Vor den Spiegeln
Zur Ideengeschichte der Eitelkeit
von Thomas Michel
Unter Eitelkeit versteht man allgemein eine Sucht
nach Anerkennung, die eines Freien nicht würdig ist.
Theophrast, Charaktere
"Die Eitelkeit ist etwas Motivierendes, wir sollten uns als Menschen feiern, wenn wir schon einen eigenen Stil haben". So, frei von Ironie, ermuntert uns die öffentlich-rechtliche Lebenshilfe der 90er Jahre zu dem, was gemessen an den Aufwendungen für Kosmetik und Diätetik oder der wachsenden Akzeptanz eines Körperdesigns mit Skalpell und Spritze der Ermunterung kaum zu bedürfen scheint, zum Arrangement nämlich mit jenen selbstbezüglichen Verhaltensweisen, die Blaise Pascal einst als "die größte Niedrigkeit des Menschen" meinte ächten zu müssen. Wir zweifeln vielleicht, dass es dem Eitlen in seiner Eitelkeit um den eigenen Stil – die "leidenschaftliche Anstrengung zur Identität" (Horkheimer/Adorno) – geht, wundern uns aber auch über die Emphase des Philosophen, wo Eitelkeit doch keine Kategorie der praktischen Philosophie, kein Maßstab kritischer Gesellschaftstheorie und allenfalls Hinterbänkler unter den psychologischen Begriffen ist, so dass sich jeder Eifer verbietet. Gleichwohl gab es Zeiten, in denen Eitelkeit als Phänomen und Begriff prominente Köpfe bewegte, und manches spricht dafür, dass sich im Widerspruch der zitierten Urteile nicht nur konträre Temperamente oder Bewegungen in der Epidermis des Zeitgeistes äußern, sondern sich ein Sinneswandel im Zentrum der Anthropologie dokumentiert. Dies umso mehr, als sich in der Eitelkeit menschlicher Fremd- und Selbstbezug, Abhängigkeit und Initiative, unauflöslich zu verschränken scheinen. An das ideengeschichtliche Resümee dieses Sinneswandels knüpft sich darum die Absicht, das Gemurmel von Begriffen und Meinungen, das die seit dem 19. Jahrhundert gerne als Individualisierung bezeichnete, aber bereits Pascal beunruhigende Geschichte des okzidentalen Subjekts reflektiert, aus dem Blickwinkel eines alltäglichen Lasters zu rekapitulieren. Die mit Eitelkeit verknüpften Bedeutungen und Urteile betreffen dabei nicht nur das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und sein Verhältnis zu anderen, sondern insbesondere auch das Verhältnis dieser Verhältnisse zueinander.
Vor den Spiegeln
Zur Ideengeschichte der Eitelkeit
von Thomas Michel
Unter Eitelkeit versteht man allgemein eine Sucht
nach Anerkennung, die eines Freien nicht würdig ist.
Theophrast, Charaktere
"Die Eitelkeit ist etwas Motivierendes, wir sollten uns als Menschen feiern, wenn wir schon einen eigenen Stil haben"[i]. So, frei von Ironie, ermuntert uns die öffentlich-rechtliche Lebenshilfe der 90er Jahre zu dem, was gemessen an den Aufwendungen für Kosmetik und Diätetik oder der wachsenden Akzeptanz eines Körperdesigns mit Skalpell und Spritze der Ermunterung kaum zu bedürfen scheint, zum Arrangement nämlich mit jenen selbstbezüglichen Verhaltensweisen, die Blaise Pascal einst als "die größte Niedrigkeit des Menschen" meinte ächten zu müssen. Wir zweifeln vielleicht, dass es dem Eitlen in seiner Eitelkeit um den eigenen Stil – die "leidenschaftliche Anstrengung zur Identität" (Horkheimer/Adorno) – geht, wundern uns aber auch über die Emphase des Philosophen, wo Eitelkeit doch keine Kategorie der praktischen Philosophie, kein Maßstab kritischer Gesellschaftstheorie und allenfalls Hinterbänkler unter den psychologischen Begriffen ist, so dass sich jeder Eifer verbietet. Gleichwohl gab es Zeiten, in denen Eitelkeit als Phänomen und Begriff prominente Köpfe bewegte, und manches spricht dafür, dass sich im Widerspruch der zitierten Urteile nicht nur konträre Temperamente oder Bewegungen in der Epidermis des Zeitgeistes äußern, sondern sich ein Sinneswandel im Zentrum der Anthropologie dokumentiert. Dies umso mehr, als sich in der Eitelkeit menschlicher Fremd- und Selbstbezug, Abhängigkeit und Initiative, unauflöslich zu verschränken scheinen. An das ideengeschichtliche Resümee dieses Sinneswandels knüpft sich darum die Absicht, das Gemurmel von Begriffen und Meinungen, das die seit dem 19. Jahrhundert gerne als Individualisierung bezeichnete, aber bereits Pascal beunruhigende Geschichte des okzidentalen Subjekts reflektiert, aus dem Blickwinkel eines alltäglichen Lasters zu rekapitulieren. Die mit Eitelkeit verknüpften Bedeutungen und Urteile betreffen dabei nicht nur das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und sein Verhältnis zu anderen, sondern insbesondere auch das Verhältnis dieser Verhältnisse zueinander.
