In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht eine positive Einstellung gegenüber Neuen Medien. Beinahe könnte man von einer Euphorie sprechen. Über Internet und Computer lassen sich Prozesse vereinfachen, lassen sich Wege verkürzen, lässt sich Zeit sparen. Mit den neuen Technologien ist zweifellos ein gewaltiges Potenzial verbunden: Im Computer können Schrift, Tonaufzeichnungen, Bilder und audiovisuelle Informationen dargestellt werden. Außerdem können neben solchen Informationen, die aufgezeichnet und zur Bearbeitung an den Computer übertragen werden, vollkommen neue Inhalte generiert werden. Als weiterer Vorteil ist der flexible Zugriff auf die im Computer gespeicherten und strukturierten Informationen zu nennen. Inhalte, die im Buch linear aneinandergereiht sind, können am Computer je nach Bedarf und Interesse abgerufen werden, bieten Erklärungen, wo sie nötig sind. Über das Internet erschließen sich zudem neuartige und zeitsparende Mittel zur Kommunikation zwischen Einzelpersonen oder Gruppen. Die vielfältigen Möglichkeiten des Computers bieten daher einen hohen Anreiz für dessen Verwendung.
Ob diese reizvollen Optionen dem Lehrbuch seinen Stellenwert nehmen oder es gar vollständig von der Bildfläche verdrängen können, ist die zentrale Frage, die in dieser Arbeit beantwortet werden soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffe und Definitionen
2.1 Lehrbuch
2.2 computerbasierte Lernumgebungen
3. Medienkritik als Phänomen
3.1 Kritik am Buch
3.2 Die Auswirkungen des Fernsehens auf das Leseverhalten
3.3 Lesemüdigkeit
3.4 Kritik an der Medienkritik
4. Mediennutzung
4.1 Modelle des Leseprozesses
4.1.1 Grundbegriffe des Leseprozesses
4.1.2 Lesen am Bildschirm
4.2 Rezeption von Bildern
4.2.1 Kombination von Bild und Text
4.2.2 Bildtypologie nach Pöggeler
4.3 Nutzung von Multimedia-Inhalten
4.3.1 Gestaltungsprinzipien nach Varesi
4.3.2 Gestaltungsprinzipien nach Mayer
5. Mediendidaktik
5.1 Aufgabe des Lernmediums
5.2 Lerntheoretische Grundlagen
5.2.1 Behavioristisches Lernmodell
5.2.2 Kognitivistisches Lernmodell
5.2.3 Konstruktivistisches Lernmodell
5.3 Didaktischer Aufbau von Lehrbüchern
5.3.1 Allgemeine Kriterien zur Lehrbuchgestaltung
5.3.2 Erstellung von Lehrtexten
5.3.3 Zulassungskriterien für Schulbücher
5.3.4 Lehrbuchtypen
5.4 Didaktischer Aufbau computerbasierter Lernumgebungen
5.4.1. Programme zur Instruktion
5.4.2 Programme zur Darstellung von Inhalten
5.4.3 Programme zur Produktion von Inhalten
5.4.4 Programme zur Kommunikation
5.4.4.1 synchrone Online-Kommunikation
5.4.4.2 asynchrone Online-Kommunikation
5.4.5 Programmkombinationen zu Lernzwecken
5.4.6 Unentdeckte Nutzungsmöglichkeiten
6. Wird das Lehrbuch von computerbasierten Lernprogrammen verdrängt?
6.1 Vergleich der Eigenschaften
6.1.1 Vorteile des Lehrbuchs
6.1.2 Nachteile des Lehrbuchs
6.1.3 Vorteile von CBL
6.1.4 Nachteile von CBL
6.2 Zukunftsprognosen
6.2.1 Ausschluss-Szenario
6.2.2 Koexistenz-Szenario
6.2.3 Zusammenspiel-Szenario
6.2.4 Konvergenz-Szenario
7. Abschließende Worte
Quellenangaben
1. Einleitung
In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht eine positive Einstellung gegenüber Neuen Medien. Beinahe könnte man von einer Euphorie sprechen. Über Internet und Computer lassen sich Prozesse vereinfachen, lassen sich Wege verkürzen, lässt sich Zeit sparen. Mit den neuen Technologien ist zweifellos ein gewaltiges Potenzial verbunden: Im Computer können Schrift, Tonaufzeichnungen, Bilder und audiovisuelle Informationen dargestellt werden. Außerdem können neben solchen Informationen, die aufgezeichnet und zur Bearbeitung an den Computer übertragen werden, vollkommen neue Inhalte generiert werden. Als weiterer Vorteil ist der flexible Zugriff auf die im Computer gespeicherten und strukturierten Informationen zu nennen. Inhalte, die im Buch linear aneinandergereiht sind, können am Computer je nach Bedarf und Interesse abgerufen werden, bieten Erklärungen, wo sie nötig sind. Über das Internet erschließen sich zudem neuartige und zeitsparende Mittel zur Kommunikation zwischen Einzelpersonen oder Gruppen. Die vielfältigen Möglichkeiten des Computers bieten daher einen hohen Anreiz für dessen Verwendung.
Ob diese reizvollen Optionen dem Lehrbuch seinen Stellenwert nehmen oder es gar voll-ständig von der Bildfläche verdrängen können, ist die zentrale Frage, die in dieser Arbeit beantwortet werden soll. Diese Art der Fragestellung ist allerdings nicht neu. Ob das Buch als eines der ältesten Medien veraltet oder ersetzbar geworden ist, wurde bereits im Zusam-menhang mit anderen Medien gefragt. Ich möchte Erkenntnisse und Methoden der Medienpädagogik und der Leseforschung auf das Buch als Lernmedium anwenden und die gesammelten Informationen dann mit denen zum Lernen am Computer vergleichen. Schließlich soll aus diesem Vergleich eine Prognose abgeleitet werden, ob der Computer in Zukunft die Funktionen des Buches vollständig übernehmen können wird, oder nicht. Dieter Baacke (1997) formulierte die daraus resultierenden Fragestellungen wie folgt:
"Erschließen die zunehmend bereitstehenden Server in den Netzen neue Lernwege, die in einer Verbindung aus Sprache, Sprechen, stehendem und bewegtem Bild, Tönen, Musik, Graphiken, Simulationen bestehen und damit das bisherige Lernen nicht nur der Form nach, sondern auch in seinen Inhalten in Frage stellen? Oder ist es eher so, daß die Kom-bination unterschiedlicher Wahrnehmungsmodalitäten eher ablenkt und das eigentliche Lernen weiterhin über die Diskursivität von Sprache, Sprechen, Schrift und Buch erfolgt" (S.1f)?
