Die tragische Liebesgeschichte von Tristan und Isolde ist wesentlich älter als das um 1210 entstandene Epos Tristan von Gottfried von Straßburg. Wie im Mittelalter durchaus üblich griff Gottfried bei seiner Themenauswahl auf bekannte Muster, Traditionen und Überlieferungen zurück. Aufgrund der komplexen Verwebung unterschiedlicher literarischer Elemente aus „regionalmythischen, halb-historischen, novellistischen und märchenhaften“ Bereichen und unterschiedlicher soziokultureller Einflüsse, ist es unmöglich die einzelnen Überlieferungsstränge des Tristan zu bestimmen. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Forschung jedoch über die Annahme der Tristan-Stoff sei keltischen Ursprungs. Zwar gibt es keine schriftliche Überlieferung des keltischen Urtristan, jedoch sind mehrere mittelalterliche Versionen, die vor Gottfrieds Werk entstanden sind, erhalten. Gottfried übernimmt viele Aspekte dieser älteren Fassungen, bringt aber auch eigene Elemente mit ein. Besonders auffallend ist hierbei die, im Vergleich zu seinen Vorgängern, viel präzisere Ausgestaltung der einzelnen Charaktere.
Vor allem nimmt die Mutter der Isolde, die gleichnamige Königin von Irland, bei Gottfried eine weitaus bedeutendere Rolle ein als bei Thomas, Béroule und Eilhart. Diese Bedeutungsvertiefung und Akzentuierung der Königin Isolde ist besonders für die Ausgestaltung der Tochterfigur relevant, denn Mutter Isolde ist für Tochter Isolde in der ersten Hälfte des Epos eine „prägende Bezugsperson“ . Gottfrieds Tristan gehört zu den wenigen mittelalterlichen literarischen Werken, in denen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, zwar nicht den zentralen, aber dennoch einen relativ bedeutsamen Stellenwert einnimmt.
Im Folgenden soll nun anhand zentraler Textstellen und unterschiedlicher Interpretationsansätze aus der Forschung die Beschaffenheit der Beziehung zwischen dem gleichnamigen Mutter-Tochter-Paar genauer untersucht werden. Analyseschwerpunkte sind hierbei Fragestellungen bezüglich der Rollenverteilung, der Interaktion zwischen den beiden Figuren, der Stereotypisierung des Verhältnisses und der Bedeutsamkeit der Mutter für Isoldes Entwicklung. Generell soll untersucht werden inwiefern die Beziehung zwischen Isolde und Isolde wirklich so ideal ist, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Inhalt
1.Einleitung
2. Mütter und Töchter in der höfischen Epik
3. „Die saeligen Îsôte zwô“ - Mutter und Tochter Isolde
3.1 „[] beidiu buoch und seitspiel“ - Die Mutter als Erzieherin
3.2 Die Truchsess-Episode
3.3 Die Gerichtsverhandlung
3.3.1 Der erste Gerichtstag
3.3.2 Der zweite Gerichtstag
3.4 „[] wie ich verkoufet bin“ - Die Eheverhandlung
3.5 Die Bedeutung des Minnetranks
4. Konklusion
5.Literatur
1. Einleitung
Die tragische Liebesgeschichte von Tristan und Isolde ist wesentlich älter als das um 1210 entstandene Epos Tristan von Gottfried von Straßburg. Wie im Mittelalter durchaus üblich griff Gottfried bei seiner Themenauswahl auf bekannte Muster, Traditionen und Überlieferungen zurück. Aufgrund der komplexen Verwebung unterschiedlicher literarischer Elemente aus „regionalmythischen, halb-historischen, novellistischen und märchenhaften“[1] Bereichen und unterschiedlicher soziokultureller Einflüsse, ist es unmöglich die einzelnen Überlieferungsstränge des Tristan zu bestimmen. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Forschung jedoch über die Annahme der Tristan-Stoff sei keltischen Ursprungs.[2] Zwar gibt es keine schriftliche Überlieferung des keltischen Urtristan, jedoch sind mehrere mittelalterliche Versionen, die vor Gottfrieds Werk entstanden sind, erhalten: die ältesten überlieferten Tristan Fassungen sind die altfranzösischen bzw. anglo-normannischen Texte des Thomas de Bretagne (zwischen 1155 und 1190) und Béroules (zwischen 1170 und 1191), sowie die deutsche Version des Tristrant von Eilhart von Oberg (um 1190).[3] Gottfried übernimmt viele Aspekte dieser älteren Fassungen, bringt aber auch eigene Elemente mit ein. Besonders auffallend ist hierbei die, im Vergleich zu seinen Vorgängern, viel präzisere Ausgestaltung der einzelnen Charaktere.