I
Pascals Verdikt erinnert an das Platons, wonach "das größte von allen Übeln" darin liege, dass "jeder Mensch von Natur sich selber liebt". Der sich selbst Liebende, meint Platon, wird, sofern er nicht den Widerschein der Vernunft in sich liebt, unempfindlich gegen das Wahre, Schöne und Gute, "weil er statt des Wahren stets das ihm Angehörige achten zu müssen meint" (Gesetze 731e-732a). Tatsächlich sind Ruhmsucht und Eitelkeit für Pascal der penetranteste Ausdruck der Selbstliebe, und er weiß sich damit in einer langen christlich-theologisch bestimmten Tradition. In ihr stehen auch die spätmittelalterlichen Vanitas-Allegorien, in denen sich Selbstliebe und Vergänglichkeit im Spiegelbild treffen. Überhaupt figuriert der Spiegel, von Sokrates bis Canetti Requisit der Selbsterkenntnis, im christlichen Denken vornehmlich als Emblem sündhafter Eitelkeit. Wenn er im späten Mittelalter im ritterlich-höfischen Milieu und bis zum 16. Jahrhundert in den Städten wieder die Verbreitung findet, die er im Altertum bereits besaß, dann nicht zur Prüfung des Gewissens, sondern, wie man argwöhnt, im Dienst der Selbstliebe und auch darum nicht selten umrahmt von mahnender Tugend- und Schicksalssymbolik. Zwar verdrängt die lebensbejahende Selbstbespiegelung in der Kunst der Renaissance die düstere Vanitas. Gleichwohl assoziiert der Spiegel unabweisbar die Flüchtigkeit der reflektierten Welt mit der sagenhaften Selbstliebe des Narziss und erinnert an das Abgründige der Eitelkeit.
Der Eitle nämlich ist mit sich statt mit Gott oder dem Nächsten befasst, und, so unterstellt man, er bewundert sich selbst. Die Liebe zum eignen Bild überkommt Narziss als Strafe der Nemesis, als Rache der abgewiesenen Liebhaber oder – wie in Lorris' Rosenroman um 1235 – als Vergeltung des gerechten Gottes. Vordergründig selbstgenügsam sucht sich Narziss außerhalb seiner selbst, freilich nicht, wie er zunächst mutmaßt, in einer anderen Person, sondern in einem Andern, das er selbst und zugleich doch unfassbar ist. Im Bann des Gespiegelten verliert er das Bewusstsein der Welt wie seiner selbst und vergeht, Ovid zufolge, verzweifelt und entkräftet, den Blick noch im Jenseits aufs eigene Bild im Styx fixiert. Selbstliebe ist hier nicht einmal die Zuflucht der Spröden und Verschmähten, sondern besiegelt ein jammervolles Schicksal. Eitelkeit als Ausdruck dieser Selbstliebe ist das Vorzeichen des Verhängnisses. Darum auch will Poseidon Andromeda für die Eitelkeit ihrer Mutter dem Ungeheuer opfern.
Durch ihre Bindung an die Selbstliebe überträgt sich deren Verachtung als Ursprung sittlichen Versagens auf die Eitelkeit. Die christliche Theologie macht sich diese Verachtung seit Augustinus vorbehaltlos und verschärfend zu eigen, denn die Selbstliebe war zwar, wie Pascal einräumt, "Adam natürlich und gerecht in seiner Unschuld, sie ist aber strafbar und unmäßig geworden in Folge seiner Sünde"[ii]. Schwer wiegt dabei die Anmaßung vor Gott, mit der der Eitle in seiner Besonderheit aus der natürlichen Ordnung tritt. Eitelkeit, als vana gloria zeitweilig den Todsünden zugerechnet, ist das schiere Gegenteil der Gottesliebe und mit dieser unvereinbar, erwartet sich der Eitle doch Beifall von seinesgleichen im Selbstgenuss statt Gnade vor Gott. Noch um 1450 zeigt sich für Ficino im Schicksal des Narziss das "beklagenswerte Missgeschick der Menschheit"[iii], weil Narziss in der Bewunderung der eigenen Gestalt dem bloßen Schatten seiner Seele verfällt und damit die (in den scholastischen Disputen doch längst schon suspekt gewordene) Schöpfungsordnung verrät. Sich fehlgeleitet durch den getrübten Verstand und abgestumpft im Gewissen am Nichtigen zu erfreuen, das ist eitel. Nur vordergründig widerspricht dem Augustinus, wenn er die Liebe zu Ruhm und Ehre auch als Korrektiv für Habsucht und Machtgier gelten lässt und damit ein ritterlich-aristokratisches Ethos legitimiert. Denn er unterscheidet einen falschen von dem wahren Ruhm, der Gott anhaftet; und der wahrhaft Tugendhafte strebt nach einem Anteil dieses, nicht jenes Ruhms.
Bezeichnend für die christliche, insbesondere vorreformatorische Haltung zu Selbstliebe und Eitelkeit ist der mit ihrer Verurteilung einhergehende Appell. Der ihm wie ein Mühlstein anhängenden Erbsünde zum Trotz ist der Mensch seiner Anlage zur Selbstliebe nicht ausgeliefert. Anders als Narziss hat er – aufgerichtet vom versicherten Wohlwollen Gottes – die Kraft und die Pflicht, der Selbstliebe zu widerstehen, ja sie zu überwinden, sei es in demütiger Liebe zu Gott, in johanneischem Selbsthass oder ontotheologisch in der Läuterung, die man sich von der Vergegenwärtigung ewiger Ideen verspricht. Eitelkeit ist bei aller Schicksalhaftigkeit zuletzt doch ein persönliches Versagen, ihr zu widerstehen ein persönliches Verdienst. So sieht sich denn auch Augustinus aus eigener Kraft von seiner Eitelkeit befreit: "Es sind zwar alle Menschen natürlich eitel, die von Gott nichts wissen und an den sichtbaren Gütern den nicht erkennen, der ist. Aber ich war nicht mehr in solcher Eitelkeit, überschritten hatte ich sie, und unter dem Zeugnis deiner ganzen Schöpfung hatte ich dich gefunden, unsern Schöpfer (...)."[iv] Der Bescheidene, Liebende und Gottgefällige wird nicht nur mit jenseitigen Gütern belohnt, sondern auch mit der stoischen Selbstzufriedenheit und Seelenruhe des seiner Stellung in der rechten Ordnung gewissen Menschen. Selbst Luther, dem die Verderbtheit des Menschen Herzenssache war, nährte die Hoffnung auf eine durch Glaube und Demut beförderte Gnade. Und Calvin predigte, aller Vorherbestimmung zum Trotz, eine Selbstverleugnung, die Eitelkeit nicht duldet.
