Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den sprachlichen Verhältnissen im niederdeutschen Sprachraum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Entstehung, der Blütezeit und des Niedergangs der Hanse. Es wird u. a. untersucht, weshalb und wie es bei mehreren gleichzeitig existierenden Varietäten im niederdeutschen Sprachareal zur Durchsetzung der mittelniederdeutschen Sprache kam, ob Mittelniederdeutsch als eigene Sprache betrachtet werden muss, welche Faktoren den Untergang des Mittelniederdeutschen begünstigten, und ob es sich hinsichtlich des Übergangs von der niederdeutschen zur hochdeutschen Schriftsprache um Sprachen- oder Sprachpolitik handelt.
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung und Vorgehen
2. Varietäten – Eine Definition
2.1 Die sprachlichen Verhältnisse im niederdeutschen Raum zur Zeit der Hanse und die Durchsetzung des Mittelniederdeutschen
3. Sprachen- und Sprachpolitik – Eine Definition
3.1 Sprach(en)politik im niederdeutschen Raum im 16. Jahrhundert
4. Transkription aus dem Kapitel 65 der Regula Benedicti (deutsch): Der Prior des Klosters
4.1 Sprachliche Analyse
5. Zusammenfassung
6. Bibliografie
1. Fragestellung und Vorgehen
Im 12./13. Jahrhundert führten die Durchsetzung des Gebrauchs von Volkssprachen in Verbindung mit kulturellen Modernisierungen zu den Anfängen von sprachenpolitischem Verhalten sowie sprachlichen Konflikten und Zwängen. Seit der Zeit der Französischen Revolution werden diese zwischensprachlichen Konflikte als „S p r a c h (e n) p o l i t i k“ bezeichnet (von Polenz 2000, 252, Hervorhebung im Original). So gibt es zum Beispiel „preußische Sprachenpolitik gegenüber der polnischen, österreichische gegenüber der slowenischen“, oder auch „französische gegenüber der elsässischen Sprachminderheit“ (ebd., 252). Am Gegensatz Hochdeutsch/Niederdeutsch wird jedoch sichtbar, dass eine Unterscheidung zwischen „’Sprache’ und ‚Varietät einer Sprache’“ mitunter schwierig ist (ebd., 253). Aus diesem Grund möchte ich mich in meiner Arbeit mit den sprachlichen Verhältnissen im niederdeutschen Raum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert beschäftigen. Die Thematik zieht zum einen die Frage nach den Ursachen der Durchsetzung einer bestimmten Varietät nach sich, zum anderen muss untersucht werden, ob im Zusammenhang mit der sprachlichen Entwicklung im niederdeutschen Raum von Sprach(en)politik und sprach(en)politischen Maßnahmen gesprochen werden kann.
Im ersten Teil werde ich auf Grundlage der Definition untersuchen, weshalb und wie es bei mehreren gleichzeitig existierenden Varietäten im niederdeutschen Sprachareal zur Durchsetzung der mittelniederdeutschen Sprache kam.
Im zweiten Teil soll dann die Frage im Mittelpunkt stehen, ob es sich hinsichtlich des Übergangs von der niederdeutschen zur hochdeutschen Schriftsprache um Sprachen- oder Sprachpolitik handelt. Dazu werde ich auch klären, ob Mittelniederdeutsch als eigene Sprache betrachtet werden muss, und ob es sich in diesem Zusammenhang um Sprachwandel oder Sprachenwechsel handelt. Darüber hinaus soll am Beispiel der weltlichen und kirchlichen Institutionen die Frage geklärt werden, ob tatsächlich von sprach(en)politischen Maßnahmen gesprochen werden muss. Abschließend zu diesem Teil werde ich analysieren, welche Faktoren den Untergang des Mittelniederdeutschen begünstigten.
Der dritte Teil enthält die Transkription sowie die sprachliche Analyse eines Textes des 65. Kapitels der deutschen Fassung der Regula Benedicti.
