ressource. Im Umkehrschluss ist ein Mangel an Durchsetzungsvermögen als Risikofaktor zu verstehen. Hurrelmann (2005, S. 62) weist ferner auf das Potential für verschiedene Talente als personale Ressource hin.
Persönliche Einstellungen
„Je positiver die Einstellung zum Drogenkonsum, desto stärker ist in der Regel auch der Drogenkonsum, bzw. je ausgeprägter der Drogenkonsum, desto positiver die Einstellung dazu“ (Schmidt 2001, S. 46).
Die positive Bewertung des Drogenkonsums basiert vor allem auf geschlechtsspezifischen Vorstellungen, nach der z.B. Jungen die traditionelle Männerrolle demonstrieren wollen. Ebenso spielt die Einstellung der Freunde zum Drogenkonsum eine bedeutende Rolle. Empirische Studien belegen außerdem, dass Religiosität als einflussreicher protektiver Faktor gilt (vgl. Schmidt 2001, S. 46). Ergänzend nennt Uchtenhagen (2000 c, S. 197 ff.) Gesundheitsbewusstsein und die Wahrnehmung von Risiken und Gefährlichkeit als bedeutende Ressourcen.
Verhaltensweisen
Früher Konsumbeginn gilt als zuverlässigstes Indiz für späteren Drogenkonsum. Nach Dryfoos (1990 in Schmidt 2001, S. 47 f.) ist das Risiko, riskante Gebrauchsgewohnheiten zu entwickeln, umso größer, je früher der Einstieg in den Drogenkonsum beginnt. Der Gebrauch wird vor allem in Zusammenhang mit Problembelastungen betrachtet. Wird der Konsum als Belastungsbewältigung in Form einer Selbstmedikation gewählt, gilt er als besonders problematisch im Hinblick auf die Entwicklung von missbräuchlichem Konsum. Die Art, wie Jungen und Mädchen auf Belastungen reagieren, unterscheidet sich - wie bereits in Kapitel
1.3.1 erwähnt - grundlegend.
1.3.3.2 Soziale Risiko- und Schutzfaktoren
Von noch größerer Bedeutung sind Einflüsse aus der sozialen Umgebung zu betrachten, wozu insbesondere die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Æ Peergroup zählen.
Familie
Zu den Risikofaktoren im Bereich Familie zählen insbesondere ein problematischer Erziehungsstil, familiäre Belastungen und elterlicher Drogenkonsum. Elterliches Konsumverhalten wirkt Modell liefernd auf den jugendlichen Konsum. Der Erziehungsstil der Eltern hat einen bedeutenden Einfluss. Kritikloser Umgang im Rahmen einer permissiven oder vernachlässigenden Erziehung kann genauso als Risikofaktor gelten wie ein überbehütender Erziehungsstil.
Jugendliche mit suchtkranken Eltern oder Geschwistern unterliegen einem erhöhten Risiko, Drogen zu nehmen. Solche Entwicklungen stehen häufig in Zusammenhang mit einem belastenden und konfliktreichen Familienklima. Broken - home - Bedingungen sowie kritische Lebensereignisse, wie z.B. Trennung, Scheidung oder der Tod einer nahestehenden Person korrelieren mit jugendlichem Drogenkonsum. Ein positiv erlebtes Familienklima, das sich durch Aufmerksamkeit, Zuwendung, Liebe und Geborgenheit kennzeichnet, stellt hingegen einen relevanten protektiven Faktor dar. Wie Jugendliche mit Anforderungen zurechtkommen, hängt in entscheidendem Maß von der sozialen Unterstützung der Eltern ab. Geschlechterunterschiede lassen sich hinsichtlich der Eltern - Kind - Beziehung finden. Mädchen haben häufiger als Jungen eine stabile Beziehung zu ihren Eltern. Jungen haben häufiger Streit mit Eltern, sie fühlen sich im Vergleich weniger wertgeschätzt und respektiert (vgl. Schmidt 2001, S. 49 ff.).
