Diese verdrängten menschlichen Potentiale und komplexen Konstellationen auf der Ebene des von Kluge so bezeichneten subdominanten Bewusstseins, sollen innerhalb der vorliegenden Arbeit genauer analysiert und in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen beschrieben werden.
Zuvor werde ich jedoch in einem ersten Schritt auf Alexander Kluges Realismusbegriff und dessen Implikationen eingehen. Hierbei soll die Komplexität des Realzusammenhang anhand der Unterscheidung zwischen Realität als fiktiver Konstellation und sinnlich erfahrbarer Lebenswirklichkeit dargestellt werden. Des weiteren möchte ich in diesem Zusammenhang näher auf die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Wirklichkeit eingehen, und mich dabei mit zentralen Aspekten einer Kapitalismusanalyse auseinandersetzen, wie sie meines Erachtens nach in Alexander Kluges Arbeiten implizit enthalten ist.
Der dritte Gliederungspunkt befasst sich daran anschließend mit den Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Realität. In diesem Rahmen möchte ich genauer auf die Kategorie des subdominanten Bewusstseins, dessen Ausdrucksweisen und anti-realistischen Tendenzen eingehen. Wunschproduktion und Phantasietätigkeit stellen hierbei zentrale Bezugsgrößen dar, die maßgeblich an der Produktion von Wirklichkeit beteiligt sind und in ihren unterschiedlichen Formen eine lebendige Arbeit des Protests leisten. Die vielschichtigen Arbeiten Alexander Kluges zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass Kluge beständig nach Bündnissen mit jenen Triebkräften und Ausdrucksformen sucht, die gemeinhin als irrational und unwirklich gelten, und doch von einem kritischen Standpunkt aus einen zentralen Bezugspunkt darstellen, denn: „Wahr ist nur was nicht in diese Welt passt.“ .
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
2. Die Kategorie der Realität als Fiktion und Bezugspunkt
2.1. Schärfste Ideologie und sinnliche Konkretion: Komplexität des Zusammenhangs
2.2. Verwunschene Realität: Tauschabstraktion und Warenfetisch
3. Die Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität
3.1. Realitätsprinzip und Phantasietätigkeit – die Arbeitsweisen des Bewusstseins
3.2. Die Wüste vor den Toren der Stadt
4. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Wie assoziativ müssen menschliche Kräfte sein, damit ein David entsteht, imstande, dem Monstrum Realität ins Auge zu schießen.“[1]
Die Rede von der Realität im Kommandoton des Faktischen vorgetragen, ruft aus einer kritischen Perspektive berechtigterweise Widerstände und Einsprüche hervor: Befehlsverweigerung. Stark ist der affirmative Gehalt eines Begriffs, der doch gemeinhin Zusammenhang, Kontinuität, Authentizität bedeuten will und unter dessen Obhut das Bestehende sich als Wirkliches und Vernünftiges präsentiert, gerade dort, wo seine Irrationalität fortwährend Menschen bedroht, Leben vernichtet, Fiktionen generiert. So wichtig und unverzichtbar eine Kritik der Kategorie des Realen, die auf die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, ihren fragmentarischen Charakter und ihre medialen Inszenierungsformen verweist, auch ist. Menschen müssen sich notwendigerweise in ihrem alltäglichen Handeln zu etwas verhalten, im Rahmen einer Anordnung von Beziehungskonstellationen, sinnlichen Empfindungen und lebensweltlichen Erfahrungen agieren. Sie sehen sich also beständig mit einem Zusammenhang konfrontiert, der gemeinhin als Realität bezeichnet wird.
Der Realismusbegriff Alexander Kluges bewegt sich im Spannungsverhältnis dieser unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen. Die Tatsache, dass Realität den Einzelnen trifft, ihn gleichsam auf der Ebene der Sinnlichkeit wirklich berührt, und der fiktive Charakter des Realzusammenhangs, die mediale Aufbereitung und Präparierung dessen, was wir für wirklich halten, stellen die unterschiedlichen Pole eines komplexen Zusammenhangs dar, welcher innerhalb Kluges Arbeiten eine zentrale Kategorie der theoretischen wie filmischen Reflexion bezeichnet.