Um ein umfassendes Bild der zu vergleichenden Medien zeichnen zu können, orientiere ich mich zur Strukturierung dieser Arbeit an den Dimensionen des Medienkompetenzbe-griffes nach Baacke (vgl. ders., S.98f).
In Punkt 3 werde ich unter der Überschrift Medienkritik die bisherigen Überlegungen und Befürchtungen behandeln, die im Bezug auf das Buch und dessen Konkurrenz zu anderen Medien geäußert wurden. Bei medienkritischen Fragestellungen findet sich ein stets wie-derkehrendes Muster, für dessen Ursachen eine Begründung gesucht werden soll.
Die Untersuchung der zentralen Fragestellung erfolgt in zwei weiteren Teilen: Um beur-teilen zu können, ob der Computer das Buch als Lernmedium ablösen kann, sollen auf der einen Ebene Aspekte der Rezeption und Nutzung, auf der anderen solche des didaktischen Aufbaus, bzw. der theoretischen Grundlagen der Konzeption verglichen werden. Unter dem Stichwort Mediennutzung werden unter Punkt 4 die grundlegenden Prozesse des Le-sens behandelt. Auch die Rezeption der anderen Informationstypen, die unter dem Schlag-wort Multimedia zusammengefasst werden können, sollen in diesem Punkt behandelt wer-den. Der Punkt 5 mit der Überschrift Mediendidaktik soll die Verfahren der didaktischen Aufbereitung von Lehrstoff für die betreffenden Medien beinhalten. Hier werden vor allem die verschiedenen Formen, in denen Buch und Computer zu Lernzwecken eingesetzt wer-den, näher betrachtet, und es werden die in der Literatur angeführten Anleitungen zu deren Verwendung und die Beurteilung ihres Nutzens vorgestellt.
Den vierten, von Baacke unter dem Medienkompetenzbegriff zusammengefassten Aspekt der Medienkunde möchte ich aus praktischen Erwägungen nicht gesondert behandeln. Detailierte Beschreibungen der technischen Entwicklungen des Buchdrucks oder der Ge-schichte der Schriftkultur, sowie vergleichbare Einzelheiten zur Entwicklung computerba-sierten Lernens, würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Teile dieses Themenfeldes sollen bei Bedarf in den anderen Punkten untergebracht werden.
Im Hauptteil werden schließlich die Ergebnisse zusammengeführt und verglichen. Neben einer abschließenden Beurteilung sollen in diesem Punkt auch mögliche Szenarien für die zukünftige Entwicklung der Mediennutzung in didaktischen Einsatzfeldern aufgezeigt wer-den.
2. Begriffe und Definitionen
In diesem Punkt sollen die im Folgenden verwendeten Begriffe für die zu untersuchen-den Medien eingegrenzt werden. Vor allem für die computerbasierten Lernmedien ist dieses Vorgehen erforderlich, denn die Entwicklungen auf diesem Gebiet haben eine Viel-zahl von Begrifflichkeiten hervorgebracht.
2.1 Lehrbuch
Das Lehr- bzw. Schulbuch, das in dieser Arbeit von vorrangigem Interesse ist, ist eine Son-derform des Buches, die Kozdon (1974) folgendermaßen definiert:
„´Schulbuch´ im engeren Sinne meint ein Buch, das unmittelbar den Unterricht begleitet. Es stellt somit eine Sonderform des Buches dar. Als solches spricht es den Leser nicht nur an; es enthält meist auch die direkte Aufforderung, zum Beispiel in Gestalt von Arbeitsaufgaben“ (S.19, Hervorheb. im Orig.).
Über diese Defintion hinaus sollen auch jene Arten von Büchern in die Betrachtung einbe-zogen werden, die in außerschulischen Lernprozessen Verwendung finden. Im Folgenden wird der Begriff Lehrbuch synonym für alle genannten Nutzungsformen verwendet. Eine Zergliederung dieses allgemeinen Begriffes in weitere Subtypen erfolgt unter Punkt 5.3.4.
2.2 computerbasierte Lernumgebungen
Die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten der Computertechnologie zu Lernzwecken haben zu diversen Bezeichnungen geführt, die eine Eingrenzung auf einzelne Anwendungsfelder er-möglichen sollen. Die Zahl der Begrifflichkeiten und dazugehöriger Abkürzungen nimmt stetig zu und richtet sich danach, welcher Aspekt des Lernens, der theoretischen Grundlage oder der technischen Nutzung des Mediums im Vordergrund stehen soll. So kann man eine Unterscheidung zwischen Multimedien und Telemedien treffen, wobei ersteres eine Kom-bination mehrerer technischer Informationstypen (Bild, Bewegtbild, Ton, Text) beschreibt, letzteres technische Medien zur Überwindung von räumlichen Distanzen zusammenfasst.
Eine Bezeichnung, die sich in pädagogischen Einsatzfeldern als Oberbegriff verwenden lässt, ist die des computer based training (CBT), welche die Verwendung des Computers zu Lernzwecken impliziert. Daneben gibt es den Begriff des E-learning oder web based training (WBT), in dem didaktische Anwendungen zusammengefasst werden, die über das Internet genutzt werden. Sämtliche Begriffe erlauben nur eine ungefähre Einordnung. Ei-genschaften, die den einen Begriff definieren, können stets auch Bestandteil des anderen sein: CBT-Anwendungen können z.B. Elemente enthalten, die auf das Internet zugreifen und WBT-Anwendungen müssen nicht ausschließlich über das Internet ausgeführt werden, können z.B. Programme enthalten, die heruntergeladen und offline verwendet werden. Schließlich können CBT- und WBT-Anwendungen mehr oder weniger multimedial aufgebaut sein, können ausschließlich aus Textinformationen bestehen, oder z.B. aus Kombinationen von Text, Ton und (Bewegt-)Bild (vgl. Kerres, 2001, S. 14).
Kammerl (2000) hat weitere, oft synonym verwendete Begriffe aus der Literatur zusam-mengetragen, die hier zur Verdeutlichung der uneinheitlichen Terminologie aufgeführt werden sollen: Computer Aided/Assisted Instruction (CAI), Computer Aided/Assisted Learning (CAL), Computer Aided Teaching (CAT), Computer Based Instruction (CBI), Computer Based Learning/ Computerbasiertes Lernen (CBL), Computer Based Training (CBT), Computerunterstütztes Lernen (CUL), Computerunterstützter Unterricht (CUU) (vgl. S.11).
Im Folgenden werde ich die Begriffe computerbasiertes Lernen (kurz: CBL) oder computerbasierte Lernumgebungen verwenden. Eine Zergliederung dieses allgemeinen Begriffes in weitere Subtypen und Anwendungsformen erfolgt unter Punkt 5.4.