2. Varietäten – Eine Definition
Stickel (1997, 1) definiert den Fachbegriff Varietät als „eine Vielfalt miteinander verschränkter regionaler, sozialer, funktionaler und situativer Ausprägungen des Deutschen.“ Zu den Varietäten zählen Fachsprachen, Gruppensprachen sowie Dialekte (vgl. ebd., 1). Nabrings (1981, 19) erweitert die Definition noch entscheidend, indem sie die Ursache „für die Existenz von sprachlichen Varietäten, von verschiedenen ‚Sprachen’ in einer Sprache“, im „Verhältnis von ‚Sprache und Gesellschaft’“ sieht, wobei „die Anzahl und die jeweilige Ausprägung der Varietäten von den spezifischen Voraussetzungen abhängig sind.“ Die Konsequenz der sich in einer Sprachgemeinschaft sozial sowie „sprachlich gegeneinander abgrenzenden“ Gruppen ist die Herausbildung spezifischer sprachlicher Varietäten, die den jeweiligen Kommunikationsbedürfnissen entsprechen (ebd., 19). Nabrings (ebd., 19) unterteilt die sich gegenüberstehenden, „mehr oder weniger ausgeprägte[n, C. R.] ‚Subsysteme’ einer Sprache“ einerseits in „gruppenspezifische“, andererseits in „situationsspezifische“ Sprechweisen. Damit ist „die innere Differenzierung der Sprache [...] als Folge und Ausdruck der jeweiligen Sozialstruktur einer Gesellschaft“ zu verstehen. Das heißt, dass die „differenzierten sprachlichen Gegebenheiten [...] in ein Verhältnis zu dem komplexen Sozialsystem zu setzen und auf dieses jeweils konkret abzubilden“ sind (ebd., 19). Aus dieser allgemeinen Definition folgt, dass „die konkrete Ausprägung der innersprachlichen Heterogenität von der jeweiligen Differenziertheit und Komplexität einen Sozialsystems abhängt“ (ebd., 22).
Je komplexer und komplizierter ein Sozialsystem also ist, umso größer ist auch die Anzahl von Varietäten innerhalb des Systems. Am Beispiel des niederdeutschen Sprachgebietes ist ersichtlich, dass Nabrings’ Erkenntnis diesbezüglich richtig ist. Aufgrund der sich verändernden politischen und ökonomischen Situation gehört der niederdeutsche Sprachraum im 13. Jahrhundert zu den Gesellschaften mit der höchsten Sprachvielfalt (vgl. ebd., 23).
Im folgenden Abschnitt möchte ich zeigen, dass sich Nabrings’ Definition hinsichtlich des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft auf Lübeck anwenden lässt.
2.1 Die sprachlichen Verhältnisse im niederdeutschen Raum zur Zeit der Hanse und die Durchsetzung des Mittelniederdeutschen
Bei der Untersuchung meiner Frage darf einerseits nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die sprachliche Situation Lübecks im 12. Jahrhundert weitestgehend auf Vermutungen stützt, da die schriftliche Überlieferung des Mittelniederdeutschen erst um 1250 einsetzte. Vor 1250 war die Schriftsprache vorwiegend Latein. Andererseits muss klar zwischen Mundarten und überlieferter Schriftsprache unterschieden werden. Folglich werde ich zuerst die Varietäten der gesprochenen Sprache und danach die Varianten in der geschriebenen Sprache Lübecks untersuchen. Im folgenden Kapitel stützt sich meine Analyse auf den Übergang von Latein zu Mittelniederdeutsch. Weiterhin werde ich im ersten Teil hinsichtlich der gesprochenen Sprache den Begriff Varietät, in Bezug auf die geschriebene Sprache den Begriff Variante verwenden.
Seit 1150 wanderten durch die „einsetzende Ostkolonisation“ Siedler ins slawische Wagrien, das Gebiet der späteren Stadt Lübeck, ein (vgl. Peters 2000, 1496). Peters (ebd., 1496) vermutet, dass diese zunächst aus der näheren westlichen Umgebung, dem „Gebiet der Holsten und Stormarner“ kamen; später kamen dann Siedler aus der fernen westlichen Umgebung dazu, zum Beispiel aus Holland, Friesland, vor allem jedoch aus Westfalen. Es entstand zunächst der altslawische Handelsplatz Liubice. Als Lübeck 1159 durch Heinrich den Löwen neu gegründet wurde, bildeten vermutlich die Siedler dieses Handelsplatzes sowie Slawen den Kern der Stadtbevölkerung. Hinzu kamen noch Neusiedler aus Bardowick. Durch die „Ostsiedlung“ entstand im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts das ostniederdeutsche Sprachareal (vgl. ebd., 1496). Darüber hinaus nimmt Peters (ebd., 1496 f.) an, dass die verschiedene Herkunft der Migranten „Mehrdialektalität“ in Lübeck zur Folge hatte. Neben verschiedenen niederdeutschen Dialekten, vor allem nordniedersächsisch und westfälisch, werden die Siedler auch ostfälisch, rheinisch, niederländisch und ostseeslawisch gesprochen haben (vgl. ebd., 1498).
Die ersten Siedler, die aus der westlichen Umgebung sowie Bardowick einwanderten und somit die älteste Bevölkerungsschicht Lübecks bildeten, sprachen nordniedersächsische Mundarten. Es ist wahrscheinlich, dass ihre Sprache die „lübische Stadtsprache entscheidend geprägt“ hat (ebd., 1498).
