Die Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Leben von Generation zu Generation weitergegeben wird und wie die vielfältigen Lebensformen auf der Erde entstanden sind, hat die Menschen immer wieder beschäftigt und bewegt. Der historisch immer variierende Züchtungsgedanke der Menschen, im Sinne einer Perfektionierung des sogenannten "Menschenmateriales", sowie einer Entprivatisierung des Reproduktionsverhalten, ist fester Bestandteil vieler klassischer Sozialutopien.
Wird der Blickwinkel auf jene literarischen Werke eingeschränkt, welche eine Sozialutopie exponieren, lassen sich im Durchgang durch die Literaturgeschichte folgende Sachverhalte subsumieren: Die Geschichte der Utopie läuft keineswegs parallel zu der ihres Begriffs. Das Phänomen ist über 2000 Jahre alt. Platons Politeia (423-347 v.Chr.) gilt als erste rational durchkonstruierte Utopie. Der Terminus Utopie indessen tritt erstmals im Jahr 1516 auf und leitet sich vom griechischen ou bzw. topos ab, übersetzt Nicht-Ort. Der englische Lordkanzler Thomas Morus (1478-1535) brauchte den Begriff griechischer Prägung als Namen für eine ferne Insel, auf der ihrem fiktiven Charakter entsprechend, ein ideales Gemeinwesen existiert. Seit der Veröffentlichung von Mores "Utopia" war dieser Titel dazu ausersehen, mehr oder weniger unterschiedslos literarische Werke aller Zeiten zu subsumieren, die in Dialogform, als Roman oder auf ähnliche Weise versuchen, eine Gesellschaft oder ein Staatswesen auszumalen, das von menschlichen Unvollkommenheiten frei ist.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Biographie und historischer Hintergrund des Autors
2. Aufbau, gesellschaftliche Grundlagen, politisches System und soziale Basis des Sonnenstaates
3. Eugenik und Fortpflanzung im Sonnenstaat
3.1. Die Sexualität im Sonnenstaat
3.2. Die Fortpflanzung im Sonnenstaat
3.3. Die Hygiene und Säuglingspflege
4. Zusammenfassung
5. Literaturangaben
Einleitung
Die Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Leben von Generation zu Generation weitergegeben wird und wie die vielfältigen Lebensformen auf der Erde entstanden sind, hat die Menschen immer wieder beschäftigt und bewegt. Der historisch immer variierende Züchtungsgedanke der Menschen, im Sinne einer Perfektionierung des sogenannten „Menschenmateriales“, sowie einer Entprivatisierung des Reproduktionsverhalten, ist fester Bestandteil vieler klassischer Sozialutopien.
Wird der Blickwinkel auf jene literarischen Werke eingeschränkt, welche eine Sozialutopie exponieren, lassen sich im Durchgang durch die Literaturgeschichte folgende Sachverhalte subsumieren: Die Geschichte der Utopie läuft keineswegs parallel zu der ihres Begriffs. Das Phänomen ist über 2000 Jahre alt. Platons Politeia (423-347 v.Chr.) gilt als erste rational durchkonstruierte Utopie. Der Terminus Utopie indessen tritt erstmals im Jahr 1516 auf und leitet sich vom griechischen ou bzw. topos ab, übersetzt Nicht-Ort.[1] Der englische Lordkanzler Thomas Morus (1478-1535) brauchte den Begriff griechischer Prägung als Namen für eine ferne Insel, auf der ihrem fiktiven Charakter entsprechend, ein ideales Gemeinwesen existiert. Seit der Veröffentlichung von Mores „Utopia“ war dieser Titel dazu ausersehen, mehr oder weniger unterschiedslos literarische Werke aller Zeiten zu subsumieren, die in Dialogform, als Roman oder auf ähnliche Weise versuchen, eine Gesellschaft oder ein Staatswesen auszumalen, das von menschlichen Unvollkommenheiten frei ist.
