In seiner Schrift Der Antichrist bezeichnet Friedrich Nietzsche Jesus als Idiot. Das Nietzsche Archiv hatte diese Tatsache bei der Veröffentlichung unterdrückt, weil dieser, umgangssprachlich als Schimpfwort eingesetzte Begriff, im Zusammenhang mit Jesus als etwas so Unerhörtes empfunden werden konnte, dass Nietzsche dadurch Gefahr lief, als irrsinnig eingestuft zu werden. Auch in der Gegenwart kann die auf Jesus bezogen Bezeichnung als Blasphemie, zumindest jedoch als Respektlosigkeit gewertet werden.
Diese Arbeit geht einleitend der etymologische Erklärung des Begriffs Idiot nach und beschreibt seine Bedeutung in der Gegenwart.
Im Mittelpunkt steht Nietzsches Auffassung von Jesus als Idiot und differierende Beurteilungen verschiedener Autoren zu dieser Tatsache.
Von deren Einschätzungen werden die Aussagen zweier Autoren ausführlicher behandelt:
Urs Sommer argumentiert, dass Nietzsche daran gelegen war, Jesus zu entgöttlichen und in die Immanenz zurück zu holen.
Eugen Biser vermutet eine zunehmende Identifikation mit Jesus bei Nietzsche als Ursache.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Idiot als psychiatrischer Begriff und die Krankheit Epilepsie
2.2 Darstellung des Fürsten Myschkin
2.3 Die Psychologie des Erlösers
2.4 Der ”heilige Anarchist” und ”politische Verbrecher”
2.5 Eugen Bisers Interpretation des Begriffs ‘Idiot’ in Verbindung mit Jesus
3. Schlussbetrachtung
4. Literaturliste
Zur Bedeutung der Bezeichnung "Idiot" für Jesus
bei Friedrich Nietzsche
1. Einleitung
In seiner Schrift Nietzsche zu Einführung bemerkt Wiebrecht Ries:”Nietzsches im September 1888 geschriebene Kampfschrift Der Antichrist - ursprünglich von ihm als erstes Buch der geplanten ‘Umwertung aller Werte’ - konzipiert - ist einer der schärfsten Angriffe auf Christentum und Staatskirche, die im 19. Jahrhundert verfasst wurden.”[1]
Karl Löwith sieht „den ‚ Antichrist’ im Zusammenhang mit Nietzsches ganzer Entwicklung“ und als „das Ende einer Kritik, die schon mit den ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen’ einsetzte“. Er sei von daher „kein ursprüngliches ‚Skandalon.’“[2]
Doch gibt es in dieser Schrift einen Begriff, der auch heute noch als Skandalon gewertet werden kann. Es handelt sich um den auf Jesus bezogenen Begriff „Idiot“. Denn der Begriff Idiot ist als Schimpfwort in den Sprachgebrauch eingegangen.
Die hier vorliegende Arbeit verfolgt die Bedeutung dieses Begriffs und untersucht die Motivation seiner Anwendung auf Jesus durch Nietzsche. Die Untersuchung stützt sich in erster Linie auf den historisch-philosophischen Kommentar Friedrich Nietzsches ‚Der Antichrist’ von Andreas Urs Sommer und auf zwei Schriften des Theologen Eugen Biser: Nietzsche für Christen und Nietzsche Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?.
2. Hauptteil
In seinem Werk Der Antichrist (1888), dem Eugen Biser eine hemmungslose Sprachpolemik unterstellt, gebraucht Nietzsche für Jesus den Begriff ”Idiot”.
Nietzsche schreibt:
”Unser ganzer Begriff, unser Cultur-Begriff ‘Geist’ hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz: das Wort Idiot.”[3]
Dem Nietzsche-Archiv war dieser Vergleich derartig in die Knochen gefahren, „dass es die Stelle in den Erstausgaben unterdrückte“.[4] Die Reaktion des Archivs auf diese als blasphemisch zu wertende Bezeichnung für Jesus ist nur zu verständlich. Sowohl z. Zt. der Veröffentlichung des Antichrist als auch in der Gegenwart, wird der Begriff Idiot als Schimpfwort betrachtet und eingesetzt. Damit wird die Sinnentleerung eines Begriffs deutlich, der ursprünglich eine andere Bedeutung hatte.