Schule
Leistungsprobleme und Konflikte in der Schule gelten bei vielen Jugendlichen als auslösender Faktor für Drogenkonsum. Jungen sind hiervon jedoch wesentlich häufiger betroffen als Mädchen. Forschungen zufolge sind Jungen stärker als Mädchen durch Leistungsversagen belastet, wobei unklar ist, ob sie schlechtere Leistungen erbringen oder stärker unter schlechten Leistungen leiden. Ebenso führen fehlende berufliche Perspektiven bei Jungen eher zu Belastungen als bei Mädchen. Schulabbrecher und Schulschwänzer stellen laut Studien einen weiteren Risikofaktor dar. So genannte Dropouts (Schulabbrecher) nehmen demnach mehr Drogen, haben einen besseren Zugang zu Substanzen, können ihren Drogenkonsum schlechter kontrollieren und weisen häufiger drogeninduzierende Schwierigkeiten auf als vergleichbare schulintegrierte Jugendliche (vgl. Schmidt 2001, S. 57 f.). Wie Medien immer wieder zu entnehmen ist, hat auch die Verfügbarkeit von Drogen an Schulen negative Auswirkungen.
Peergroup
Die Æ Peergroup gilt als ein weiterer Indikator und Risikofaktor für Drogenkonsum bei Jugendlichen. Werden in einer Gruppe von Gleichaltrigen Drogen konsumiert bzw. Drogenkonsum unterstützt, so ist die Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen hoch, dass auch er Drogen konsumiert. Abgesehen vom Alkohol, findet der Erstkonsum von Drogen häufig im Freundeskreis statt. Die Modellfunktion der Freunde nimmt im Jugendalter eine immer wichtiger werdende Rolle ein. Die Æ Peergroup bietet dann nicht nur einen Raum zum Experimentieren, sie besitzt auch eine anregende Funktion. Daneben kann der Konsum der Droge den Kontaktaufbau und die soziale Integration erleichtern. Im Unterschied zu elterlicher Unterstützung sollte die soziale Unterstützung durch Gleichaltrige in Bezug auf Drogenkonsum folglich eher weniger als Schutzfaktor, denn als Risikofaktor bewertet werden (vgl. Schmidt 2001, S. 53 ff.).
1.3.3.3 Sozioökonomische Risiko- und Schutzfaktoren
Obwohl die soziale Herkunft lange Zeit als Indikator für Drogenkonsum galt, belegen neuere Studien, dass Drogenkonsum, ausgenommen Zigarettenkonsum, über alle Schichten gleichmäßig verteilt ist. Die Schichtzugehörigkeit stellt somit keinen generellen Risikofaktoren dar (vgl. Schmidt 2001, S. 58 f.). Uchtenhagen (2000 c, S. 196 ff.) schließt sich dieser Tatsache an, bezeichnet zugleich Lebensqualität aber als eine wichtige Ressource. Gleichzeitig nennt er neben dem positiv erlebten Milieu, Wohnqualität, Entwicklungsperspektiven sowie Zugang zu Bildung und Gesundheit als Variabeln dieser Lebensqualität. Die Realität zeigt aber mehr denn je, dass diese Variablen entscheidend von der sozialen Herkunft abhängig sind. In sozialen Brennpunkten häufen sich schlechte Wohnqualität, der Anteil an Drogenabhängigen, Arbeitslosigkeit etc.
Das Fehlen eines festen Wohnsitzes gilt als Risikofaktor für jugendlichen Drogenmissbrauch. Studien belegen, dass Straßenkinder in deutlich höherem Ausmaß an psychischen, physischen und sozialen Problemen leiden.
Gesetzliche Regelungen in Form von Verkaufsbeschränkungen und Preiserhöhungen in Bezug auf legale Drogen haben eine Reduktion des Konsums zur Folge (vgl. Schmidt 2001, S. 59 f.). Auf Schnüffelstoffe sind diese Interventionen aufgrund der Vielfältigkeit der Produkte nicht übertragbar.