Diese theologisch begründete Kontingenz einer verwerflichen Selbstliebe steht spätestens mit Beginn der neuzeitlichen Philosophie in Frage. Entscheidend für diese Wendung ist weniger eine vertiefte psychologische Erfahrung als vielmehr die Konzentration auf den epistemischen Selbstbezug, der begünstigt und forciert wird durch die scholastische Theologie, sich aber mindestens bis zu Sextus Empiricus zurückverfolgen lässt. Sextus hatte dem erkennenden Subjekt schon im dritten Jahrhundert jede Chance bestritten, im Bemühen um Objektivität der eigenen Subjektivität zu entrinnen. Zwischen Subjekt und Objekt stehe immer und unumgänglich das Medium der eigenen Psyche, deren Leistung als neutraler Spiegel der Wirklichkeit notorisch zweifelhaft sei. Mehr als tausend Jahre später verkehren Descartes und Hobbes diese Reflexivität vom Problem zum Prinzip ihrer Idee vom erkennenden Subjekt und begreifen in der Folge auch das wollende Subjekt als selbstbezüglich. Das Wirkungsmächtige dieser Idee des unbedingten Selbstbezugs – augenfällig im privilegierten Gebrauch des Wörtchens ich – ist nicht (wie so oft kolportiert) die Utopie vollkommener Selbsttransparenz oder uneingeschränkter Selbstmächtigkeit, sondern die Überzeugung, dass das im Licht des unmittelbaren Selbstbewusstseins erzeugte Wissen jedem vermittelten Weltwissen überlegen und Grundlage der Kritik jedes Geltungsanspruchs sein muss. Der unverfügbare Grund aller vernünftigen Überzeugungen und Motive liegt im mit sich selbst vertrauten Subjekt. Und obwohl dieses Subjekt stets ein einzelnes und faktisches ist, versichert es sich in der Evidenz des Selbstbezugs nicht allein seines besonderen, allen Anderen verborgenen Wesens, sondern auch und insbesondere der gleichförmigen Natur aller Menschen – was deren Verständigung möglich und erstrebenswert erscheinen lässt, worin aber auch die Idee vernünftiger Selbstbestimmung ihre Grundlage hat.
Im Unterschied zur Selbstfremdheit des sich unfassbaren Narziss impliziert mein unbedingter Selbstbezug eine exklusive Einigkeit mit mir, die sich im absoluten Interesse an meiner Selbsterhaltung äußert und in meiner Selbstbeherrschung bewährt – und die sich als Selbstliebe begreifen lässt. Diese formale Selbstliebe hat über meine Selbsterhaltung hinaus kein konkretes Ziel und keine emotionale Qualität, wenngleich sie immer wieder mit einer materialen, als egoistisch verstandenen Selbstliebe verwechselt wird. Dies mit der beiläufigen Konsequenz, dass Erfahrungen wie Selbstverachtung und Selbsthass unzugänglich bleiben und als widersinnig gelten. Wenn die Selbstliebe indes Ausgangs- und Fluchtpunkt meines Selbstverhältnisses ist; wenn mir als handelndem Wesen, was auch immer ich tue, am Erfolg meines Handelns, an meiner größten Befriedigung gelegen sein muss; wenn ich meine Interessen nur selbstbezüglich, in prinzipiellem "Eigensinn" (Hegel) zu bestimmen vermag und darin, wie Montaigne in wörtlichem Widerspruch zu Calvin sagt, "in allen Stücken mein eigener Herr" bin – weshalb sollte ich mich dann in Eitelkeit um das Urteil anderer Menschen scheren? Wozu sollte ein selbstgenügsames Bewusstsein, in dem sich die ganze Welt spiegelt, eines Spiegels in der Welt bedürfen?
Das Phänomen der Eitelkeit in der Vielfalt seiner Formen: auf den Körper, den Intellekt, den Besitz oder die Stellung bezogen, großsprecherisch oder kokett, verschämt oder aufgeblasen – immer scheint es ein profanes Dementi subjektphilosophischer Prinzipien zu sein. Und doch hegt die Anthropologie der Neuzeit fast einvernehmlich den Verdacht, dass sich die Eitelkeit – "so tief verankert im Herzen des Menschen" (Pascal) – unausweichlich in all unsere Motive drängt. Will man die Souveränität des Subjekts in Einklang bringen mit diesem ubiquitären Verlangen nach Beifall, dann muss Eitelkeit als Strategie der Macht verstanden werden, als eine Spielart des Strebens nach sozialem und kulturellem Kapital im übergeordneten Interesse der Selbsterhaltung. Die Erfahrung, dass sich der von den Dingen und von Gott entfernende Mensch in seiner metaphysischen Unruhe nach der Bestätigung seiner Selbstliebe in der Wertschätzung durch andere Menschen sehnt, wird umgedeutet zur Erfahrung berechnender Selbstdarstellung. Eitelkeit als Wille, geschätzt zu werden, ist dem Willen zur Macht als maximum bonum ebenso untergeordnet wie dieser dem Willen zur Selbsterhaltung als primum bonum. Hobbes spricht von Eitelkeit nur im Sinne von Ruhmsucht und Prahlerei (vain glory). Er verkürzt sie zur Überschätzung der eigenen Macht, mit der Folge, dass der Eitle sich anderen überlegen wähnt, sie beherrschen will und auch Gewalt und Rechtsbruch nicht scheut. Den Herrschaftswillen teilt der Eitle mit dem Stolzen, und nicht zufällig trägt Hobbes' Leviathan – der nicht nur Gewalt, sondern auch Eigendünkel und Anmaßung unterdrückt – den Beinamen King of the Proud. Noch Tönnies wird Eitelkeit im ausdrücklichen Anschluss an Hobbes als eine Ausprägung des "Kürwillens" begreifen, der sich auf die soziale Sphäre des Erscheinens bezieht und nicht ohne Zielstrebigkeit erfüllt. Eitelkeit, die sich mit Verstand verbündet, ist entweder das Bemühen, der eigenen Macht Anerkennung und damit Wirkung zu verschaffen; oder der Versuch, mächtig zu scheinen, um mächtig zu sein. Was sie in einer Gesellschaft zwanghaft konkurrierender Subjekte nicht sein kann, ist ein Werben um arglose Zuwendung und Sympathie, denn das Repertoire der Gefühle gegenüber dem Mächtigen erschöpft sich in Misstrauen und Furcht.