Vor allem nimmt die Mutter der Isolde, die gleichnamige Königin von Irland, bei Gottfried eine weitaus bedeutendere Rolle ein als bei Thomas, Béroule und Eilhart.[4] Diese Bedeutungsvertiefung und Akzentuierung der Königin Isolde ist besonders für die Ausgestaltung der Tochterfigur relevant, denn Mutter Isolde ist für Tochter Isolde in der ersten Hälfte des Epos eine „prägende Bezugsperson“[5]. Gottfrieds Tristan gehört zu den wenigen mittelalterlichen literarischen Werken, in denen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, zwar nicht den zentralen, aber dennoch einen relativ bedeutsamen Stellenwert einnimmt.
Im Folgenden soll nun anhand zentraler Textstellen und unterschiedlicher Interpretationsansätze aus der Forschung die Beschaffenheit der Beziehung zwischen dem gleichnamigen Mutter-Tochter-Paar genauer untersucht werden. Analyseschwerpunkte sind hierbei Fragestellungen bezüglich der Rollenverteilung, der Interaktion zwischen den beiden Figuren, der Stereotypisierung des Verhältnisses und der Bedeutsamkeit der Mutter für Isoldes Entwicklung. Generell soll untersucht werden inwiefern die Beziehung zwischen Isolde und Isolde wirklich so ideal ist, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Eine Hinführung zum und einen Überblick über das Thema Mutter-Tochter-Beziehungen in der höfischen Epik soll das erste inhaltliche Kapitel dieser Arbeit liefern. Hier werden gängige Mutter und Tochter-Bilder und Stereotype der mittelalterlichen Literatur vorgestellt. Darauf folgt die nähere Untersuchung fünfer Handlungsabschnitte bzw. Motive im Tristan, in denen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter Isolde eine Rolle spielt: Isoldes Ausbildung, die Truchsess-Episode, die Gerichtsepisode, die Eheverhandlung und der Minnetrank. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.
2. Mütter und Töchter in der höfischen Epik
Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist nicht nur die erste soziale Beziehung, die ein Kind überhaupt erfährt, sondern auch die, die sein zukünftiges Leben entscheidend prägt und beeinflusst.[6] Die Mutter ist Hauptbezugspunkt in der Welt des Kindes, sie ernährt, beschützt, bestraft und wird im kindlichen Urerlebnis im Freud’schen Sinne als mächtige Instanz – gute und böse Eigenschaften vereinend – erlebt.[7] Und auch nachdem sich das Kind von der Mutter allmählich gelöst hat, bleibt deren einstiger Einfluss in mannigfacher Hinsicht während des gesamten Lebens – bewusst oder unbewusst – präsent. Dementsprechend wichtig ist die Beschaffenheit der Mutter-Kind-Beziehung für individuelle Lebensläufe einerseits, aber auch für den ‚kollektiven Lebenslauf’ einer Epoche andererseits: das Verhältnis zwischen Müttern und Kindern spiegelt die herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte einer Kultur wider.[8]