Zusammenfassung:
1. Das Lehr - oder Schulbuch im engeren Sinne ist ein unterrichtsbegleitendes Buch
2. Im Folgenden soll der Begriff Lehrbuch synonym für sämtliche, in Lehr- und Lern-prozessen verwendeten Bücher gelten.
3. Die Terminologie zur Bezeichnung computerbasierter Lernumgebungen ist unein-heitlich und in Folge dessen unübersichtlich.
4. Eine genaue Eingrenzung der Begriffe ist aufgrund der individuellen Auslegung und Verwendung derselben durch Fachautoren schwer zu erreichen.
5. In dieser Arbeit sollen zur allgemeinen Bezeichnung von auf dem Computer erstellten Lerninhalten die Begriffe computerbasiertes Lernen (CBL) oder computerbasierte Lernumgebungen verwendet werden.
3. Medienkritik als Phänomen
Da die Fragestellung dieser Arbeit sich dem Themengebiet der Medienkritik zuord-nen lässt, möchte ich mich in diesem Punkt zuerst allgemein mit der Kritik an Medien aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschäftigen. In Punkt 3.1 soll es um Kritik ge-hen, die am Buch geäußert wurde; denn das Lesen von Büchern, das aus heutiger Sicht grundsätzlich als schützens- und fördernswert gilt, wurde in früheren Zeiten nicht immer begrüßt.
Um zu zeigen, dass die Diskussion über die Verdrängung des Buches durch ein anderes Medium nicht neu ist, soll in Punkt 3.2 exemplarisch die Medienkritik am Fernsehen und dessen Auswirkung auf das Leseverhalten dargestellt werden. Ein Indikator für den sinken-den Stellenwert des Buches wäre eine nachlassende Lesebereitschaft oder -fähigkeit in der Bevölkerung. Ob derartige Anzeichen festzustellen sind, wird unter Punkt 3.3 untersucht. Schließlich soll die medienkritische Praxis selbst hinterfragt werden. Mögliche Motive der Medienkritiker werden unter Punkt 3.4 aufgeführt.
3.1 Kritik am Buch
„Man sagt dem Buch nach, es gehe eine suggestive Kraft von ihm aus. Was im Buch steht, gilt.“ (Kozdon, 1974 S.54)
Die häufigste und immer wiederkehrende Kritik an Medien im Allgemeinen ist auf der Sorge um deren schädliche Wirkungen auf Kinder und Jugendliche begründet. Die Debatte um mögliche Zusammenhänge zwischen Gewalt und Kriminalität von Jugendlichen und entsprechenden Motiven in Medien wird nicht erst seit dem Aufkommen von Videofilmen und Computerspielen geführt. Mit der wachsenden Verfügbarkeit von Büchern und dem Aufkommen entsprechender Literaturgattungen wurden ähnliche Auswirkungen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts befürchtet. Durch die Alphabetisierung großer Bevölkerungs-teile ergab sich eine hohe Nachfrage nach preisgünstigen Büchern. Die Produktion der In-halte richtete sich nicht länger nach den Vorgaben gesellschaftlicher Institutionen, sondern nach der Nachfrage.
"Indiz hierfür sind die sogenannten Groschenromane, kurze Liebes- oder Abenteuerge-schichten, die für einen Groschen angeboten wurden und sich zu Beginn des 20. Jahrhun-derts großer Beliebtheit erfreuten. [...] ´Schmutz und Schundliteratur´ erhielt ebenso rasch wie ungerechtfertigt den Ruf, für die hohe Kriminalitätsrate in den unteren sozialen Schichten mitverantwortlich zu sein" (Busche, 2005, S.13f).
Erste gesetzliche Grundlagen zur Kontrolle von Schriften zum Schutz der Jugend wurden laut Busche (2005) im Jahr 1926 eingeführt (vgl. ebd.). Durch die Möglichkeit der Medien-kontrolle bot sich allerdings auch ein Vorwand für Zensur und Manipulation durch politi-sche Machthaber. So konnte der Jugendschutz auch als Vorwand genutzt werden, uner-wünschte Schriften von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Die Zugangsbeschränkung für Ju-gendliche und damit verbundene Einschränkungen für die Vermarktung derartiger Medien wirkte sich schließlich auf deren Erreichbarkeit für Erwachsene aus (vgl. dies., S. 15f).
Institutionen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor uner-wünschten Medienwirkungen existieren seitdem bis in die heutige Zeit. Neben der staatlichen Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Medien und der Komission für Jugendschutz der Landesmedienanstalten gibt es auch einige private Organisationen wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und die Freiwillige Selbstkontrolle der Multimedia-Dienstanbieter (FSM).
Neben dem Verbot als schädlich angesehener Schriften gab und gibt es zahlreiche Initiati-ven zur Förderung erwünschter und als wertvoll erachteter Publikationen, z.B. die "Buch-empfehlungen für die ersten Lesejahre" (Kippe-Wengler, 2004). Ein anderer Ansatz zum Schutz junger Mediennutzer war und ist die Schulung der Kritikfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, so dass sie unseriöse Inhalte und Manipulationsversuche durch Medien selbst erkennen lernen.
Die Aufmerksamkeit der Medienkritiker richtete sich im späteren Verlauf weg von Büchern und in Richtung anderer, neuerer Medien.
Zusammenfassung:
1. Die sogenannten Groschenromane und andere, als Schmutz- und Schundliteratur bezeichnete Druckerzeugnisse veranlassten An-fang des 20. Jahrhunderts erste Sorgen um deren mögliche, schäd-liche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
2. Erste gesetzliche Grundlagen zum Schutz der Jugend wurden 1926 eingeführt.
3. Der Jugendschutz wurde wiederholt als Vorwand für politische Manipulation und Zensur missbraucht.
4. Bis in die heutige Zeit existieren Organisationen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor schädlichen Medienwirkungen.
5. Neben Verboten gab und gibt es Initiativen zur Empfehlung wert-voller Literatur.
3.2 Die Auswirkungen des Fernsehens auf das Leseverhalten
"Does the medium contribute anything unique to instruction? Research on the various symbol systems employed by different media shows that each medium cultivates a different set of skills" (Johnston, 1987, S. 101).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3.2.A: Neil Postman
URL: http://www.nyu.edu/public.affairs
/releases/detail/990
[Stand: 05.01.07]
Die medienkritische Auseinandersetzung mit diesem Thema erlebte ihren Höhepunkt in den 80er Jahren und ist eng verbunden mit den Namen Neil Postman (siehe Abb. 3.2.A) und Marshal McLuhan. Postman weckte mit seinen Publikationen neben dem wissenschaftlichen auch breites öffentliches Interesse, was neben anderen Grün-den wohl auch auf den eingängigen und leicht nachvoll-ziehbaren Stil seiner Werke zurückzuführen ist.