Die nächstliegende Reaktion auf den Gedanken der Selbsterhaltung als erstem Zweck und die damit verbundene Generalisierung der Selbstliebe zum Motor individuellen Handelns ist die psychologische Demaskierung von Anstand, Karitas und Bescheidenheit als selbstsüchtig und unwahrhaftig, weil nur vorgeblich moralisch motiviert, de facto aber an eigennützigen Konsequenzen orientiert. Dieser Verwechslung des formalen Selbstbezugs mit einer unsittlichen Haltung – eine Verwechslung, die von La Rochefoucauld bis Chamfort eine Fülle psychologischer Einsichten und einen moralischen Skeptizismus eigenen Rechts provoziert –, tritt freilich schon bald eine moderatere Sicht entgegen. Wenn Selbstliebe eine Bedingung jeden Wollens und Wertens ist – wie Vives oder Telesio schon früh im 16. Jahrhundert behaupten – und sittliches Handeln Wollen und Werten verlangt, dann entzieht sich die Selbstliebe dem moralischen Urteil. Niemand ist dafür zu tadeln, dass er mit sich eins sein und sich erhalten will. Aus dem Interesse an sich selbst speist sich der Macht- und Herrschaftswille ebenso wie die Bereitschaft zu moralischer Güte.
Selbstliebe gilt es darum weder zu beklagen noch zu überwinden, sondern als psychologisches Prinzip auch des Sozialen – als eine Schlauheit der Natur – zu akzeptieren und zu nutzen. Was schon Meister Eckhart wähnte: "Alle Liebe dieser Welt ist auf Eigenliebe gebaut", wird zum optimistischen Topos. Wo Ficino noch theologisierend die allgemeinmenschliche Selbstliebe als Voraussetzung persönlicher Vervollkommnung verteidigt, sofern das Individuum in der Selbstliebe das Göttliche des eigenen Wesens liebe, da verweist Descartes bereits auf die profane Logik der Leidenschaften, derzufolge uns nichts beschämen könnte, würden wir uns nicht lieben. Voltaire akzeptiert die natürliche, der Eitelkeit "benachbarte" Liebe, die wir für uns selbst empfinden, als "Grundlage all unsrer Gefühle und all unsrer Handlungen"[v], demnach auch der tugendhaften. Diderot leugnet, dass zwischen Selbsterhaltung und Tugend ein Widerspruch bestehe[vi]. Shaftesbury entdeckt den der Selbstliebe verschwisterten "moralischen Sinn". Und Kant bestimmt die Selbstliebe – die er von Selbstsucht unterscheidet, gelegentlich aber auch als "Quelle alles Bösen" brandmarkt – immerhin zur mittelbaren Pflicht, weil nur sie uns zur moralischen Vervollkommnung motivieren könne.
In der Konsequenz dieser optimistischen Einschätzung der Selbstliebe verdient auch das allgemeine Ringen um Gunst und Bewunderung, um Titel und Ehren, sowie das Meiden von Missachtung und Scham wohlwollendere Beachtung. Eitelkeit reguliert nicht allein die Darstellung der Persönlichkeit im öffentlichen Raum, sie fördert auch die informelle Ordnung der Gesellschaft. Eitelkeit wirkt kultur- und gesellschaftsbildend und unterscheidet sich darin vom Narzissmus im klassischen wie im klinischen Sinn. Allein ist niemand eitel. Der Eitle positioniert sich im Urteil der Anderen, und er hat erkannt, dass weder Natur noch Tradition ihn von der Sorge um dieses Urteil entbinden – dies umso weniger, als sich Wertschätzung auf wahrgenommenen Verdienst statt auf ererbten Rang zu gründen scheint. Mandeville, der von moralischen Gefühlen nichts wissen will, verkündet 1714, dass "Sittlichkeit ein sozialpolitisches Erzeugnis aus Schmeichelei und Eitelkeit"[vii] sei. Bei Hume heißt es 1740: "Eitelkeit sollte eher als soziale Neigung und als ein Band der Einigkeit zwischen den Menschen betrachtet werden" und komme darin Mitleid und Liebe gleich[viii]. Noch Herder hält Eitelkeit, "die uns mit andern bindet, sie zum Spiegel unsrer Vorzüge macht", für einen "sehr verzeihlichen Fehler"[ix]. Was immer Gesellschaft über gesatztes Recht und politische Macht hinaus zusammenhält, Benehmen, Lebensart und alltäglicher Anstand, erklärt sich aus unserem Verlangen, die nie garantierte, flüchtige Wertschätzung unserer Mitmenschen zu gewinnen. Obgleich Eitelkeit als Leidenschaft unserem wohlverstandenen Eigennutz gelegentlich im Wege steht, verdient sie mindestens unsere Nachsicht. In ihr verschwimmt die Grenze zwischen Tugend und Laster.
Dies allerdings nur dort, wo sie nicht blind, sondern mit Verstand, Geschick und Behutsamkeit, mit Blick auf die Vorlieben und Empfindlichkeiten der Andern und auf das ihnen an Geltungsbedürfnis Zumutbare verfolgt wird. Eitelkeit darf sich nicht als solche zeigen, denn "die Eitelkeit anderer ist uns unerträglich, weil sie die unsere verletzt" (Rochefoucauld). Klugheit soll darum nicht allein dem materiellen Selbsterhalt, nicht dem Geschäft und der Politik vorbehalten bleiben. Gerade wo der Charakter der Intelligenz nicht gewachsen ist, ist die Intelligenz als Werkzeug der Selbsterhaltung gefordert. Sie muss sich der persönlichen Wirkung auf andere annehmen. Eitelkeit ist durch Klugheit beherrschbar und nur als beherrschte, als raffinierte, nützlich. Sie lässt sich – davon ist das 18. Jahrhundert überzeugt – durch Belehrung so formen und durch Anreize so steuern, dass sich der Eitle aufs Allgemeine einlässt und in seiner sittenkompatiblen Überdurchschnittlichkeit erkannt werden will. Im Verein mit praktischer Klugheit (und in ambivalenter Beziehung zum ökonomischen Eigennutz) ist Eitelkeit darum der Stab in der unsichtbaren Hand, die der bürgerlichen Gesellschaft den Takt schlägt.