Im Mittelalter erhielt die Frau ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung in der patriarchalischen Gesellschaft in erster Linie durch ihre Rolle als Mutter,[9] wobei jedoch damals wie heute kein einheitliches Mutterbild vorherrschte und viele unterschiedliche Vorstellungen von Mutterschaft und Mütterlichkeit in den verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen vertreten waren. Hier sind vor allem starke Diskrepanzen zwischen den einzelnen sozialen Ständen auszumachen: während Bäuerinnen ihre Kinder selbst stillten und erzogen, widmeten sich die meisten adligen Frauen vor allem ihren repräsentativen Aufgaben und überließen die Kindererziehung Ammen und Erziehern. Jedoch gab es auch in adligen Kreisen vereinzelt Mütter, die ihre Mutterrolle „erweiterten“ und sich selbst an der Erziehung und Bildung ihrer Kinder beteiligten. Diese Erscheinung ist laut Miklautsch auf das „kirchliche Mutterideal der fürsorglichen und opferbereiten Frau, die immer um das Wohl des Kindes besorgt ist“ zurückzuführen.[10]
In der Literatur des Mittelalters spielen Mutterfiguren zwar keine zentrale Rolle, sind aber dennoch in vielfältiger Ausführung in den unterschiedlichen Textsorten anzutreffen. Die Mütter in Lyrik, Schwank und Didaxe sind allerdings lediglich Randfiguren, die eine moralische Instanz, ein Hindernis für den Liebhaber der Tochter oder einfach auch ein komisches Element darstellen.[11] Einen etwas größeren charakterlichen Raum nehmen Mütter in der höfischen Epik ein. Zwar ist die Handlungswelt dieser Gattung vorwiegend männlich – heldenhafte Recken erleben âventiuren und erobern Länder und Frauen[12] – jedoch spielt in vielen höfischen Epen auch die Erziehung des Helden, die Beziehung zu Vater und Mutter, eine nicht unbedeutende Rolle. Die meist positiv besetzten Heldenmütter gehören zum gängigen Personal der Heldendichtung, bleiben oftmals während des gesamten Romans präsent, zumeist jedoch ohne direkt in den Handlungsverlauf einzugreifen.[13]
Während die Beziehungsgeflechte zwischen Vater und Sohn und Mutter und Sohn in der Epik des Mittelalters relativ häufig dargestellt werden, wird das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter wesentlich seltener thematisiert, was schlicht auf die untergeordnete Rolle der weiblichen Protagonisten zurückzuführen ist. Nichtsdestotrotz ist die Erziehung des Mädchens zur höfischen, „gebildete[n], sittlich gefestigte[n] Frau“[14], die Erziehung der Tochter durch die Mutter zur Mutter, ein signifikantes Element des Wertesystems der Adelsgesellschaft.
Im Wesentlichen gehen drei höfische Epen näher auf die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ein: das Verhältnis zwischen Ute und Kriemhild im Nibelungenlied ist ebenso wie das zwischen Isolde und ihrer gleichnamigen Mutter in Gottfrieds von Straßburg Tristan liebevoll und eng, wo hingegen das Verhältnis der namenlosen Mutter und ihrer Tochter Lavinia in Veldekes Eneas von unüberwindbaren Differenzen geprägt ist.
