lasdair MacIntyre ist einer der innovativsten und zugleich populärsten Philosophen der Gegenwart. Im Zentrum seiner zeitkritischen Moralphilosophie steht die Frage, wie wir heute leben sollen. In seinem ebenso brillanten wie Aufsehen erregenden Hauptwerk Verlust der Tugend« (1981) deutet er die Aporien gegenwärtiger Diskussionen über Moral als Ausdruck einer katastrophalen Krise. Die Unfähigkeit unserer Zeit, zentrale moralische Fragen (wie Abtreibung oder Krieg) im Konsens zu lösen, führt er auf das Scheitern der Aufklärung zurück und entwirft – anknüpfend an die Antike – die Perspektive einer neuen, in lokale Gemeinschaften eingelassenen Tugendethik.
In der vorliegenden Arbeit wird das 15. Kapitel „Die Tugenden, die Einheit des menschlichen Lebens und der Begriff von Tradition“ aus Alasdair MacIntyres Text "Der Verlust der Tugend" behandelt. MacIntyre versucht darin zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft nicht in der Lage ist, moralische Urteile zu fällen. In Kapitel 15 will er klären, inwiefern das menschliche Leben als eine narrative Einheit zu verstehen ist. Dabei spielt der Begriff der Tradition eine große Rolle, denn nach MacIntyre ist Tradition eine Orientierungshilfe für das tugendhafte Leben.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Selbst als Einheit einer Erzählung
2.1 Untersuchung des menschlichen Handelns
2.2 Philosophische Hindernisse der Moderne: analytische Tendenz
2.3 Philosophische Hindernisse der Moderne: Soziologische, existentialistische Tendenz
3 Der Begriff des narrativen Selbst
4 Die Tugenden in Beziehung zum guten Leben
5 Der Begriff der Tradition
6 Fazit
1 Einleitung
In der vorliegenden Arbeit wird das 15. Kapitel „Die Tugenden, die Einheit des menschlichen Lebens und der Begriff von Tradition“ aus Alasdair MacIntyres Text Der Verlust der Tugend behandelt. MacIntyre versucht darin zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft nicht in der Lage ist, moralische Urteile zu fällen. In Kapitel 15 will er klären, inwiefern das menschliche Leben als eine narrative Einheit zu verstehen ist. Dabei spielt der Begriff der Tradition eine große Rolle, denn nach MacIntyre ist Tradition eine Orientierungshilfe für das tugendhafte Leben.
2 Das Selbst als Einheit einer Erzählung
„[...]Jedes Stadium in der Entstehung der typisch modernen Sichtweise des moralischen Urteils [wurde] von einem entsprechenden Stadium in der Entstehung der typisch modernen Vorstellung des Selbst begleitet.“[1]
2.1 Untersuchung des menschlichen Handelns
MacIntyre will anhand einer Untersuchung menschlichen Verhaltens und wie wir dieses charakterisieren zeigen, dass, entgegen der modernen Sichtweise, die Vorstellung eines narrativen Selbst in unseren Denk- und Handlungsweisen verankert ist.
Wenn wir nun einen Verhaltensabschnitt einer Person verstehen und erklären möchten, dann fragen wir nach der Intentionen, Erwartungen und Motivationen, denn auf die Frage, was die Person gerade tut, kann man verschiedene und gleichermaßen richtige Antworten geben. Einige Antworten beschreiben die Intention des Handelnden, andere beschreiben die unbeabsichtigten Folgen des Handelns, die dem Handelnden bewusst oder unbewusst sein können.
Durch das folgende Beispiel will MacIntyre belegen, dass es allein durch die Betrachtung bzw. durch die Beschreibung eines bestimmten Segments des Verhaltens nicht möglich ist, die eigentliche oder primäre Intention des Handelnden zu bestimmen: Gegeben sei die Situation, dass ein Mann den Garten umgräbt. Zum Einen könnte seine Intention hierbei sein, den Garten vor Wintereinbruch in Ordnung zu bringen, nebenbei verschafft er sich damit Bewegung und tut seiner Frau einen Gefallen; zum Anderen wäre es möglich, dass es die primäre Intention des Handelnden ist, seiner Frau einen Gefallen zu tun, in dem die anderen Intentionen eingeschlossen sind.
Je nach der zugrunde liegenden Intention sind die Handlungen in einem bestimmten sozialen Rahmen eingebettet, der die Handlung in einen narrativen Kontext setzt. MacIntyre versteht unter dem Begriff des Rahmens eine soziale Umgebung, eine Institution oder auch „Praxis“.[2] Dieser Rahmen setzt das individuelle menschliche Verhalten in kausalen und zeitlichen Bezug und bildet somit den Kontext, vergleichbar mit einer Geschichte, in dem die Episode des Handelns angesiedelt wird.
Die Bestimmung der primären Intention erfolgt durch die Überprüfung der Überzeugungen, d.h., welche Überzeugung ausschlaggebend für die Durchführung der Handlung ist. Anders ausgedrückt muss jede mögliche Antwort überprüft werden; beispielsweise ob der Mann immer noch den Garten umgraben würde, wenn er glauben würde, dass die Arbeit zwar gesunde Bewegung verschaffe, aber seiner Frau nicht mehr gefiele.