Soziale Utopien hatten seit dem paradigmatischen Entwurf des englischen Lordkanzlers Konjunktur und reflektierten in ihren spezifischen Inhalten die generelle Tendenz gesellschaftlicher Praxis, die Lebensführung des Individuums nach übergeordneten Zweck-Mittel-Relationen planvoll und rational einzurichten. Platons Gesellschaftsmodell, Bezugspunkt vieler klassischer Utopien von Renaissance und Absolutismus, löst das Problem natürlicherweise differenzierter Begabung durch eine gesteuerte Zuchtwahl. Der Dominikaner Campanella (1568-1639) etablierte die Institution einer staatlichen Fortpflanzungsbehörde in seiner Sonnenstadt[2]. Campanella greift den platonischen Zuchtgedanken auf und geht noch einen Schritt, wie wir sehen werden weiter, denn Maßnahmen im eugenischen[3] Sinn sind hier fester Bestandteil eines Systems effizienter staatlicher Organisation. Der Kalabrese teilt uns in seinem Konstrukt der Civitas Solis (1602/1627) Erziehungs- und Züchtungsgedanken mit, die an moderne Eugenik -utopien erinnern, obwohl er nicht als Prophet der Eugenikbewegung[4] bezeichnet werden kann. Möchte man sich dem Thema von Erziehung, Zucht und Züchtung in Campanellas Utopie widmen, ist es unverzichtbar, erst einmal kurz auf die Biographie des ihres Autors einzugehen. Danach soll im zweiten Schritt kurz Aufbau und Inhalt der „La Cittá del Sole“ eingegangen werden. Es schließt sich dann die eigentliche Untersuchung des Gegenstands der Eugenik und Fortpflanzung sowie der Hygiene in Campanellas Utopie an, die in den Kapiteln 12, 13, 15 und 17 dargelegt werden. Natürlich muß Campanellas Utopie vor dem Hintergrund ihrer Zeit gesehen werden, doch läßt sich abschließend spekulieren, inwiefern Campanella in die Zukunft verweist.
1. Biographie und historischer Hintergrund des Autors
Giovan Domenico Campanella wurde 1568 in Stilo in Kalabrien geboren und, wie es damals noch häufig üblich war, schon als Kind in eine Kloster geschickt. Als er 14 Jahre alt war, trat er in den Orden der Dominikaner ein und dann erst nahm er den Namen Thomas/Tommaso an. Schon bald zeigte er einen unabhängigen Geist und griff die scholastischen Methoden seiner Lehrer an. Mit 18 Jahren lernte er die Werke von Bernadino Telesio (1508-1588), dem großen Philosophen der Renaissance, kennen und war so begeistert von seinen Ideen, daß er das Kloster verließ, um ihn in dem italienischen Städtchen Cosenza aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin begegnete er einem Rabbi, dessen prophetische Gabe und Kenntnisse der Astrologie ihn tief beeindruckten. Wahrscheinlich durch diese Bekanntschaft entwickelte Campanella eine Leidenschaft für die Astrologie, die ihn nie verließ. Die merkwürdige Verbindung von rationalistischen und wissenschaftlichen Ideen und der Aberglaube an übernatürliche Erscheinungen, die für viele Denker der Renaissance und Reformation charakteristisch ist, zeigt sich in bemerkenswerter Form in seinen Schriften, u.a. auch in der Cittá del Sole.[5]
Seine philosophischen Ideen zogen sehr bald die Aufmerksamkeit der Glaubens -autoritäten auf sich. Italien erfreute sich Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr der Toleranz für neue Ideen, die für die sehr frühe Renaissance oder für den Humanismus charakteristisch waren. In Europa herrschte zu dieser ein nicht erklärter Glaubenskrieg, Reformation und Gegenreformation schufen zwischen den Konfessionen für Mißtrauen.