"Um es klar und deutlich zu sagen: Ich untersuche und beklage in diesem Buch die ein-schneidenste Veränderung, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der amerikanischen Kultur vollzogen hat: den Niedergang des Buchdruck-Zeitalters und den Anbruch des Fernseh-Zeitalters." (Postman, 1985, S. 17)
Postmans Kernaussage ist, dass das vorherrschende Medium seiner Zeit, das Fernsehen, die Art und Weise der Rezeption und kognitiven Verarbeitung aller anderen Medien beein-flusst. Vorstellungen und Gedanken beruhen nicht länger auf Buchinhalten, sondern auf vom Fernsehen transportierten Motiven. Die Konsequenz dieser Annahme ist laut Postman, dass diese veränderte Form der Wahrnehmung einen direkten Einfluss auf die Vorstellung-en von Wirklichkeit und Wahrheit haben (vgl. ders., S. 40f). Dieses hat wiederum einen rückwirkenden Effekt darauf, wie Inhalte aufbereitet und präsentiert werden.
"Ich begnüge mich mit der Feststellung, daß ein wichtiges neuartiges Medium die Dis-kursstruktur verändert, und zwar indem es bestimmte Anwendungsformen des Intellekts fördert, bestimmte Definitionen von Intelligenz und Weisheit bevorzugt und nach einer bestimmten Art von Inhalten verlangt - kurz, indem es neue Formen von Wahrheit und Wahrheitsäußerung hervorbringt" (ders., S.39f).
Für das Fernsehen werden laut Postman sämtliche Inhalte auf einen möglichst hohen Un-terhaltungswert hin bearbeitet. Oberflächlichkeit, Verharmlosung oder Übertreibung sind die Folge (vgl. ders., S. 36). Postman betont, dass das Buch seiner Meinung nach nicht voll-ständig verschwinden wird. Allerdings werde sich die Art und Qualität der Nutzung des-selben stark verändern.(vgl. ders., S. 41)
Den Einfluss des Fernsehens auf Erziehung und Bildung be-treffend führt Postman (1985) das Beispiel der Sesamstraße an und kritisiert, dass derartige Sendungen die Kinder weniger auf die Schule oder das Lesen vorbereiten, als vielmehr das Fernsehen selbst und die Rezeption von des-sen Inhalten. Neben der Beobachtung, dass das Lernen dem
Aspekt der Unterhaltsamkeit untergeordnet wird, führt Postman an, dass über das Fern-sehen weder Sprachentwicklung noch Sozialverhalten gelernt werden kann. Vielmehr stärkt es die Aufmerksamkeit für Bilder und das passive und unhinterfragte Aufnehmen von Inhalten (vgl. S.174ff). Der markante Unterschied zwischen den Fernsehbildern, denen Kinder in ihrer Freizeit ausgesetzt sind, und der erlebten Wirklichkeit im Schulunterricht findet sich auch bei Mc Luhan (1996) wieder:
„There is a world of difference between the modern home environment of integrated elec-tric information and the classroom. Today´s television child is attuned to up-to-the-minute ´adult´news – inflation, rioting, war, taxes, crime, bathing beauties – and is bewildered when he enters the nineteenth-century environment that still characterizes the educational establishment where information is scarce but ordered and structured by fragmented, clas-sified patterns, subjects, and schedules“ (McLuhan/Fiore, S.10).
Die Konkurrenz zwischen Unterrichts- und Unterhaltungsmedien und der im Vergleich zu neueren Medien geringe Erlebniswert des Lehrbuches ist ein ständig wiederkehrendes Mo-tiv und eines der wesentlichen Argumente der Medienkritiker.
Die Schlussfolgerung ist hier, dass die attraktive, bunte und unterhaltsame Erlebniswelt der privat genutzten Medienangebote einen motivierten Umgang mit Lehrmedien verhindern (vgl. Kozdon, 1974, S.120). Entsprechend der Popularität dieser Ansicht existiert eine große Zahl von Studien, die das Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen ermit-teln wollen. Auf einige dieser Untersuchungen soll im folgenden Punkt eingegangen wer-den.
Zusammenfassung:
1. Postman verkündet das Ende des Buchdruck-Zeitalters und den Anbruch des Fernseh-Zeitalters.
2. Das Fernsehen prägt laut Postman die Vorstellungen von Wahr-heit und Wirklichkeit.
3. Für das Fernsehen aufbereitete Inhalte werden Postman zufolge dem Aspekt der Unterhaltsamkeit untergeordnet. Daraus resul-tiert eine Vereinfachung der Wirklichkeitsvorstellungen
4. An den im Fernsehen ausgestrahlten Lernprogrammen wie der Sesamstrasse kritisiert Postman, dass sie Kinder weniger auf die Schule, als vielmehr auf das Fernsehen selbst vorbereiten.
5. Viele Medienkritiker nennen die vielfältigen Medieneinflüsse in der Freizeit von Kindern und Jugendlichen als Problemquelle. Die attraktiven Unterhaltungsangebote werden den altmodischen, ziel- und aufgabenorientierten Lernmedien vorgezogen.
3.3 Lesemüdigkeit
„Deutschlands Lesekultur ist ein Pflegefall. Im ´Land der Dichter und Denker´ zeigen Er-wachsene keine besondere Lust, ihre freie Zeit dem Buch zu widmen, und Kinder, die als Anfänger noch für das Lesen begeistert waren, verlieren die Freude daran mit zunehmendem Alter“ (Harmgarth, 1999, S. 7).
Als Grund für die abnehmende Lesebereitschaft werden verschiedene Faktoren in Betracht gezogen. Einer dieser Gründe ist der funktionale Analphabetismus, der sich laut Hasebrook (1995) in den Industrienationen ausbreitet. Der Begriff umschreibt das Phänomen, dass ei-ne wachsende Zahl von Menschen trotz Schulbesuches nicht in der Lage ist, Druckerzeug-nisse zu Lesen oder sich schriftlich auszudrücken. Für die BRD nennt Hasebrook einen Wert zwischen einem und acht Prozent der Gesamtbevölkerung, die hiervon betroffen sind (vgl. S. 13). Der ungenaue Wert entspricht dem Mangel an exakten Kritierien, ab wann ein Mensch als funktionaler Analphabet zu betrachten ist und dem an entsprechenden Erhe-bungen zu Lese- und Schreibleistungen der erwachsenen Bevölkerung der BRD (vgl. Nickel, 2002, S.3). Die Ursachen für den funktionalen Analphabetismus sind vielfältig. Neben familiären, schulischen und gesellschaftlichen Problemen geht aus Erfahrungs-berichten von Betroffenen hervor, dass sie kaum Erfahrung mit Schrift und Sprache sammeln konnten (ders, S. 5).