2. Drogenkonsum in der Heimerziehung
Jugendliche, die im Rahmen der Heimerziehung betreut werden, gelten als eine stark problembelastete Gruppe. Die Tatsache, dass viele Jugendliche in der Heimerziehung Drogen konsumieren, erscheint in diesem Zusammenhang einleuchtend. Oft sind es Jugendliche, die aufgrund ihrer persönlichen Situation Drogen als Problemlösung anwenden. Seltener hat es die Heimerziehung mit abhängigen Jugendlichen zu tun.
Zur Klärung, was Heimerziehung ausmacht, werden im Folgenden gesetzliche Grundlagen, Angebotsformen und Problemlagen dargestellt und anhand von statistischen Zahlen ergänzt. Anschließend wird der Drogenkonsum in der Heimerziehung anhand der Æ Evaluationsstudie JULE sowie die Bedeutung des Sozialgesetzbuchs VIII zu Drogen thematisiert, um die Brisanz des Themas zu verdeutlichen.
2.1 Heimerziehung im Kontext der Erziehungshilfen
Heimerziehung hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Heimkampagnen der 70er- und 80er - Jahre sowie die Initiierung des Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) auf der Basis des Achten Jugendberichts der Bundesregierung (1990) haben zu Reformen in der Heimlandschaft geführt, die sich mit den Prinzipien Dezentralisierung, Regionalisierung, Partizipation und Lebensweltorientierung beschreiben lassen.
Aus der Forderung nach anderen Hilfemöglichkeiten und der Kritik an der damaligen Heimerziehung entstanden die Erziehungshilfen. Hilfen zur Erziehung sind beratende, begleitende und / oder betreuende Hilfeformen nach dem Achten Sozialgesetzbuch. Heimerziehung, als außerfamiliäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, stellt eine der vorgesehenen Hilfeformen dar. Sie steht somit und vor allem aufgrund ihrer hohen Kosten zum Zeitpunkt der aktuellen Finanzdebatten in Konkurrenz zu den anderen Erziehungshilfen. Ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfen sollen gleichrangig behandelt werden (vgl. BMFSFJ 1998, S. 37 ff.). Aufgrund der Kosteneinsparungen im sozialen Bereich folgt stationäre Hilfe aber oft als letzte Möglichkeit den ambulanten und teilstationären Angeboten. Bei der Betrachtung der Fallzahlen der Heimerziehung im Vergleich zu anderen Erziehungshilfen (s. Tab. 2.1) fällt auf, dass trotz deutlicher Veränderungen zugunsten anderer Hilfeformen Heimerziehung (noch) keine randständige Position einnimmt.
Tab. 2.1: Hilfen zur Erziehung außerhalb der Familie
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.2 Gesetzliche Grundlagen
Erziehungshilfen werden nach § 27 Abs. 1 SGB VIII gewährt, wenn
„eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. (…) Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden“ (DTV 2005, § 27 SGB VIII).
Personensorgeberechtigte haben einen einklagbaren Rechtsanspruch.
Dieser leistungsrechtliche Charakter verdeutlicht die gestärkte Bedeutung der Familie und die Beteiligung der Kinder bzw. Jugendlichen am Hilfeprozess. Weiterhin wird gefordert, die Hilfe an den vorhandenen Ressourcen auszurichten sowie sich an der Lebenswelt der Adressaten zu orientieren.
Heimerziehung ist nach § 34 SGB VIII als Hilfe über Tag und Nacht in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform zu verstehen. Gemäß dem Einzelfall ist die Hilfe in Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten zu gestalten. Ferner sollen Jugendliche in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung beraten und unterstützt werden. Dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes bzw. Jugendlichen sowie den Möglichkeiten zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen entsprechend, soll Heimerziehung die Rückkehr in die Herkunftsfamilie, die Vorbereitung der Erziehung in einer anderen Familie oder aber eine auf Dauer angelegte Lebensform mit der Vorbereitung auf ein selbständiges Leben zum Ziel haben (vgl. DTV 2005, § 34 SGB VIII).
Einbezug junger Volljähriger
Nach § 41 SGB VIII soll jungen Volljährigen in der Regel bis zur Vollendung des
21. Lebensjahrs Hilfe gewährt werden, solange die Hilfe notwendig erscheint. Hiermit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei Volljährigkeit keine überstürzte Beendigung der Hilfe eintritt (vgl. Münder 2003, § 41).