Mißtrauen erregte auch Campanella in der kirchlichen Hierarchie, indem er 1590 die Lehren und Ideen Telesios verteidigte. Vier Jahre später wurde der kalabreser Mönch wegen seiner Ideen über eine Beseelung des Weltalles der Ketzerei beschuldigt, und zu einem Prozeß vor die römische Inquisition geschickt, die die Anklage zwar nicht beweisen konnte, ihm aber befahl, unter strenger Bewachung in Rom zu bleiben. 1597 kehrte er nach Neapel zurück, wo er wieder mit den Glaubensautoritäten zusammenstieß und gezwungen war, sich in das Kloster Stilo zurückzuziehen.[6] Zu jener Zeit herrschte der weitverbreitete Glaube, daß das Ende des Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen und vielleicht sogar den Weltuntergang mit sich bringen würde. Campanella war von diesen Gerüchten stark beeindruckt und sah in den Unruhen in Neapel unter der spanischen Herrschaft, in Ereignissen wie Überschwemmungen, Erdbeben und dem Auftauchen von Kometen eine Bestätigung für kommende gesellschaftliche Umwälzungen. Ein seltsamer und mächtiger Traum erwuchs in ihm. Er glaubte, daß die kommenden Veränderungen zu einer vollständigen Reformierung der Gesellschaft führen würden und daß der Augenblick für die Errichtung einer Weltrepublik gekommen wäre. Seine Heimat Kalabrien sollte unter seiner Führung der Ausgangspunkt für diese Bewegung sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Campanella nur in seinen Schriften gegen die alten Vorstellungen angekämpft, doch nun sollte aus dem Philosophen ein Mann der Tat werden.
Campanella war der Ansicht, daß eine dreifache Reformierung stattfinden müßte. Auf der gesellschaftlichen Ebene sollte die Lage des Volkes verbessert werden; politisch sollte Spanien die Führung einer Einigung der Welt übernehmen und auf dem Gebiet des Glaubens sollte eine Reformierung der Kirche stattfinden. Doch Campanella meinte nicht eine Reformation im Sinne von Calvin oder Luther, die sich von der Vorherrschaft der römischen Kirche lösen wollten und damit nationale Bestrebungen förderten. Campanella war überzeugter Katholik und wollte die Welt nach dem Glauben des katholischen Glaubens einigen. Er schrieb den Niedergang der katholischen Kirche ihrem Festhalten an den alten scholastischen Lehren zu und glaubte, daß sie ihre Macht niemals durch Glaubensverfolgungen erhalten oder vergrößern könnte, sondern nur durch die Übernahme neuer philosophischer Ideen. Er war eher bestrebt, die Kirche zu modernisieren als zu reformieren.[7]
Die Republik Kalabrien, die er errichten wollte, sollte sowohl Vorbild als auch Ausgangspunkt für die Schaffung einer Weltrepublik sein. Campanella war kein italienischer Patriot, als der er manchmal bezeichnet wurde. Wenn er sich gegen Spanien verschwor, dann nur, um diese heilige Weltrepublik unter der Führung der katholischen Kirche zu erreichen, und obwohl er gegen die spanische Regierung rebellierte, glaubte er, daß Spanien als einzige Macht in der Lage wäre, die Weltrepublik herbeizuführen.
In der Klosterkirche Stilo predigte er, daß der Augenblick für einen Aufstand gekommen wäre und überzeugte einige politische Flüchtlinge, die in dem Kloster Zuflucht gesucht hatten und auch eine Reihe von Mönchen, daß die heilige Weltrepublik noch vor dem Weltuntergang errichtet würde und daß es notwendig wäre, „Propagandisten“ und „Männer der Tat“ zu finden, um das Ziel zu erreichen. Die Mönche mit ihren Zungen, das Volk mit seinen Waffen wären der Ausgangspunkt einer Bewegung, die neue Gesetze und Institutionen für eine bessere Welt schaffen sollten. Einige der Reformen und Gesetze, für die er zu jener Zeit eintrat, wurden Bestandteil des Sonnenstaates.