Aktuellen Untersuchungen zufolge ist der Anteil der erwachsenen Leser in der Bevölkerung der BRD mit 69% auf den ersten Blick konstant geblieben. Hierbei ist allerdings auf den groben Maßstab des Leserbegriffes zu achten. Als Leser gilt jemand bereits, wenn er in einem Jahr mindestens ein Buch (egal welcher Art und aus welchem Grund) gelesen hat (vgl. Harmgarth, 1999, S. 9). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Anteil der in-tensiv-Nutzer (tägliches lesen), mit 13 % weitaus geringer ausfällt (vgl. dies., S. 13ff). Des Weiteren lässt sich eine Abnahme der regelmäßigen Buchnutzung mit zunehmendem Alter festellen (vgl. dies. S. 18).
Ein häufig anzutreffendes Argument dafür, dass immer weniger gelesen wird, ist die Ange-botsfülle unterschiedlicher Medien und die damit einhergehende Auswahlmöglichkeit (vgl. dies. S. 39). Die Grundannahme ist hier, dass die Mediennutzer den Weg des geringsten Widerstandes gehen, also z.B. zu Unterhaltungszwecken die Medien auswählen, welche ohne großen Aufwand zu rezipieren sind oder besondere Anreize bieten, sich mit diesen auseinander zu setzen. Inhalte, die sich vergleichsweise passiv erschließen lassen (z.B. Fernsehen) oder solche, welche Möglichkeiten der Interaktion bieten (z.B. Computer, In-ternet), würden rein schriftlichen Inhalten vorgezogen. Eine Befragung von Jugendlichen zu Art und Grund ihrer Mediennutzung ergab u.a.:
"Das Bücherlesen erfüllt offenbar eine Vielfalt verschiedener Bedürfnisse, denn in fast al-len abgefragten Situationen greift mindestens ein Drittel der Jugendlichen zum Buch. [...] Die befragten Schüler lesen demnach am ehesten Bücher, wenn sie allein sind (41 Pro-zent) oder sich informieren möchten (36 Prozent). [...]. Klarer Konkurrent für das Buch ist das Fernsehen, das seinen Nutzen ebenfalls in vielen verschiedenen Situationen erweist. Es wird vor allen Dingen eingeschaltet, wenn es nichts besseres zu tun gibt (60 Prozent); außerdem wird es häufig als Informationsquelle genutzt"(Harmgarth, 1999, S. 25f).
Es lassen sich durchaus Vorlieben für Medien in bestimmten Nutzungssituationen ausma-chen. Doch ist Schwarzmalerei mit Blick auf die Konkurrenz zwischen Buch und anderen Medien laut Harmgarth nicht angebracht (vgl. dies., S. 40). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch die JIM-Studie 2006. In dieser seit 1998 jährlich durchgeführten Studie wird ebenfalls das Mediennutzungsverhalten von Jugendlichen erhoben. Für die Buchnutzung wurde ermittelt, dass sich die Zahl der jugendlichen Leser, die mehrmals pro Woche lesen, bei zwei Fünfteln der Befragten stabil gehalten hat. Auch die Abnahme der regelmäßigen Buchlektüre mit zunehmendem Alter lässt sich in dieser Studie bestätigen (vgl. Medienpä-dagogischer Forschungsverbund Südwest, 2006, S. 21). Nahezu alle Jugendlichen kann man der JIM-Studie zufolge zu den Computernutzern zählen. Über vier Fünftel der Befra-gten nutzen den Computer täglich oder mehrmals die Woche. Die Hälfte der Nutzungszeit wird dabei zum Surfen im Internet genutzt, die andere Hälfte wird etwa zu gleichen Teilen auf Spielen und Lernen/Arbeiten verwendet (vgl. ebd. S. 57). Zwar widmen die Jugendli-chen dem neuesten Medium die meiste Aufmerksamkeit, doch scheint dies nicht auf Ko-sten der Buchnutzung zu erfolgen, die sich konstant gehalten hat. Eine Konkurrenz zwi-schen den beiden Medientypen lässt sich daher aus diesen Ergebnissen nicht ableiten.
Zusammenfassung:
1. Für die abnehmende Lesebereitschaft in der Bevölkerung wird u.a. der funktionale Analphabetismus - die Unfähigkeit, trotz Schulbesuchs weder lesen noch schreiben zu können - verantwortlich gemacht.
2. Der Leser-Anteil (liest mind. ein Buch im Jahr) in der BRD ist mit ca. zwei Dritteln der Bevölkerung relativ konstant geblieben.
3. Beiden Studien zum Mediennutzungsverhalten zufolge nimmt mit zunehmendem Alter die Bereitschaft zu lesen ab.
4. Aus den Studien lässt sich ableiten, dass die Buchnutzung Jugendlicher sich - trotz intensiver Nutzung von Computer und Inter-net - auf konstantem Niveau gehalten hat. Eine Konkurrenz zwischen den Medien lässt sich aufgrund dieser Ergebnisse nicht feststellen.
3.4 Kritik an der Medienkritik
"Mit dem Aufkommen eines neuen Massenmediums, welches sich bei Heranwachsenden einer gewissen Beliebtheit erfreut und entsprechende Inhalte, wie z.B. gewalthaltige Schilderungen aufweist, büßt ein älteres Massenmedium an jugendschützerischer Rele-vanz ein" (Busche, 2005, S. 14).
Jede Kritik lässt zumindest Vermutungen darüber zu, welche Intention der jeweilige Kriti-ker gehabt haben könnte. So mögen bestimmte Sorgen, wenn nicht sogar Ängste den An-lass gegeben haben, mögliche negative Entwicklungen anzumahnen.
„Warum findet die kulturkritisch-grundsätzliche Medien-Abwehr, mit welchen Argumenten sie sich auch umgibt, immer wieder so eine große öffentliche Resonanz, die weit über den pädagogischen Raum hinausgeht? Offenbar liegt Angst vor. Medien sind Träger symbolischer Botschaften, die nicht eigentlich ´faßbar` und auch nicht unmittelbar zugänglich sind“ (Baacke, 1997, S.34).