Realität ist unter den Bedingungen der Waren produzierenden Gesellschaft notwendig antagonistisch strukturiert. Die Menschen erfahren ihren eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang hier als eine über ihnen existierende, ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen gleichgültig gegenübertretende äußere Gewalt, die sie nicht zu kontrollieren vermögen. Gleichzeitig sind sie deren Bewegungsgesetzen unterworfen und haben sich bei Strafe des Untergangs in diesem Sinne zu verhalten. Die subjektiven und kollektiven Verarbeitungsformen einer solchen Realität vollziehen sich notwendig in widersprüchlicher Weise. Einerseits ist es gewissermaßen lebensnotwendig eine zumindest teilweise harmonische Beziehung zur gesellschaftlichen Umwelt aufzubauen, um es überhaupt innerhalb der Verhältnisse aushalten zu können. Auf der anderen Seite werden unterschiedliche menschliche Triebkräfte, Fähigkeiten und Erfahrungsbereiche, die sich nicht nach kapitalistischen Verwertungsinteressen organisieren lassen, ausgegrenzt. Diese verdrängten menschlichen Potentiale und komplexen Konstellationen auf der Ebene des von Kluge so bezeichneten subdominanten Bewusstseins, sollen innerhalb der vorliegenden Arbeit genauer analysiert und in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen beschrieben werden.
Zuvor werde ich jedoch in einem ersten Schritt auf Alexander Kluges Realismusbegriff und dessen Implikationen eingehen. Hierbei soll die Komplexität des Realzusammenhang anhand der Unterscheidung zwischen Realität als fiktiver Konstellation und sinnlich erfahrbarer Lebenswirklichkeit dargestellt werden. Des weiteren möchte ich in diesem Zusammenhang näher auf die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Wirklichkeit eingehen, und mich dabei mit zentralen Aspekten einer Kapitalismusanalyse auseinandersetzen, wie sie meines Erachtens nach in Alexander Kluges Arbeiten implizit enthalten ist.
Der dritte Gliederungspunkt befasst sich daran anschließend mit den Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Realität. In diesem Rahmen möchte ich genauer auf die Kategorie des subdominanten Bewusstseins, dessen Ausdrucksweisen und anti-realistischen Tendenzen eingehen. Wunschproduktion und Phantasietätigkeit stellen hierbei zentrale Bezugsgrößen dar, die maßgeblich an der Produktion von Wirklichkeit beteiligt sind und in ihren unterschiedlichen Formen eine lebendige Arbeit des Protests leisten. Die vielschichtigen Arbeiten Alexander Kluges zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass Kluge beständig nach Bündnissen mit jenen Triebkräften und Ausdrucksformen sucht, die gemeinhin als irrational und unwirklich gelten, und doch von einem kritischen Standpunkt aus einen zentralen Bezugspunkt darstellen, denn: „Wahr ist nur was nicht in diese Welt passt.“[2].
2. Die Kategorie der Realität als Fiktion und Bezugspunkt
„Das Reale ist nicht unmöglich, nur wird es immer künstlicher.“[3]
Im Folgenden wird der Realismusbegriff Alexander Kluges im Vordergrund der weiteren thematischen Auseinandersetzung stehen. Hierbei wird das bereits angesprochene Spannungsverhältnis in dem sich Realitätsbezüge notwendig bewegen genauer zu betrachten sein. Des Weiteren soll in einem zweiten Schritt der Versuch unternommen werden, die Ursprünge und Voraussetzungen des Realismusbegriffs Alexander Kluges, in dessen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise zu begründen. Die Notwendigkeit einer solchen Vorgehensweise ergibt sich meiner Ansicht nach nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die Kategorie des Realen nach Kluge allein im Rahmen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, der Verhältnisse die sie in all ihren Formen erst konstituieren, sinnvoll begreifen lässt.
2.1. Schärfste Ideologie und sinnliche Konkretion: Komplexität des Zusammenhangs
Wenn Realität auch als das Produkt der Arbeit von Generationen von Menschen begriffen werden kann, ist sie doch nicht als Resultat menschlicher Praxis eindeutig zu verorten. Sie bewegt sich vielmehr zwischen sinnlich konkreter Wahrnehmung und fiktiver Konstellation, ist insofern „ […] in mehrfacher Hinsicht wirklich und unwirklich zugleich“[4]. Gerade weil sich die Praxis der Menschen gewissermaßen bewusstlos vollzieht, sie „ […] eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes wollten und wollen“[5], nimmt das Reale einen teils hochgradig fiktiven Charakter an: produziert Krisen, Hungerkatastrophen, Kriege, menschliches Leid in vielfachen Formen. Phänomene die zwar letztlich ihrerseits allein als Produkte gesellschaftlicher Praxis sinnvoll verstanden werden können, den tatsächlich Handelnden jedoch als quasi Naturgewalten entgegentreten über die sie nichts vermögen. Das alles trifft nun den Einzelnen wirklich, er erfährt die Irrationalität einer Welt, „ […] die sich um seine menschlichen Bedürfnisse gar nicht kümmert [ …]“[6] ganz konkret: Menschen „[…] sterben daran, werden auseinandergenommen, liegen unter Bombenteppichen, sind tot zu Lebzeiten […]“[7] – scheinbar ohnmächtig ihrer eigenen Geschichte gegenüber.