In diesem funktionalistischen Verständnis der Eitelkeit verliert sich nicht nur der Sinn für das Nichtige im eitlen Verhalten, der in den Vanitas-Allegorien und in Pascals christlichem Widerwillen noch gegenwärtig war, sondern auch die noch von Hobbes und Malebranche[x] geäußerte Warnung, dass sich die Eitelkeit ganz unweigerlich in eingeschränkter Urteilskraft, einer Neigung zum Spektakulären, einer natürlichen Faulheit und allgemein im Wunsch, mehr zu scheinen, manifestiert. Unbeachtet bleibt insbesondere, dass Eitelkeit, selbst wo sie auf Macht zielt und sich als strategisches Verhalten von anderen Formen sozialen Handelns nur durch die eingesetzten Mittel unterscheidet, doch stillschweigend einen stabilen kulturellen Horizont unterstellt, auf dessen Werte der Eitle sich in seiner Selbstdarstellung verlässt, die aber ihrerseits schwerlich aus dem Kalkül der Selbsterhaltung hervorgegangen sein können. Ebenso wenig kann sich das in der Selbstliebe vorausgesetzte Selbst allein in der Anhäufung symbolischen Kapitals, unabhängig von der sozialen Geltung von Eigenschaften, Überzeugungen und Fähigkeiten der Person bestimmen. Eine nur im Kalkül der Selbsterhaltung reflektierte Selbstliebe könnte die Selbsterhaltung und -steigerung des Eitlen nicht garantieren, denn seine Eitelkeit wäre Ausdruck eines zwar mit natürlichem Geltungswillen ausge-statteten, aber eigenschaftslosen Menschen, der sich im sozialen Verkehr so rastlos wie vergeblich als Hypothese behauptet, und dessen Wert sich auf dem Markt von Prestige und Renommee in Abwägung seiner präsumtiven Macht und seines erwarteten Nutzens bildet.
Wenn Kant 1784 eine listige Vorsehung postuliert, die aus "ungeselliger Geselligkeit", aus dem gleichsam physikalischen Antagonismus von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, die zivilisierte Gesellschaft hervorbringe – "Dank sei also der Natur (...) für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit"[xi] –, dann macht er sich Hobbes' Anthropologie zu eigen, ohne doch seine Politik zu teilen. Er lässt offen, wie dieselbe Vorsehung aus eitlen Charakteren innengeleitete Bürger mit wahrhaft "moralisch-guter Gesinnung"[xii] formen kann, um ihren Plan, die Gesellschaft als ein "moralisches Ganze", zu verwirklichen. Selbst wenn Klugheit zur moralischen Gesinnung motivierte – was Kant kategorisch ausschließt und sich nicht einmal von der Aussicht aufs jüngste Gericht verspricht –, wären wir doch außerstande, die moralische Gesinnung verlässlich zu unterscheiden von einer Eitelkeit tugendhaften Verhaltens, das nicht auf Überzeugung, sondern auf Sichtbarkeit beruht. Keine Aussicht auf endgültiges Scheitern könnte den wetteifernd Eitlen aus seiner strategischen Befangenheit befreien. Nirgends scheint darum die Kluft zwischen Empirischem und Noumenalem breiter als im eitlen und zugleich moralische Autonomie beanspruchenden Ich – so breit, dass Autonomie dem unglücklichen Bewusstsein als Erfindung der Eitelkeit erscheinen mag.
Gleichwohl findet Kant Gründe zur Zuversicht. Der erste geht auf Hobbes zurück und appelliert angesichts der Konsequenzen unreglementierten Wetteifers an den Willen zur Selbsterhaltung. Die Tatsache, dass Eitelkeit nur im Bündnis mit Klugheit eine geordnete Gesellschaft stiften kann, besiegelt ja, näher betrachtet, das Schicksal des Eitlen. Klugheit veranlasst ihn nicht nur zur Reserve im eitlen Habitus, sondern auch zu Lüge und Heuchelei. Und in dem Maße, in dem sich Klugheit unter Bedingungen allseitiger, im höfischen wie im bürgerlichen Milieu beobachteter Konkurrenz und Instrumentalisierung als notwendiges Komplement der Selbstliebe bewährt, wächst im wetteifernd Eitlen der Verdacht, dass alle Anerkennung, die ihm vom Konkurrenten und Kombattanten im sozialen Feld gewährt wird, taktisch und ohne Gewähr der Aufrichtigkeit zu verstehen ist. In der kalkulierend-kompetitiven Gesellschaft misstraut das Publikum dem Eitlen, und der Eitle misstraut seinem Publikum. Misstrauen charakterisiert aber auch den Menschen in Hobbes' Naturzustand, der hier kulturell transformiert aufzuerstehen scheint. Die integrative Funktion einer zweckrational disziplinierten Eitelkeit ist darum sogar unter den utopischen Bedingungen einer individualistisch-liberalen Gesellschaft wenig plausibel. Weil die liberale Gesellschaft am wechselseitigen Misstrauen ihrer Bürger zwar nicht zugrunde gehen kann – sie ist laut Kant für Teufel konzipiert –, ein Klima wetteifernder Eitelkeit aber "pathologischen" (Kant) Charakter hat, scheint ihr unter den Prämissen des aufklärerischen Optimismus die Genesung im Sinne einer sittlichen Evolution vorgezeichnet.