Einbezug seelisch Behinderter
Mit § 35 a SGB VIII wurde der Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfe auch auf seelische behinderte Kinder und Jugendliche erweitert. Anspruchsberechtigt sind Kinder und Jugendliche (nicht Personensorgeberechtigte), die seelisch behindert oder von solch einer Behinderung bedroht sind (vgl. Münder 2003, § 35a). Als seelisch behindert gelten nach § 47 BSHG auch Suchtkranke.
Ergänzend zu den Regelungen der §§ 34, 41 und 35 a SGB VIII ist vor allem die Bestimmung zu Mitwirkung und Hilfeplan (§ 36 SGB VIII) zu sehen.
2.3 Angebotsformen
Die gesetzliche Grundlage „Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen“ gem. § 34 SGB VIII deutet bereits an, dass Heimerziehung sich im Laufe der Zeit verändert hat. Dezentralisierung, Entspezialisierung und Flexibilisierung kennzeichnen die Entwicklung. Verkleinerte Gruppen, Verlagerung von Heimplätzen in kleinere Wohneinheiten außerhalb des Heimgeländes, familienähnliche Settings sowie neue Wohnformen führten zur Entinstitutionalisierung. Alle Differenzierungen, die dem Begriff „sonstige betreute Wohnform“ zugeordnet werden, wie z.B. Wohngemeinschaften, Familiengruppen und betreutes Einzelwohnen, sind geradezu charakteristisch für moderne Heimerziehung. Im Folgenden wird die Vielfalt der Angebotsformen kurz dargestellt (vgl. dazu Günder 2000, S. 68 ff.).
Wohngruppen
Wohngruppen umfassen verschiedenste Lebensorte. Als klassische, aber auch negativ besetzte Form gelten die Gruppen, die sich als Erbe der totalen Institutionen am Rande der Städte auf den Zentralgeländen der Einrichtungen befinden. Neben dieser institutionalisierten Betreuungsform bestehen Kleinstheime, Kinderdörfer, heilpädagogische und therapeutische Heime.
Außenwohngruppen (AWG)
AWGs entstanden vor allem im Rahmen der Dezentralisierung von Wohngruppen; heute existieren sie meist als selbständige Institutionen. Verglichen mit den Gruppen auf dem Heimgelände führen die in das normale Wohnumfeld integrierten Gruppen zu einer deutlichen Normalisierung der Lebensbedingungen.
Betreutes Wohnen
Meist als letzte Phase der Heimerziehung, aber auch als eigene Betreuungsform hat sich das Betreute Wohnen etabliert. Im Betreuten Wohnen leben drei bis vier Jugendliche oder junge Volljährige in einer Wohngemeinschaft, die nicht mehr rund um die Uhr betreut werden.
Sonstige Wohnformen
Neben den genannten Formen findet man heutzutage eine Vielfalt weiterer Differenzierungen. Wohngruppen mit einem Betreuerehepaar und flexible Gruppen, wie Wochengruppen, zählen zu den neueren Formen der Hilfen nach § 34 SGB VIII. Ebenso dazu gehören die Erziehungsstellen als familienähnliche Betreuungsform. Sie unterscheiden sich von Pflegefamilien gem. § 33 SGB VIII dadurch, dass mindestens ein „Elternteil“ eine pädagogische Ausbildung hat, für die er bezahlt wird.
Diese - sicher nicht vollständige und nur knapp angerissene - Darstellung verdeutlicht, dass es im Rahmen der stationären Jugendhilfe inzwischen eine breite Palette von Angeboten und Konzeptionen gibt, die sich am individuellen Hilfebedarf orientieren. Aufgrund dessen müsste im Folgenden eher die Rede von Heimerziehungen oder stationären Erziehungshilfen sein.
2.4 Kinder, Jugendliche und die Problemlagen
Im Rahmen der Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen werden junge Menschen betreut, die aus verschiedensten Gründen nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können, wollen oder dürfen. Wenngleich es nicht möglich ist, ein typisches Profil an Problemlagen zu benennen, so ist doch auffällig, dass die jungen Menschen in der Regel aus Familien mit sozialen Benachteiligungen stammen, die sich besonders in wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Problemen ausdrücken (vgl. BMFSFJ 1998; siehe auch Bürger 2001).