Eine häufig geäußerte Sorge ist zum Beispiel die der Verdummung und Verrohung von Kindern und Jugendlichen, welche die in den Medienbotschaften vermittelten Motive un-reflektiert übernehmen und die Fähigkeit verloren haben zu lernen oder eigenständig zu denken (vgl. Baacke, 1997, S.28). Wie das einleitende Zitat zu diesem Punkt zeigt, scheint diese Sorge und die auf ihr begründete Kritik stets nur den neuesten Medien zu gelten.
"Ob es sich dabei um einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen eines neuen Mediums und der veränderten Einschätzung bereits bekannter Medien handelt oder ob es vielmehr intervenierende Variablen gibt, wie beispielsweise die Wirksamkeit ent-sprechender Kontrollmaßnahmen bei den bereits etablierten Medien, ist bisher nicht näher untersucht worden" (Busche, 2005, S. 14).
Es lässt sich durchaus eine Steigerung in den Darstellungsformen von Gewalt in den ver-schiedenen Medien feststellen: Handelte es sich in Büchern, z.B. Abenteuerromanen anfangs nur um Beschreibungen, kamen mit den Filmen inszenierte und audiovisuell erfassbare Darstellungen von Gewalt auf. Mit Computerspielen können Gewalthandlungen schließ-lich virtuell ausgeführt werden. Eine veränderte Einschätzung gegenüber älteren Medien ließe sich also durchaus nachvollziehen. Auch die große Beliebtheit der neuen Medien unter Jugendlichen (siehe Punkt 3.3) würde eine erhöhte Aufmerksamkeit der Jugendschützer erklären. Ohne die wiederkehrende Debatte über die Beziehung zwischen Medienwirkungen und Gewaltverhalten an dieser Stelle aufgreifen zu wollen, soll hier doch zumindest angemerkt werden, dass mittlerweile kein direkter Zu-sammenhang, sondern ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren, unter anderem der Einfluss des sozialen Umfeldes der Rezipienten in die Betrachtung einbezogen werden muss (vgl. Kunczik, 2000, S. 25).
Eine Kritik von Lehrkräften und Pädagogen an neuen Medien könnte darin begründet sein, dass sie sich den Anforderungen neuer Medien nicht gewachsen fühlen könnten. Selbst, wenn die Lehrenden sich den Herausforderungen im Umgang mit neuen Medien stellen, ist häufig zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche bereits einen großen Wissensvorsprung im Umgang mit diesen besitzen.
„Der Schule wird ohnehin oft genug der Vorwurf gemacht, sie hinke hoffnungslos hinter der gesellschaftlichen und technisch-ökonomischen Entwicklung hinterher. Unsere Kinder wachsen bereits mit so viel Neuem auf, das uns mit Staunen an unsere eigene Jugend zurückblicken läßt. Sie bringen vielem Neuen lebhaftes Interesse entgegen, oft ganz ohne unser Zutun.“ (Kozdon, 1974, S.11, Hervorheb. im Orig.)
Dennoch besteht kein Grund zur Annahme, dass Lehrkräfte weniger als andere dazu in der Lage sind, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Mittlerweile ist der Computer in vielen Teilen der Gesellschaft zu einem alltäglich verwendeten Gegenstand geworden, dessen Ge-brauch – ähnlich wie bei anderen elektronischen Geräten – kulturell vermittelt wird. Wich-tig bei der Nutzung des Computers zum Lehren ist vielmehr die Bereitstellung angemes-sener Software für diesen Zweck (vgl. Lesgold, 1987, S. 44f). Bei der Einführung erster computerbasierter Lernumgebungen wuchs die Sorge vieler Pädagogen, hieß es doch in der Euphorie der Anfangszeit, Lernmaschinen, welche optimal auf die Bedürfnisse der Lernen-den eingestellt würden, könnten in Zukunft die Arbeit eines Lehrers überflüssig machen.
„When this circuit learns your job, what are you going to do?“
(McLuhan/Fiore, 1996, S.20)
Auch, wenn diese Konkurrenzängste mittlerweile schwächer geworden sind und das tat-sächliche Potenzial des Mediums Computer nüchterner eingeschätzt wird, werden nach wie vor viele Erwartungen an das neue Medium gestellt. Damit gelangen wir zur zentralen Fragestellung dieser Arbeit.
„Werden in naher Zukunft Laptops und Internet die Schulbücher ersetzen? Kommuniziert dann der Lehrer immer häufiger per E-Mail oder Online mit seinen Schülerinnen und Schülern? Wie werden neue Lernmedien den Lernort Schule verändern“
(Vollstädt, 2003, S.11)?
Um diese Frage beantworten zu können, werden in den folgenden Punkten Merkmale und Eigenschaften dieser alten und neuen Medien zusammengetragen.
Zusammenfassung:
1. Medienkritik konzentriert sich hauptsächlich auf das jeweils neueste Medium.
2. Häufigste Sorge sind negative Medienwirkungen auf Kinder und Jugendliche. Einfache Schlussfolgerungen sind in diesem Zusam-menhang jedoch nicht angebracht.
3. Kritik von Pädagogen könnte auf Ängste vor hohen Anforderungen durch das Medium oder diverse Konkurrenzängste zurückgeführt wer-den. Aus heutiger Sicht ist dies jedoch unbegründet.
4. Mediennutzung
Baacke (1997) unterscheidet zwischen rezeptiver und interaktiver, also der anwen-denden und der anbietenden Mediennutzung (vgl. S.99). In diesem Punkt möchte ich mich hauptsächlich der rezeptiven Nutzung der Medien Buch und Computer widmen. Hierzu sollen zunächst einige generelle Eigenschaften vorgestellt werden.
"Um Gestaltungsmöglichkeiten von computerbasierten Angeboten – auch im Vergleich zu anderen Medien – bewußtzumachen, bietet es sich an, von Kriterien auszugehen, die generell zur Charakterisierung von Medien herangezogen werden können"
(Tulodzieki, 2000, S.54).
Jene, von Tulodzieki (2000) zusammengestellten Kriterien sollen zum Einstieg in dieses Kapitel kurz erläutert werden: Unter dem Begriff Codierungsart fasst Tulodzieki zusam-men, ob die Art der Darstellung abbildhaft oder symbolisch ist, wobei er abbildhafte noch in realgetreue und schematisch/typisierende und symbolische in verbale und nichtverbale Formen unterteilt. Mit Sinnesmodalität bezeichnet er, welcher Sinneskanal angesprochen wird, wobei Tulodzieki sich auf das Auditive und das Visuelle beschränkt. Daraus ergeben sich die Darstellungsformen, die in Abb. 4.A gezeigt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb 4.A: Verschiedene mediale Darstellungsformen (Tulodzieki, 2000, S.55, Hervorheb. d. KR)
Neben den bereits genannten führt Tulodzieki noch weitere Kriterien an, wie die Ablauf-struktur, also den inhaltlichen und zeitlichen Ablauf des medialen Angebotes. Hier lassen sich u.a. lineare Formen oder durch die Reaktionen der Lernenden gesteuerte (interaktive) Abläufe unterscheiden. Schließlich differenziert er zwischen verschiedenen Gestaltungs-formen der Medien. Anders als bei der Gestaltungstechnik (s.o.) sind hier Formen der in-haltlichen Gestaltung, z.B. Tabellen, Diagramme, Interviews, etc. gemeint (vgl. S. 54ff).