Unangemessen erscheint freilich schon die zweckrationale Deutung der Eitelkeit als solche, übersieht sie doch, dass sich der Eitle auch dort, wo er die Pose über das Sein stellt, wo er der Wirkung Vorrang vor der Geltung einräumt und sich mit dem Schein begnügt, doch nach der Wahrheit sehnt. Der Grundsatz, dass Interesse nicht lügt, hat hier keine Verwendung, weil der Eitle nach interesseloser Anerkennung strebt. Er möchte sogar, wie Goethe bemerkt, nicht so sehr "wegen seiner Eigenschaften, seiner Verdienste, Taten geschätzt, geehrt, gesucht werden, sondern um seines individuellen Daseins willen"[xiii]. Er wünscht sich Beifall für die ganze Person. Darum genügt ihm selbst die aufrichtige Anerkennung nur, wenn sie nicht den temporären Resultaten seiner "Imagearbeit" (Goffman) gilt und sich das Bewusstsein des eigenen Wertes nicht von der fallweise manipulierten Meinung Anderer nähren muss. Das drängt den Eitlen zur Wahrhaftigkeit – Kant zufolge eine moralische Pflicht gegen sich selbst – und verlangt von ihm, der gewünschten Anerkennung würdig und darum uneitel zu sein. Tatsächlich weist Kant mit Spinoza darauf hin, dass das stärkste Motiv sittlichen Handelns das Bedürfnis der "Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)" sei, ja dass man "sich nur auf moralische Art selbst lieben"[xiv] könne.
Eine systematische Bedeutung billigt Kant diesem Gedanken jedoch sowenig für seinen Begriff der Moral wie für den der bürgerlichen Gesellschaft zu. Wohl aber liefert er die Prämisse seiner Pädagogik. Moralische Erziehung und Belehrung sind Vehikel der "Naturabsicht" (Kant) und zielen zugleich auf Wahrhaftigkeit und Uneitelkeit: "Man muss bei dem Jünglinge darauf sehen, dass er sich absolut und nicht nach andern schätze. Die Hochschätzung anderer in dem, was den Wert des Menschen gar nicht ausmacht, ist Eitelkeit. Ferner muss man ihn auch auf Gewissenhaftigkeit in allen Dingen hinweisen, und dass er auch darin nicht bloß scheine, sondern alles zu sein sich bestrebe."[xv] Als Kant dies seinen Studenten vorträgt, steht das Ideal der Wahrhaftigkeit im Zenit seiner Popularität, konfligiert lebenspraktisch aber augenfällig mit dem Streben nach Zivilität und Reputation. Dies nicht nur in der ausgeprägten bürgerlichen Wertschätzung von Gewand und Accessoires à la mode und der kosmetischen Selbstretusche, sondern auch im Erfolg der Anstandsliteratur seit dem 16. Jahrhundert mit ihrer Tendenz, das Innenleben auch jenseits des höfischen Milieus hinter Manieren, Contenance und Etikette zu verbergen. "Habe Dein Gesicht in Deiner Gewalt, dass man nichts darauf geschrieben finde", rät Knigge 1788. Aufrichtigkeit, seinen Mitmenschen rechtschaffen und ohne Verstellung gegenüber zu treten, gilt in Literatur und praktischer Philosophie als Ideal des eigentlichen, des privaten Lebens angesichts ihres manifesten (und erkennbar funktionalen) Mangels im öffentlichen Raum. Für Kant ist Aufrichtigkeit eine moralische Pflicht und ohne inneren Bezug zu den Artigkeiten des geselligen Umgangs: "Wir sind zivilisiert, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel."[xvi]
Für das moderne Subjekt, das sich von seinen zufälligen gesellschaftlichen Bindungen zu unterscheiden weiß, ist Aufrichtigkeit Teil der Aufgabe, sich als Individuum zu zeigen und sozial zu positionieren. Zugleich erweitern sich in einer sich differenzierenden und enttraditionalisierenden Gesellschaft aber die Spielräume der Unaufrichtigkeit. Eitelkeit wird zur größeren Versuchung. Sie tritt als Vortäuschung und unangemessene Betonung eigener Vorzüge nun weniger in Widerspruch zum christlichen Gebot der Demut als zur sozialen Erwartung einer sich mit Selbstachtung und Würde darstellenden Person. Dabei dominiert im öffentlichen Bewusstsein die Vorstellung einer prinzipiellen Übereinstimmung von Selbstempfinden und sittlicher Erwartung, von sozialem Bedürfnis und Chancen seiner Befriedigung, von Freiheitsverlangen und Entfaltungsmöglichkeit, die Unterstellung einer Harmonie mithin, die im vernünftigen Wesen aller Menschen ihren Ursprung hat. Am entschiedensten, mit beißendem Sarkasmus im Blick auf die sozialen Realitäten, tritt dieser Unterstellung allerdings Rameaus Neffe entgegen, für den das sozial gelittene Selbst eine Zwangsjacke aus vorgetäuschten Tugenden und Talenten, nicht Bedingung, sondern Gegenteil der Freiheit, eine willkürliche Nötigung zu Zielstrebigkeit, Disziplin und Entsagung ist. Er kann mit Erfahrungsgründen bestreiten, dass sich das Wohlbefinden des Einzelnen der ihm abverlangten Selbstverpflichtung zu einer kohärenten, beständigen und achtbaren Seele verdankt, die sich wohlgefällig und würdig zu präsentieren versteht. Die aufrichtige Seele ist nicht etwa Widerstand gegen das soziale und politische Gekrümmtwerden, sondern selber Krümmung und im Übrigen nützliche Fassade. Aus dieser Einsicht heraus wird Nietzsche viel später die Maske loben, und Oscar Wilde wird ihre Wahrheit betonen.