Zur Situation der Herkunftsfamilie zeigt Tab. 2.2, dass die jungen Menschen der stationären Erziehungshilfe überdurchschnittlich aus unvollständigen Familien stammen.
Tab. 2.2: Familienstand der Eltern
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Werte verdeutlichen - vorsichtig formuliert -, dass die jungen Menschen aus stark vorbelasteten Familienverhältnissen kommen, die von einer hohen Problemverdichtung geprägt sind. Als solche Problembereiche sind beispielsweise zu nennen: Überforderung, Suchtproblematik der Eltern, problematische Wohnverhältnisse, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit etc. Die Brüchigkeit der Familie zeigt sich auch am hohen Anteil von Kindern mit Gewalt- und sexuellen Missbrauchserfahrungen (vgl. BMFSFJ 1998, S. 202 ff.).
Die belastenden Umstände beeinflussen die Sozialisation maßgebend, sie wirken sich ebenso negativ auf das Beziehungsverhältnis innerhalb der Familien aus. Dies spiegelt sich im Verhalten der Kinder wider. Nach den Ausführungen von Günder (2000, S. 31 ff.) sind in jungen Jahren Verhaltensstörungen und Schulprobleme häufig Auslöser für eine Hilfe, im Alter ab 10 Jahren liegt der Grund für den Hilfebeginn öfters in Erziehungsschwierigkeiten, psychischen Störungen, Umhertreiben und Delinquenz. Ergänzend trennt Finkel (2000 a, S. 36 f.) nach Geschlechtern. Während Essstörungen, psychische Auffälligkeiten, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen sowie Störungen in der Eltern - Kind - Beziehung häufiger bei Mädchen auffallen, sind gewalttätiges Verhalten und Schulschwierigkeiten eher bei Jungen erkennbar.
Tab. 2.3: Alters- und Geschlechtsverteilung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Geschlechts- und Altersverteilung in Tab. 2.3 ist erkennbar, dass vorwiegend ältere Kinder, besonders 12 -18 - Jährige in stationären Hilfen aufgenommen werden. Zudem befinden sich in jeder Altersstufe mehr Jungen als Mädchen. Erst ab dem 15. Lebensjahr nimmt die eindeutige Geschlechterverteilung ab. Das hohe Aufnahmealter korreliert mit dem ohnehin problemreichen Pubertätsalter. Weiterhin ist zu bemerken, dass stationären Hilfen in fast 84 % der Fälle andere Hilfen vorausgehen (s. Tab. 2.4).
Tab. 2.4: Vorangegangene Hilfen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Ergebnis kann in Zusammenhang mit dem präventiven Gedanken der Jugendhilfe und dem damit zusammenhängenden Ausbau anderer Hilfeangebote betrachtet werden. U.a. führt dieser Strukturwandel letztendlich dazu, dass sich in der Heimerziehung junge Menschen mit erheblichen Problemkonstellationen zusammenfinden. Kinder und Jugendliche mit einem vergleichsweise geringen Unterstützungsbedarf werden seltener Adressat der Heimerziehung. Eine anspruchvollere Zielgruppe geht einher mit erhöhten Anforderungen an Mitarbeiter und Gestaltung der Hilfe.
2.5 Heimerziehung und die Einstellung zu Drogenkonsum
Die Einstellung der Einrichtungen, dass die Jugendhilfe gezwungen ist, sich mit jugendlichem Drogenkonsum auseinanderzusetzen, war vor 10 - 15 Jahren noch völlig fremd. In den Konzeptionen war vermerkt, dass Jugendliche mit Drogenkonsum entlassen bzw. nicht aufgenommen wurden. Einige Einrichtungen verfahren noch heute in dieser Weise. Der überwiegende Teil hat aber mittlerweile erkannt, dass es „die Jugendhilfe ohne Drogen einfach nicht gibt“ (Zitat aus Fachgespräch. In: Finkel 2000 b, S. 98). Drogenkonsum wird als Bestandteil jugendlicher Lebenslagen betrachtet.