Die ideologische Dimension der Realität liegt in ihrer Tendenz begründet sich im Angesicht ihrer Zerrissenheit, ihres fiktiven Gleichklangs als realistisch zu inszenieren. Gerade in den Formen medialer Vermittlung, in denen das Reale zur Darstellung drängt, beruft sich die Realität fortwährend auf ihren realistischen Charakter, erzählt Geschichten über sich selbst, blendet abweichende Erfahrungsbereiche aus - wird zum ideologischen Spektakel : „Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudowelt, Gegenstand der bloßen Kontemplation.“[8]
Was in dieser Hinsicht der Realzusammenhang, als gewissermaßen narzisstisches Selbstbild einer entfremdeten Gesellschaft, in seine Produktion nicht aufnimmt, wird abgeschoben und gleichsam mit Gewalt in abgespaltene Bereiche verdrängt.[9] Jene Energien und Potentiale, welche sich dem Verwertungsinteresse, den gesellschaftlichen Erfordernissen der Warenproduktion entziehen, gruppieren sich in ihrem Exil in neuen Formen: „Sie verschwinden aus der Oberwelt, aber arbeiten im Untergrund weiter. Das Verdrängte leistet unterhalb des Real-Terrors alle Arbeit.“[10]
Es sind gerade die selbstregulierten, assoziativ arbeitenden Bewusstseinsströme, auf die sich nach Kluge eine realistische Haltung notwendig beziehen muss. Phantasien, Wünsche, Tagträume: subjektive Ausdrucksformen, die gemeinhin dem Bereich des Illusorischen, der Sphäre des Unwirklichen zugeordnet werden, bilden in ihren anti-realistischen Tendenzen die Wurzel eines vielschichtigen Realismusbegriffs: „In einer antagonistischen Realität ist eine realistische Haltung dadurch gekennzeichnet, dass sie den Antirealismus der Gefühle – deren Protest gegen unerträgliche Verhältnisse – als den Motor für Realismus anerkennt.“[11] Was gemeinhin unsichtbar bleibt, keine der Organisationsweise dieser Gesellschaft entsprechende Artikulationsform findet, besteht auf anderen Ebenen dennoch fort, weil es reden muss[12].
[...]
[1] Kluge, Alexander: Die Patriotin. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 2. Aufl. 1980, S.7.
[2] Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Band 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. 1977. S. 93
[3] Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1. Aufl. 1984, S. 45.
[4] Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. 1975, S. 215.
[5] Ebd.
[6] Ebd. S. 216.
[7] Ebd. S. 215
[8] Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Verlag Klaus Bittermann, 1. Aufl. 1996, S. 13.
[9] Vgl. hierzu auch: Negt/Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 5. Aufl. 1972. Ihre Ausführungen einleitend beschreiben die Autoren das Missverhältnis zwischen den Geltungsbereichen der privaten und öffentlichen Sphäre. Bestimmte als privat konnotierte Erfahrungen, werden einer öffentlichen Auseinandersetzung entzogen und somit einer gesellschaftlich relevanten Ausdrucksform beraubt. Sie bleiben auf dieser Ebene sprachlos: „Bundestagswahlen und Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharfschützenkommandos, eine Uraufführung im großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender öffentlicher Bedeutung, wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen.“, ebd. S.7.
[10] Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. 1975, S. 215.
[11] Negt/Kluge: Der unterschätzte Mensch. Band II. Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a. M.:
Zweitausendeins, 1. Aufl. 2001, S. 112.
[12] So das Knie des gefallenen Obergefreiten Wieland im Film „Die Patriotin“. Zitiert nach:
Kluge, Alexander: Die Patriotin. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 2. Aufl. 1980, S. 55.
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.