Das Ideal der Aufrichtigkeit unterstellt freilich nicht allein die Harmonisierbarkeit der vielen Innenleben als Teile eines sittlichen Ganzen, sondern auch die Fähigkeit des Einzelnen zur emphatischen Selbsterkenntnis. Ein sich über sich selbst täuschender Mensch, der seine Gedanken nicht zu artikulieren, seine Leidenschaften nicht zu kontrollieren und seine Begabungen nicht einzuschätzen vermag, enttäuscht nicht nur die Erwartungen Descartes', sondern auch die an seine Selbstdarstellung gerichteten Erwartungen der aufgeklärten Gesellschaft. Die frühen Zweifel am Ideal der Aufrichtigkeit richten sich darum nicht nur gegen seinen Mangel an Realität (La Rochefoucauld, La Bruyère) und seinen lebenspraktischen Wert (Molière). Das ehrliche Bewusstsein scheint auf Selbsttäuschung angewiesen, auf eine Form der Täuschung also, die mit der Reflexivierung des Bewusstseinsbegriffs in neuer Weise zu denken ist. Sich zu täuschen kann nicht mehr als das Heranreifen einer irrigen Überzeugung von sich selbst verstanden werden. Wer sich selber täuscht, dem widerfährt kein Irrtum. Er führt sich zielgerichtet irre, überzeugt sich selber, der zu sein, der zu sein er vortäuscht. Während noch für Dante die Selbstliebe Subjekt der Täuschung ist – so dass es "keinen Menschen (gibt), der ein wahrer und gerechter Bewerter seiner selbst ist, zu sehr täuscht ihn die Eigenliebe"[xvii] –, spricht Kant ganz selbstverständlich von der "inneren Lüge". Dass Menschen ihre Selbsttäuschung aktiv betreiben, dass sie in Gesellschaft "Betrogene und Betrüger zugleich" sind und es ihnen leichter fällt, "sich selbst zu täuschen" als andere, beteuert schon La Rochefoucauld[xviii]. Und Shakespeare nennt beim Namen, was uns zur Selbsttäuschung verleitet: "um Lob und Preis, um nichtige Erscheinung entsagen wir des Herzens bess'rer Meinung"[xix].
Weniger noch als mit Aufrichtigkeit gegenüber andern verträgt sich Eitelkeit darum mit der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Der Mangel an Wahrhaftigkeit in beiderlei Sinn scheint vielmehr die Eitelkeit zu unterscheiden vom kindlichen Bedürfnis nach Lob. Wo der Eitle keine Bewunderung erntet für das, was er aufrichtig darstellt, möchte er darstellen, was ihm Bewunderung verspricht, und zugleich sein, was er darstellt. Ihm liegt daran, die vermeinte Anerkennung des Scheins mit der Anerkennung eines Seins zu verwechseln, sich gegen die Indizien der eigenen Realität zu verschließen und sich ganz nach dem Preis auf dem Markt der Wertschätzung zu definieren. Damit ist aber nur der offensive Aspekt seiner Motivation bezeichnet. Bei Dante findet sich der defensive bereits angedeutet: "Die Worte dienen dazu das zu zeigen, was man nicht weiß, weswegen wer sich selbst lobt, zeigt, dass er nicht glaubt für gut gehalten zu werden; was ihm nicht geschieht ohne schlechtes Gewissen, das er, sich selbst lobend, aufdeckt und sich, dies aufdeckend, tadelt."[xx] Was wie maßlose Selbstliebe daherkommt, mag aus Sicht des sensiblen Betrachters die Selbstvortäuschung einer Selbstbewunderung sein. Die demonstrative Überzeugung vom eigenen Wert kaschiert das tiefere Empfinden der Inferiorität. Der Eitelkeit benachbart ist offensichtlich die Kränkung. Das Äquivalent zur eignen Hervorhebung ist darum auch die Herabsetzung anderer. Eitelkeit und Ressentiment marschieren getrennt und schlagen vereint. Wer, wie Molières Alceste, nach tadelnswerten Gegenstücken der eignen großartigen Aufrichtigkeit sucht, möchte sich im moralischen Kontrast als kostbar empfinden.
All dies sind nur weitere Indizien dafür, dass Eitelkeit den herrschenden begrifflichen Rahmen einer auf Selbsterhaltung bedachten, von Selbstliebe getriebenen und der Gesellschaft nur instrumentell zugewandten Subjektivität sprengt. Und sie werfen ein ernüchterndes Licht auf die gesellschaftliche Funktion der Eitelkeit. Dass ein eitles Leben unwahrhaftig und heteronom sein mag, betrifft nur den Einzelnen und ermuntert ihn womöglich, einen Bereich der Intimität als Sphäre des eigentlichen Lebens zu erschließen, in dem er sich ungeschützt, weil unbesorgt um seine Wertschätzung, entfalten zu können hofft. Eine sich allein aus wetteifernder Eitelkeit speisende Geselligkeit wäre aber auch – im Widerspruch zum Optimismus der unsichtbaren Hand – fragil, weil gegründet auf zweck- und erwartungsorientierte, intellektuell unernste und emotionsarme, von Misstrauen und Geringschätzung geprägte Beziehungen.
Diese Problematik einer von Eitelkeit beherrschten Gesellschaft ist indirekt schon Ende des 16. Jahrhunderts Gegenstand der Betrachtungen des Michel Montaigne, dessen Skepsis sich nicht nur seiner Lebenserfahrung, sondern auch der Lektüre des Sextus verdankt. Anders als Descartes oder Hobbes geht es ihm freilich nicht um die Überwindung der Skepsis im unmittelbaren Selbstbezug, sondern um lebenspraktischen Sinn. Montaigne erinnert sich der spätantiken, von Petrarca erneuerten Einsicht, wonach der Mensch nur in der Einsamkeit "sich selbst gehören" könne, und er rühmt das Sich-selbst-Gehören als das "Größte in der Welt"[xxi]. Ohne religiöse Motive empfiehlt er seinen Lesern den Verzicht auf die "falscheste Münze" des Ruhms – der ihm als Bedrohung, nicht mehr als Bedingung des erfüllten Lebens erscheint – und zieht sich zurück aus der theatralischen Gesellschaft ins Refugium seiner privaten Bibliothek. Im Unterschied zum Stoiker, der sich der Selbsterforschung abseits der täglichen Geschäfte im Interesse der Gemeinschaft und in Fortsetzung und Vorbereitung sozialer Praxis widmet, fühlt sich Montaigne – zeitlebens "gesellig bis zum Übermaß" – am Ende vom geselligen Treiben abgestoßen. Statt die Einsamkeit als schicksalhaft unvollkommen zu empfinden, sucht er sie als authentischere Lebensform. Am Beispiel der eignen Person scheint er La Bruyères spätere These widerlegen zu wollen, des Menschen Unglück liege im Unvermögen begründet, allein sein zu können. Sich selbst zu gehören, verlangt indes mehr als Einsamkeit. Montaigne fordert die schonungslose Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, zu der die Abgeschiedenheit befähige. Während er jeder gelehrten Metaphysik und gepredigten Tugend mit Misstrauen begegnet, vertraut er unbeirrbar auf die Wahrheit gewissenhaft betriebener Selbsterkenntnis. Sie zu erlangen genüge es nicht, "sich von der großen Herde gesondert zu haben", "man muss sich von den Herdentrieben befreien, die in uns sind". Was in dieser läuternden Selbstentdeckung zu Tage tritt – nicht nur unter dem Firnis konventioneller Selbstdarstellung des Seigneur de Montaigne, sondern jedes Menschen – ist unverwechselbar, aber auch gewöhnlich, widersprüchlich, unbeständig und ohne Anspruch auf Bewunderung. Mit seiner Konzentration auf dieses unverwechselbare, vom Selbstverlust in Gesellschaft bedrohte Individuum und seinem Ideal des Selbstseins steht Montaigne in einer von der Stoa ausgehenden Linie, die geradewegs zu Jean-Jacques Rousseau hinführt.