Bei computerbasierten Lernumgebungen lassen sich sämtliche Gestaltungs- und Kombi-nationsformen einsetzen (vgl. ebd.), während im Buch lediglich die statisch-visuellen Co-dierungsarten verwendet werden können (siehe grau hinterlegte Spalte in Abb. 4.A).
Was die Darstellung unterschiedlicher Informationstypen betrifft, sind computerbasierte Lernumgebungen Lehrbüchern also prinzipiell überlegen. Diese Überlegenheit ist jedoch beschränkt, denn einige Informationstypen und deren Kombination eignen sich nur bedingt für pädagogische Einsatzzwecke. Für die Gestaltung multimedialer Lernangebote sollten einige Prinzipien berücksichtigt werden, die unter Punkt 4.3 beschrieben werden.
Vergleichbar sind die beiden Medien nur für die Arten von Inhalt, die in beiden darstellbar sind. Ein wesentlicher inhaltlicher Bestandteil beider Medien sind schriftliche Textinfor-mationen.
"Sprache in ihrer darstellenden Funktion kann eingesetzt werden, um das Verhalten des Lernenden anzuleiten und so jegliche der Bedingungen herstellen, die für die Aktivierung und Unterstützung der inneren Vorgänge nötig sind" (Gagné, 1980, S.281).
So werden im folgenden Punkt Aspekte der Textnutzung zu Lehr- und Lernzwecken mit besonderer Berücksichtigung spezieller Eigenschaften der jeweiligen Medien betrachtet.
4.1 Modelle des Leseprozesses
„The alphabet, for instance, is a technology that is absorbed by the very young child in a completely unconcious manner, by osmosis so to speak.“ (McLuhan/Fiore, 1996, S.8)
Der Vorgang des Lesens erscheint den meisten Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, als Selbstverständlichkeit. Vergleichbar mit dem Fahrradfahren ist das Lesen etwas, dem man nach dem Erlernen keine besondere Aufmerksamkeit mehr widmen muss. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der Leseprozess jedoch als kompliziertes Netzwerk von Abläu-fen und Wirkungszusammenhängen. Wissenschaftler versuchen seit einigen Jahrzehnten unter Laborbedingungen, die Vorgänge während des Lesens zu entschlüsseln. Auch heute gewinnen mit modernsten technischen Hilfsmitteln ausgestattete Forscher immer neue Er-kenntnisse darüber, wie das Lesen funktioniert. Die jeweiligen Ergebnisse dieser Experi-mente führen zur Entwicklung von Modellen des Leseprozesses. Viele dieser Modelle ver-folgen zwar den Anspruch, den gesamten Lesevorgang zu erklären; doch gerade die älteren Ansätze weisen – je nach Zahl und Art der Erkenntnisse, aus denen sie abgeleitet wurden – Unschärfen auf.
Grundsätzlich sind drei Instanzen zu betrachten, deren Zusammenspiel den Vorgang des Leseprozesses umfassen: Die erste Instanz ist der zu lesende Text. Das Erscheinungsbild des Textes kann die Lesbarkeit desselben enorm beeinflussen. Zeichensatz, Schriftgröße, Zeilenabstand und -Länge, Absätze, Wort- und Zeichenabstände sind als Einflussfaktoren auf der gestalterischen Ebene zu sehen. Thema, Wortwahl, Satzlänge, Grammatik und Kohärenz sind inhaltliche Einflussfaktoren. Die zweite Instanz ist das menschliche Auge, in das ein Abbild eines Textausschnittes projiziert wird. Dieses Abbild wird in Nervenimpul-se umgewandelt und zur dritten Instanz, dem Gehirn, weitergeleitet.
Wie eingangs erwähnt existieren verschiedene Modelltypen, die den Leseprozess beschrei-ben sollen. Diese unterscheiden sich vorwiegend in der Art der Annahme, in welcher Reihenfolge die oben beschriebenen Instanzen aktiv werden. Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Modelltypen soll die Entwicklung der Leseprozessmodelle veranschaulichen.
Top-Down Modelle
In den so genannten top-down Modellen wird davon ausgegangen, dass im Gehirn konti-nuierlich Vermutungen über die Bedeutung eines Textes angestellt werden und diese durch den visuellen input entweder bestätigt oder widerlegt werden. Diese Modelltypen wurden stark kritisiert, denn die gemessene Geschwindigkeit der Verarbeitung von Textinformatio-nen steht im Widerspruch zu der Annahme, im Gehirn würden komplexe (und vergleichs-weise langwierige) Operationen zur Erkennung eines Textes durchgeführt. Die Analyse der vom Auge eintreffenden Reize kann wesentlich direkter und schneller stattfinden, als ein auf im Gehirn entwickelten Hypothesen basierender Ablauf (vgl. Stanovich, 1980, S.34f).
Bottom-up Modelle
In den bottom-up Modellen wurde die entgegengesetzte Verarbeitungsrichtung angenom-men. In diesen Modellen geht man davon aus, dass das Textabbild über die Sinneszellen des Auges zum Gehirn gelangt, wo es interpretiert wird. Ein bekanntes Modell dieses Typs ist das Modell nach Gough (1972). Das Modell weist allerdings einige Lücken auf: Während die von außen messbaren Aktivitäten des Auges relativ genau beschrieben wer-den, bedient sich Gough für die Beschreibungen von im Gehirn stattfindenden Prozessen schemenhafter Hilfskonstruktionen wie dem "wunderlichen Mechanismus Merlin" und dem PWSGWTHAU (Place Where Sentences Go, When They Are Understood)(vgl. S.331ff). Bottom-up Modelle weisen einen weiteren Schwachpunkt auf. Sie erklären nicht, wie und warum sich das Vorwissen und die Erfahrung eines Lesers auf dessen Lesefähig-keit auswirken kann, wenn das Gehirn lediglich zur Entschlüsselung eintreffender Reize herangezogen werden sollte.