Daraus folgt, dass „die nachfolgenden westfälischen Migranten [...] schon eine Stadtmundart nordniedersächsischer Prägung“ vorfanden und sich dieser dann anpassten (ebd., 1498). Peters (ebd., 1498) spricht in diesem Zusammenhang von „einem innerstädtischen Sprachausgleich“, der sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts durch das Zusammenleben in Lübeck vollzog. Darüber hinaus vermutet er (ebd., 1498), dass „neben der sich herausbildenden Stadtmundart weiterhin auch nnsächs. und westf. Dialekte gesprochen worden sind“, da ständig Siedler sowohl aus der näheren ländlichen Umgebung als auch aus Westfalen zuzogen. Wie groß der Einfluss der bereits vorhandenen Mundart in Lübeck war, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass vor allem der westfälische Dialekt die spätere Schriftsprache nicht gravierend beeinflusst hat, obwohl immerhin fast ein Viertel der Lübecker Bevölkerung westfälischer Herkunft war, wie aus einer Untersuchung der Herkunftsnamen hervorgeht (vgl. ebd., 1496). In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind Spuren der westlich – westfälischen Mundart in der Lübecker Stadtsprache zwar keine Seltenheit und aufgrund des hohen Anteils der Westfalen ist auch anzunehmen, dass ein Teil der lübischen Bevölkerung die westlichen Merkmale übernommen und gesprochen hat. In die spätere geschriebene Sprache gelangten die Merkmale jedoch nur als Ausnahme, wenn zum Beispiel der Stadtschreiber westfälischer Herkunft war (vgl. ebd., 1500). Es ist nach wie vor eine Hypothese, dass es eine mündliche niederdeutsche Verkehrssprache tatsächlich gab. Es sprechen jedoch viele Fakten für die Existenz einer solchen. Zum einen waren viele einflussreiche Lübecker Familien an der Gründung anderer Ostseestädte beteiligt und mit den Einwohnern dieser Städte verwandt beziehungsweise hatten großen Anteil an deren Einwohnerschaft. Somit konnten sie die sich herausbildende Lübecker Stadtmundart an diese Städte weitergeben (vgl. ebd., 1498). Auch die Rechtsverhältnisse trugen zur Verbreitung der Stadtmundart bei, denn Lübeck war der „Oberhof der lübischen Stadtrechtsfamilie“, der mündlich Rechtsauskunft an andere Ostseestädte erteilte (ebd., 1498).
Zum anderen spielte der Handel eine erhebliche Rolle, denn die nordniedersächsischen, westfälischen sowie ostfälischen Fernhandelskaufleute Lübecks trafen auf ihren Fahrten nach Nowgorod mit den Kaufleuten aus den wendischen Ostseestädten zusammen. Durch den Kontakt auf den Fahrten sowie das Zusammenleben in Nowgorod konnte sich ein ähnlicher Sprachausgleich wie in Lübeck vollziehen. Auch hier konnte sich das einfachere „nordnd. Sprachsystem [...] aus sprach - ökonomischen Gründen“ durchsetzen (ebd., 1498). Es ist wahrscheinlich, dass sich die Sprecher westfälischer und ostfälischer Dialekte um eine Anpassung an den lübischen Sprachgebrauch bemüht haben, um Verständigungsschwierigkeiten mit nichtniederdeutsch sprechenden Handelspartnern zu reduzieren (vgl. ebd., 1498).
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts trat ein „Umbruch der Organisationsform“ im hansischen Handel ein, der die „Verschriftlichung des Handels“ zur Folge hatte (ebd., 1498). Die Kaufmannshanse wandelte sich um 1300 zur Städtehanse. Das hatte einerseits zur Folge, dass Kaufmänner sesshaft wurden und mit Hilfe von Handlungsgehilfen und einem Schreiber „Kaufleutekorrespondenz und Handlungsbücher“ führten (ebd., 1498). Andererseits erlangte Lübeck die wirtschaftliche und politische Führung der Hanse. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass „die Schriftsprache der Hanse zur Zeit ihres Aufstiegs“ Latein war und bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts auch blieb (ebd., 1503). Das lübische Mittelniederdeutsch konnte sich gegenüber dem universalen Latein zunächst 200 Jahre nicht durchsetzen. Nach traditioneller Auffassung konnte das hansische Schriftwesen „erst dann zum Nd. übergehen [...], als dieses eine gewisse überregionale Einheitlichkeit erreicht hatte“ (ebd., 1500). Aus den schriftlich überlieferten Dokumenten ist zu sehen, dass dieser Übergang um 1370 stattfand. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lübeck den Höhepunkt seiner hansischen Macht erreicht. Daraus folgt, dass die Entstehung des mittelniederdeutschen Sprachgebiets zwar zweifellos mit der Entstehung des hansischen Wirtschaftsraumes verbunden ist, jedoch zeitlich nicht parallel verläuft (vgl. ebd., 1503).
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- Corinna Roth (Autor), 2007, Varietäten und Sprach(en)politik im niederdeutschen Sprachraum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82249
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