Die Darstellung von Mutter-Tochter-Beziehungen in mittelalterlichen Texten allgemein und in der höfischen Epik im Speziellen unterliegt jedoch, wie Rasmussen feststellt, einer „gattungsmäßigen Verengung“[15]. Hiermit ist die Reduzierung der Mutter- und Tochterfiguren auf die gängigen Stereotype der naiven Tochter und erfahrenen Mutter gemeint, die sich lediglich durch ihre Sexualität und die damit verbundene Unterordnung innerhalb der patriarchalischen Welt definieren.[16] Dementsprechend erfährt die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ebenfalls eine Stereotypisierung: in aller Regel ist die Hauptkomponente ihrer Beziehung die Erziehung der Tochter zur sexuellen Mündigkeit und eine Vorbereitung ihrer „Rolle als Objekt männlichen Begehrens“.[17] Oft werden Gesprächssituationen vorgestellt, in denen die Mutter als Expertin in Liebesangelegenheiten und in der Gesellschaft situierte Frau erscheint, die die unerfahrene Tochter in Bezug auf die Wahl ihres Ehemannes unterweist und ihr ihren Platz in der feudal-patriarchalischen Ordnung zeigt.[18]
Miklautsch verweist auf zwei in der höfischen Epik gängige Mutter-Tochter-Modelle, die sich konträr gegenüberstehen: einerseits die Beziehung zwischen einer idealisierten liebevollen, fürsorglichen Mutter und ihrer fügsamen, braven Tochter und andererseits das konfliktreiche Verhältnis zwischen einer herrschsüchtigen Mutter und einer sich widersetzenden Tochter.[19]
Wie sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter Isolde in Gottfrieds Tristan gestaltet und inwieweit sie den in der Forschungsliteratur aufgeführten Stereotypen entspricht, soll im Folgenden an zentralen Textstellen des Epos untersucht werden.
[...]
[1] Krohn, Rüdiger: Nachwort. In: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Bd. 1-3. 11. Aufl. Stuttgart: Reclam 2006. [Im Folgenden: Tristan] S. 295-369. S. 330.
[2] Vgl. Ebd. S.331.
[3] Vgl. Johnson, Peter: Gottfried von Straßburg. Tristan. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart: Reclam 1993. S. 233-254. S. 234.
[4] Vgl. Mälzer, Marion: Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen. Ein Beitrag zum diachronischen Wandel. Heidelberg: Winter 1991 (=Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). S. 144.
[5] Ebd. S. 146.
[6] Vgl. Miklautsch, Lydia: Mutter-Tochter-Gespräche. Konstituierung von Rollen in Gottfrieds Tristan und Veldekes Eneide und deren Verweigerung bei Neidhart. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall, Barbara Haupt u. Urban Küsters. Düsseldorf: Droste 1994. S. 89-107 (=Studia humaniora; Bd. 25). S. 89.
[7] Vgl. Kraft, Helga: Vorwort. In: Mütter-Töchter-Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft u. Elke Liebs. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. S.1-5. S.1.
[8] Vgl. Miklautsch: Mutter-Tochter-Gespräche, S. 89.
[9] Vgl. Brinker-von der Heide, Claudia: Geliebte Mütter – mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn: Bouvier 1996. S. 38.
[10] Vgl. Miklautsch, Lydia: Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des elften und zwölften Jahrhunderts. Erlangen: Palm und Enke 1991. S. 260.
[11] Vgl. Brinker-von der Heide: Geliebte Mütter, S. 38.
[12] Vgl. Giloy-Hirtz, Petra: Frauen unter sich. Weibliche Beziehungsmuster im höfischen Roman. In: Personenbeziehungen in der mitteralterlichen Literatur. Hrsg. v. Helmut Brall, Barbara Haupt u. Urban Küsters. Düsseldorf: Droste 1994. S. 61-87 (=Studia humaniora; Bd. 25). S. 63.
[13] Vgl. Brinker-von der Heide: Geliebte Mütter, S. 39.
[14] Miklautsch: Mutter-Tochter-Gespräche, S. 89. [Ergänzungen von mir, J.S.]
[15] Rasmussen, Ann Marie: Bist du begehrt so bist du wert. Magische und höfische Mitgift für die Töchter. In: Mütter-Töchter-Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft u. Elke Liebs. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. S.7-33. S. 7.
[16] Vgl. Ebd. S.7f.
[17] Vgl. Ebd. S.8.
[18] Vgl. Miklautsch: Mutter-Tochter-Gespräche, S. 90.
[19] Vgl. Miklautsch: Studien zur Mutterrolle, S. 261.
- Quote paper
- Julia Sproll (Author), 2007, Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter Isolde in Gottfrieds Tristan, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81012
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