Die Verschwörung wurde entdeckt und Campanella und seine Verbündeten verhaftet. Am 8. November 1599 wurden sie nach Neapel verschifft, und einige von Campanellas Begleitern wurden vor den Augen der Einwohner von Neapel, die sich zu ihrer Ankunft im Hafen eingefunden hatten, in die Galeeren gesetzt.
Zu der Verschwörung gegen Spanien kam noch eine Anklage wegen Ketzerei und von den hundertvierzig Männern, die verhaftet worden waren (darunter 14 Mönche), wurden zehn zum Tode verurteilt. Fünf Monate mußte Campanella angekettet in einer feuchten und dunklen Zelle verbringen. Er war entsetzlichen Qualen (Tortur) ausgesetzt, und schließlich konnte man aus ihm eine Art Geständnis erpressen, was der Inquisition gestattete, die Anklage wegen Ketzerei aufrechtzuerhalten. Doch einige Wochen, bevor der Prozeß beginnen sollte, legte er in seiner Zelle Feuer und redete und benahm sich, als hätte er den Verstand verloren. Ob er den Wahnsinn vortäuschte, wie die meisten Historiker glauben, oder ob er durch die Foltern tatsächlich geisteskrank geworden war, wird man nie erfahren.
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[1] Mannheim, Karl: Utopie, in: Neusüss, Arnhelm (Hg.): Utopie: Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt am Main³ 1986, 113-115.
[2] Im folgenden zitiere ich nach dieser Edition: Tommaso Campanella: Civitas solis poetica. Idea Reipublicae Philosophicae, deutsche Übersetzung aus: Heinisch, Klaus: Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960, 111-169. Künftig zitiert: Heinisch, Der utopische Staat.
[3] Eugenik: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in den entwickelten Staaten Europas und in den USA eine neue humanwissenschaftliche Disziplin, die Eugenik (griechisch, Lehre von der guten Züchtung), konstituiert. Die Vertreter der neuen Disziplin leiteten die Auswirkungen der industriellen Revolution (Geburtenrückgang, Delinquenz, Massenverelendung, usw.) monokausal aus der Verschlechterung des Erbguts her. Beseelt von dem Gedanken eines degenerativen Niedergangs der „Kulturmenschheit“ definierten die Eugeniker ihr Ziel in der Verbesserung des menschlichen Erbguts, das mittels einer Erhöhung der Frequenz nützlicher (positive Eugenik) und einer Reduzierung schädlicher Erbmerkmale (negative Eugenik) zu erreichen sei. Die politische Notwendigkeit wurde sozialdarwinistisch formuliert als „Auslese der Tüchtigsten und Ausmerze der Schwachen“ und legitimierte sich wissenschaftlich durch Erkenntnisse der expandierten Vererbungswissenschaft, die als ausreichend angesehen wurden, um Menschen mit wünschenswerten Merkmalsausprägungen zu züchten. Vgl.: Reyer, Jürgen: Rassenhygiene und Eugenik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Pflege der Volksgesundheit oder Sozialrassismus?, in: Hermann, Ulrich u. Oelkers, Jürgen (Hg.): Pädagogik und Nationalsozialismus. Zeitschrift für Pädagogik, 22. Beiheft (1988), 113-123.
[4] Weß, Ludger (Hg.): Die Träume der Genetik, Nördlingen 1989, 24f.
[5] Heinisch, Der utopische Staat, 223-224. Vgl. auch: Bock, Gisela: Thomas Campanella – Politisches Interesse und philosophische Spekulation, Tübingen 1974, 34-59.
[6] Headley, John M.: Tommaso Campanella and the transformation of the world, Princeton 1997, 9-16. Künftig zitiert: Headley, Tommaso Campanella and the transformation of the world.
[7] Headley, Tommaso Campanella and the transformation of the world, 27-43.
- Citation du texte
- Thorsten Hübner (Auteur), 2002, Tommaso Campanella: Züchtung in Utopia, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8173
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