Der Umgang mit drogenkonsumierenden Jugendlichen ist jedoch immer noch sehr zwiespältig. Einerseits zeigt sich seit der Einführung des KJHG und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung der Angebotsformen eine Tendenz der Enttabuisierung und Öffnung für jugendliche Drogenkonsumenten. Andererseits führt der Drogenkonsum heutzutage noch oftmals zu Ausgrenzungen und Sanktionierungen im Alltag. Fachkräfte reagieren sehr unterschiedlich auf drogenkonsumierende Jugendliche. Nicht immer sind die Reaktionen von pädagogischen Überlegungen gekennzeichnet. Oftmals ist das Handeln von Unsicherheit und Ratlosigkeit geprägt. Persönliche Einstellungen, eigene Erfahrungen und Kenntnisse spielen eine große Rolle (vgl. Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Baden - Württemberg 1999, S. 2 ff.).
2.5.1 JULE - Ergebnisse zu Drogenkonsum
Die Ergebnisse der Æ Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen „Leistungen und Grenzen von Heimerziehung“ des Forschungsprojekts JULE (vgl. BMFSFJ 1998, S. 333 ff.; siehe auch Finkel 2000 b, S. 86 ff.) belegen, dass sich Jugendhilfeeinrichtungen im Umgang mit Drogenkonsumenten schwer tun. Einige wichtige Ergebnisse der Studie, die dies belegen, werden im Folgenden zusammengefasst.
Zu den Drogenkonsumenten ist anzuführen, dass im Verhältnis zu den absoluten Zahlen mehr Jungen als Mädchen Drogen konsumieren, was auf geschlechts- spezifische Bewältigungsstrategien zurückgeführt wird. Rund 1/3 der Mädchen über 15 Jahren und etwa die Hälfte der Jungen über 15 Jahren sind Drogenkonsumenten, wobei Art und Intensität des Konsums in der Studie nicht feststellbar waren.
Die Problemlagen der Familien zeigen häufiger als in der Vergleichsgruppe Schwierigkeiten in familiären Beziehungsstrukturen. Drogenprobleme der Eltern wurden hingegen nicht besonders häufig erwähnt. Die Problemlagen der jungen Menschen zeigen, dass sich drogenkonsumierende Jugendliche häufiger einem problematischen Milieu zugehörig fühlen, häufiger Schwierigkeiten in Schule oder Ausbildung haben und häufiger aggressives und abweichendes Verhalten zeigen, als Jugendliche, die keine Drogen konsumieren. Darüber hinaus wurde vielfach Vernachlässigung genannt.
Zusammenfassend zeigt sich, dass jugendliche Drogenkonsumenten deutlich stärker problembelastet sind als Jugendliche der Vergleichsgruppe. Drogenkonsum stellt - und das zeigt die Untersuchung deutlich - dabei nur ein Problem unter vielen dar.
Beim Alter der Drogenkonsumenten spiegelt sich eine erwartete Konstellation wider. In der Altersstufe von 15 - 18 Jahren werden nicht nur die meisten Hilfen initiiert, mit 52,7 % überwiegt diese Altersgruppe auch bei der Feststellung einer Drogenproblematik.
Umso bedenklicher erscheint, dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ziemlich kurz ausfällt. Die meisten Hilfen werden bereits innerhalb der ersten 1 ½ Jahre aufgrund von „Kooperationsverweigerung“ beendet. Bei der Bilanzierung der Entwicklungsverläufe zeigt sich, dass drogenkonsumierende Jugendlichen vergleichsweise wenig von der Hilfe profitieren. Über die Hälfte der jungen Menschen weisen keine maßgeblichen oder sogar negative Veränderungen auf. Nur in ca. 30 % der Fälle sind positive Entwicklungen zu verzeichnen.
[...]
- Citation du texte
- Daniela Friedrich (Auteur), 2007, Schnüffelstoffe in der Heimerziehung - eine unterschätzte Droge?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82533
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