Nach Angabe des Etymologischen Wörterbuchs von Kluge stammt er aus dem Griechischen. Das Adjektiv idios heißt übersetzt ‘eigen’. Idiotes ist die Bezeichnung für ‘Privatmann, Laie (in Staatsgeschäften)’. „In dieser Bedeutung im 16. Jahrhundert entlehnt, wird Idiot bis in das 19. Jahrhundert hinein ohne Vorwurf gebraucht.“ Aus der harmlosen Bedeutung ‘laienhaft, unsachlich’ verwendete Paracelsus 1526 Idiot und idiotisch im Sinne von ‘verrückt’ und ‘sinnlos’.[5] Der französische Arzt Philippe Pinel (1745-1826) bezeichnete „den Idiotismus als Auslöschung und Verkümmerung aller Verstandes- und Empfindungsvermögen.”[6]
2.1 Idiot als psychiatrischer Begriff und die Krankheit Epilepsie
Für die Psychiatrie der Gegenwart ist Idiotie die Bezeichnung des höchsten Grades von Schwachsinn.[7] Eugen Bleuler (1857-1939) sieht in häufigen leichten Schwachsinnsformen ”Beziehungen zum Infantilismus und zur verspäteten Pubertät”. Beim Infantilismus steht „das Erhaltenbleiben kindlicher Eigenschaften im Vordergrund.“[8] Zudem sei „rührende Anteilnahme am Leid anderer“ bei Schwachsinnigen zu beobachten. Man müsse sie vor „Verachtung, Verstoßung, Verwahrlosung und Misshandlungen“ schützen.[9]
Nietzsche scheint das, was er unter Idiotie versteht, mit dem Krankheitsbild der Epilepsie zu verbinden. Bereits in § 21 setzt er den Begriff ”Epilepsoiden”[10] für im Christentum höchstbegehrte und mit höchsten Namen bezeichnete Zustände ein[11]. Es scheint sich bei diesen Zuständen um Ekstasen zu handeln, die häufig mit Visionen und Offenbarungen verbunden waren. Nietzsche zufolge bedient man sich zu diesem Zweck einer Diät (wohl eine asketische Übung), die so gewährt wird, „dass sie morbide Erscheinungen begünstigt und die Nerven überreizt.“[12]
Möglicherweise waren Nietzsche auch Aurabeschreibungen bekannt, Beschreibungen eines Zustandes, der epileptischen Anfällen vorausgehen kann. Die Aura des Fürsten Myschkin, eines Epileptikers, Hauptfigur des Romans Der Idiot von Fjodor Dostojewskij, wird nachfolgend so geschildert:
[...]”er stand da in einem nahezu mystischen Schreck. Noch ein Augenblick ... und es war ihm, als ob alles sich vor ihm zu weiten anfange, statt des Entsetzens - trat Licht vor ihn und Freude, Ekstase”[13].
Peters zufolge ist die Krankheit Epilepsie ein Anfallsleiden. Sie ist der „Oberbegriff für ätiologisch verschiedene Krankheitszustände.“ Deren gemeinsames Symptom ist „das wiederholte Auftreten hirnorganisch bedingter (epileptischer) Anfälle.“[14] Sie wird als genuine Epilepsie dann bezeichnet, wenn keine Ursachen nachweisbar sind.[15] ”In den schwersten Fällen führt sie entweder zum Tode (im Status epilepticus oder durch Verletzungen in den Anfällen) oder zum schwersten chronischen Siechtum in Geisteskrankheit und Verblödung.”[16] Wesensveränderungen sind bekannt, werden jedoch nur zum Teil mit einer zunehmenden Hirnschädigung in Zusammenhang gebracht, sondern „als psychologisch verständliche Reaktion und Persönlichkeitsveränderung auf alles Leid“, das diesen Kranken auferlegt wird, gewertet. Gereizte Verstimmungen sind bei Epileptikern bekannt, die so schwer werden können, dass Dämmer- und Schlafkuren angezeigt sind.[17]
Der Begriff ”Idiot”, den Nietzsche offensichtlich in Verbindung mit einem an Epilepsie Erkrankten einsetzt, ist im Der Antichrist pathologisch gemeint. Darauf deute eine Vorstufe zu § 29 hin, eine Vorstufe, auf der „Jesu Idiotie näher umrissen wird“, schreibt Sommer.[18]
Nietzsche äußerst sich dabei nachfolgend so:
”Typus ‘Jesus’...
Jesus ist das Gegenstück eines Genies: er ist ein Idiot. Man fühle seine Unfähigkeit, eine Realität zu verstehen: er bewegt sich im Kreise um fünf, sechs Begriffe, die er früher gehört und allmählich verstanden, d. h. falsch verstanden hat - in ihnen hat er seine Erfahrung, seine Welt, seine Wahrheit, - der Rest ist ihm fremd. Er spricht Worte, wie sie Jedermann braucht - er versteht sie nicht wie Jedermann, er versteht nur seine fünf, sechs schwimmenden Begriffe. Daß die eigentlichen Manns-Instinkte - nicht nur die geschlechtlichen, sondern auch die des Kampfes, des Stolzes, des Heroismus - nie bei ihm aufgewacht sind, dass er zurückgeblieben ist und kindhaft im Alter der Pubertät geblieben ist: das gehört zum Typus gewisser epilepsoider Neurosen.
[...]
[1] Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, (1995), S. 89.
[2] Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche, (1995), S. 393.
[3] Nietzsche, Friedrich: KSA 6, Der Antichrist, (1999), S. 200.
[4] Biser, Eugen: Nietzsche für Christen, (2000), S. 54-55.
[5] Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, (1963) S. 323.
[6] Ziolkowski, Theodore: Das Amt der Poeten, Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, (1994), S. 188.
[7] Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, (1977), S. 248.
[8] Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, (1969), S. 578.
[9] Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, (1969), S. 574.
[10] Die Psychiatrie verwendet den Begriff „epileptoid“, dies in Zusammenhang mit epileptoiden Krankheiten, beispielsweise episodischen Dämmerzuständen. Diese Krankheiten waren bis 1920 der Epilepsie zugeordnet worden. Peters, Uwe Henrik, Lexikon Psychiatrie Psychotherapie Medizinische Psychologie, (2000), S. 178.
[11] Nietzsche, Friedrich: KSA 6, Der Antichrist, (1999), S. 188.
[12] Nietzsche, Friedrich: KSA 6, Der Antichrist, (1999), S. 188.
[13] Dostojewski, F. M.: Der Idiot, (1958), S. 836.
[14] Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, (1977), S. 156.
[15] Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, (1977), S. 158.
[16] Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, (1969), S. 350.
[17] Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, (1969), S. 364, 365.
[18] Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsches ”Der Antichrist”, (2000), S. 301.
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