Interaktive Modelle
Der oben genannte Schwachpunkt kann in interaktiven Modellen behoben werden. Hier wird ein Prozess angenommen, bei dem das Textverständnis sowohl aus vom Auge aufgenommenen Informationen und im Gedächtnis enthaltenem Vorwissen generiert wird. Wie der Name "interaktiv" nahelegt, findet diesem Modell zufolge ein wechselseitiger Pro-zess statt, bei dem die Aktivitäten des Auges vom jeweiligen Stand der Verstehensprozesse im Gehirn geleitet werden und vom Auge die notwendigen Informationen für die weitere Entschlüsselung des Textes bereitgestellt werden können.
"Thus, each level of processing is not merely a data source for higher levels, but instead seeks to synthesize the stimulus based on its own analysis and the constraints imposed by both higher and lower-level processes" (Stanovich, 1980, S. 35).
Ein Beispiel für ein solches Modell ist das interaktiv-kompensatorische Modell von Stanovich (1980), in dem er annimmt, dass schwächere Leistungen auf einer Ebene des Le-seprozesses (z.B. Worterkennung) durch bessere Leistungen auf einer anderen Ebene (z.B. kontextuelle Faktoren) ausgeglichen werden können (vgl. S 35ff).
Nach dieser kurzen Einführung in die Entwicklung der Leseprozessmodelle sollen nun ei-nige Grundbegriffe folgen, die, von den Operationen des Auges beginnend, bis hin zu de-nen des Gehirns, einen Überblick über die Vorgänge beim Lesen bieten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb 4.1.A: Übersicht über Modelle des Leseprozesses
4.1.1 Grundbegriffe des Leseprozesses
Beim Lesen bewegt sich das Auge in sogenannten Sakkaden, raschen, etwa 10-23 Millisekunden andauernden links-rechts Bewegungen in einem Winkel von 1-4 Grad (etwa 10-12 Zeichenräume). Danach er-folgt eine 250 ms andauernde Fixierung, während der ein Abbild ei-nes Textabschnittes auf der Netzhaut erzeugt und zum Gehirn weitergeleitet wird (vgl. Gough, 1972, S.332). Hier zeigt sich, dass Lesen keinesfalls mit einem technischen einlesen (scannen) vergleichbar ist, bei dem sequentiell Buchstabe für Buchstabe und Zeile für Zeile aufgenommen wird. Vielmehr spiegeln die Sakkaden die Verarbeitungsprozesse im Gehirn und von dort ausgehende Steuerungsbefeh-le wieder. Das Gehirn hat bei der Textverarbeitung mehrere Aufgaben zu bewältigen, die sich grob in Decodieren und Verstehen unterteilen lassen.
Der erste Schritt ist die Identifikation von Buchstaben, die anhand einzelner Merkmale der Buchstaben (features) , also Kreisen, Bögen, horizontalen, diagonalen und vertikalen Linien statt-findet. Samuels, LaBerge und Bremer (1978) nehmen zudem an, dass geübte Leser Silben oder ganze Worte in Textabbildern identifizieren könnten, was eine effektivere Leseleistung zur Folge hat (vgl. S.715ff).
Sobald ein Schriftzeichen identifiziert wurde, wird dessen visuelle Repräsentation im Gehirn (Graphem) mit dessen akustischem Äqui-valent (Phonem) im phonologischen Gedächtnis in Verbindung ge-bracht. Das phonologische Gedächtnis stellt hierbei eine Verbin-dung zum semantischen Gedächtnis dar. LaBerge und Samuels halten es für möglich, dass erfahrene Leser den Zwischenschritt vom visuellen über das pho-nologische Gedächtnis, den man als "gedachtes Vorlesen" bezeichnen könnte, nicht benö-tigen, sondern eine direkte Verbindung zum semantischen Gedächtnis herstellen können (vgl. Samuels/Kamil, 2002, S. 204).
An dieser Stelle ist der Übergang vom Decodieren der Textinformation zum eigentlichen Verstehen des Textes. In Modellvorstellungen zum Textverstehen werden mehrere Ge-dächtnistypen angenommen, die jeweils spezielle Aufgaben des Gesamtprozesses überneh-men. So wird zwischen einem Kurzzeit- ( oder Arbeits-) und einem Langzeitgedächtnis un-terschieden. Im Kurzzeitgedächtnis findet die Organisation realtiv kurzer Bedeutungsein-heiten statt. Diese werden, sobald ein Zusammenhang zum bisher Gelesenen hergestellt werden konnte, in das Langzeitgedächtnis übertragen und dort gespeichert (vgl. Frase, 1977, S. 18).
Als weitere Gedächtnistypen sind das semantische und das episodische Gedächtnis zu nen-nen. Das semantische Gedächtnis ist als Netzwerk von Begriffen zu verstehen, in dem das Wissen über die Welt organisiert ist. Die Organisation dieses Netzwerkes besteht jeweils aus einer höheren Klasse (Kategorie), einer Liste von Beispielen und einer von Eigen-schaften, wobei jedes Element dieser Anordnung Bestandteil anderer Einheiten sein kann.
Im episodischen Gedächtnis werden individuelle Erlebnisse und Erfahrungen gespeichert.
Die Informationen, die direkt aus dem gelesenen Text hervorgehen, bilden den expliziten Fokus. Diese bezeichnet man als Propositionen, mentale Repräsentationen der Inhalte, welche im Arbeitsgedächtnis organisiert und an das Langzeitgedächtnis weitergeleitet wer-den.
"Eine Proposition ist eine Bedeutungseinheit, die als Teilstück oder Baustein eines Netz-werks aufgefaßt werden kann. In einer Proposition stiftet ein Relationskonzept, das Prädi-kat, eine Verbindung zwischen einem oder mehreren Gegenstandskonzepten, den Argu-menten [...]" (Ballstaedt et al., 1981, S, 17).
Aus dem Vorwissen des Lesers ergänzte Informationen bilden den impliziten Fokus. Die-ser stellt den eigentlichen Rahmen des Textverständnisses dar. Eine noch so detailreiche Beschreibung, z.B. die einer Autofahrt, weist Lücken auf, die der Leser aus dem eigenen Weltwissen (semantisches Gedächtnis) oder individuellen Erlebnissen und Erfahrungen (episodisches Gedächtnis) ergänzt (vgl. ebd.). Dazu gehören Grundkenntnisse, wie Ver-kehrsregeln oder die Funktion von Gangschaltung und Gaspedal, sowie die Erinnerungen an selbst erlebte Autofahrten. In diesem Zusammenhang wird auch von Schemawissen ge-sprochen. Dieses beeinflusst nicht nur das Verstehen, sondern auch das Behalten von Infor-mationen nachhaltig.
[...]
- Arbeit zitieren
- Diplom-Pädagoge Kai-Daniel Restemeier (Autor:in), 2007, Das Ende des Buches, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80969
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