Rousseau stellt das unauthentische Leben des Eitlen erstmals in den Mittelpunkt einer Motiven Montaignes und Fénelons folgenden Zivilisationskritik. Bis dahin galt das Interesse praktischer Philosophen dem Individuum in seiner politischen und ökonomischen Selbsterhaltung gegenüber religiösen und weltlichen Autoritäten und seiner vernünftigen Selbstbestimmung gegenüber den eigenen Leidenschaften. An deren Stelle tritt mit Rousseau das Ideal des eigenen Lebens und des uneitlen Selbstseins. Das Individuum Rousseau ist seiner Natur – nicht nur seiner Lebensgeschichte – nach unikal. Die Natur hat entschieden, "die Form zu zerstören, in die sie mich gegossen hatte"[xxii]. Dies zu betonen, erscheint Rousseau weder eitel noch im Widerspruch zum revolutionären Anspruch auf égalité. Das Bekenntnis zur eigenen Unverwechselbarkeit gilt vielmehr als Ausdruck des Willens zu jener Authentizität, die in der Eitelkeit verloren geht. Was die Menschen zur Verleugnung ihrer natürlichen Einzigartigkeit und zur Ähnlichkeit mit allen anderen zwingt, ist ganz allgemein die Gesellschaft mit ihrer Nötigung zu Verständigung und Anpassung und speziell die Gesellschaft als System kalkulierter und maskierter Interessen. Der gesellige Mensch lebt außerhalb seiner selbst, in den Meinungen und nach den Regeln der Anderen.
Vergesellschaftung ist darum per se ein pathogener Prozess. Nur der vorgesellschaftliche Mensch, der Mensch als natürliches Wesen, ist für sich und mit sich eins, voll Selbstvertrauen und ausgestattet mit dem wahrhaftigen Empfinden der eigenen Existenz. Indem er sich in ein Netz von Beziehungen verstrickt, geknüpft durch die Erwartung sozialer Anerkennung, verkümmert die natürliche Selbstliebe und mit ihr das intuitive Bewusstsein wahrer Bedürfnisse. Die Selbstliebe entartet zur artifiziellen Selbstsucht mit ihrem "fureur de se distinguer", dem Bedürfnis des Sich-Vergleichens und Sich-Unterscheidens gepaart mit der Neigung, andere als Publikum und allgemein als Mittel zu eignen Zwecken zu missbrauchen. Während Kant die "vergleichende Selbstliebe", den Hang, sich "nur in Vergleichung mit andern als glücklich oder unglücklich zu beurteilen" und "sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen"[xxiii] als ursprüngliche Anlage in der menschlichen Natur, ja als Trieb zur Kultur zu verstehen sucht, beklagt sie Rousseau als Verfallsprodukt. Eitelkeit ist weder ein persönliches Laster noch ein natürlicher Trieb, sondern Aspekt eines Sozialcharakters, eines dem elenden Zustand der Gesellschaft entsprechenden Syndroms des Verhaltens zu sich und zu anderen. Rousseau rechnet nicht mit einer List der Vorsehung, die sich dieses Sozialcharakters nur bedient, um die "ethischbürgerliche Gesellschaft" (Kant) zu schaffen, sondern (wie später Thorstein Veblen) damit, dass das Gewächs der Eitelkeit unendlich wuchert, weil das befriedigte Geltungsbedürfnis des Einen das des Andern anspornt, ihn zu übertrumpfen.
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[i] Ein Psychotherapeut in einer WDR2-Sendung zum Thema Hauptsache gut aussehen
[ii] Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände, Berlin 1840, S. 478
[iii] M. Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Hamburg 1994, S. 285
[iv] Augustinus, Bekenntnisse, Stuttgart 1863, S. 223
[v] im Artikel "amour-propre" seines Dictionaire philosophique
[vi] in seinem Encyclopédie -Artikel "conservation"
[vii] B. de Mandeville, Die Bienenfabel, Ffm. 1968, S. 101
[viii] D. Hume, A Treatise of Human Nature, Penguin Classics 1985, S. 543 (meine Übersetzung)
[ix] J.G.Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Nr. 109
[x] Vgl. z.B. N. Malebranche, De la recherche de la vérité, Oeuvre complètes, Tome II, Paris 1974, S. 64ff., 255, 323f.
[xi] I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 394
[xii] ebd. A 404
[xiii] J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, Berliner Ausgabe Bd. 18, Schriften zur Literatur Bd. II, S. 609
[xiv] I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, XII, sowie ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Fussnote 17
[xv] I. Kant, Über Pädagogik, 1803, A 144
[xvi] I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 402
[xvii] Dante Alighieri, Das Gastmahl, Erstes Buch, übers. v. Th. Ricklin, Hamburg 1996, ii 8
[xviii] La Rochefoucauld, Spiegel des Herzens, Zürich 1988, S. 32 und 36
[xix] Shakespeare/Baudissin, Liebes Leid und Lust, 4. Akt, 2. Szene
[xx] a.a.O., ii 7
[xxi] M. de Montaigne, Von der Einsamkeit, in ders., Essais, Zürich 19856, S. 255ff.
[xxii] J.-J.Rousseau, Die Bekenntnisse, München 1978, Erster Teil, Buch I, S. 9
[xxiii] I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke, Bd. 8, Frankfurt a.M., 1977, S. 673f.
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