Um Verhalten adäquat charakterisieren zu können, ist es also nach MacIntyre notwendig, die eigentliche Intention des Handelnden zu bestimmen, indem man überprüft, in welchem Verhältnis die kurzfristigen zu den langfristigen Intentionen stehen. Die Intention steht wiederum in Beziehung zu dem sozialen Rahmen, der die Intention, sowohl für den Handelnden selbst, als auch für andere verständlich macht.
2.2 Philosophische Hindernisse der Moderne:
analytische Tendenz
Die bisherige Argumentation MacIntyres stützt sich auf die These, dass menschliches Handeln eine Einheit bildet, und zwar in Form einer bestimmten narrativen Geschichte; jede Handlung wird durch die wechselseitige Beziehung zwischen Intentionalem, Sozialem und Historischem bestimmt.[3]
MacIntyres Standpunkt steht der modernen Philosophie und Sozialwissenschaft gegenüber, die seiner Meinung nach durch die Ablehnung einer ganzheitlichen Sicht des Lebens verhindern, dass den Tugenden ein adäquates Telos zugewiesen werden kann. Die Tugenden, von denen MacIntyre spricht, versteht er im aristotelischen Sinne als Dispositionen oder Eigenarten des Charakters, die im Bereich der sozialen Beziehungen zum Tragen kommen. Das Gut dieser Tugenden besteht weder im Genuss noch in äußerlichen Gütern, sondern in den einer Praxis inhärenten Gütern. Das Telos, also das übergeordnete Gut, transzendiere die begrenzten Güter der Praxis, indem es das Gute eines ganzen Menschenlebens darstelle, so MacIntyre.[4]
In diesem Abschnitt des Kapitels geht MacIntyre auf die atomistische Methode der analytischen Philosophie ein, in der Handlungen aus ihrem Kontext abstrahiert und isoliert behandeln werden. Die Vertreter der analytischen Philosophie gehen laut MacIntyre davon aus, dass das menschliche Leben aus einer komplexen Abfolge individueller Handlungen besteht und daher jede Handlung gesondert und unverfälscht für sich untersucht werden kann.
MacIntyre argumentiert dagegen, dass selbst eine Abfolge individueller Handlungen, wie sie zum Beispiel in einem Kochrezept vorkommt, losgelöst von ihrem eigentlichen Kontext nicht verständlich ist. Jedes Element der Abfolge ist als Handlung nur als „ein-mögliches-Element-in-einer-Abfolge“ verständlich.[5]
MacIntyre zufolge ist, das spezifisch Menschliche an einer Handlung die Tatsache, dass die Menschen für ihre Handlungen verantwortlich sind. Sie können für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden, d.h. sie können nach einer verständlichen Erklärung für ihr Handeln gefragt werden.[6]
Auch Sprechakte sind Handlungen, deren Zwecke erst in dem bestimmten Kontext des Gesprächs verständlich werden. Nach MacIntyre, sind sowohl Gespräche im einzelnen wie auch menschliche Handlungen im allgemeinen, dargestellte Erzählungen, die mit der literarischen Gattung des Dramas vergleichbar sind. MacIntyre merkt dazu an, dass wir zwar sowohl die Protagonisten als auch die Autoren unserer Erzählungen sind, unsere Autorschaft ist allerdings im Vergleich zu dem literarischen Pendant begrenzt. Nur in der Fantasie können wir die Geschichte vollkommen nach unseren Vorstellungen und Wünschen leben, in der Realität sind wir beschränkt durch die Geschichten der Anderen, in denen wir ebenfalls vorkommen. Nach MacIntyre entspricht die Art und Weise, in der wir in Geschichten eingebettet sind, der literarischen Gattung der Tragödie.
Seine These, das menschliche Leben sei eine Erzählung, verteidigt MacIntyre gegenüber Louis O. Mink, der der Ansicht ist, das Leben könne nicht in Anfang, Mittelteil und Ende eingeteilt werden. Außerdem könne der Ausgang einer Geschichte und der darin enthaltenen Handlungen und Intentionen nur retrospektiv charakterisiert werden. MacIntyre argumentiert, dass das Leben durchaus in Anfang, Mittelteil und Ende eingeteilt werden könne. Die Geburt stelle den Anfang unserer Lebensgeschichte dar und der Tod deren Ende. Jedoch gesteht MacIntyre Mink zu, dass wahre Aussagen über den Ausgang unserer Geschichten nur rückblickend gemacht werden können. Ob Hoffnungen erfüllt, Ideen zukunftsträchtig oder Kämpfe entscheidend sind, ist also nicht unbedingt ad hoc zu entscheiden, aber dennoch charakterisiere man sie in der Kunst wie im Leben auf diese Weise, so MacIntyre.[7]
Indem wir erfolgreich bestimmen, was ein Anderer tut (also, was dessen Intentionen, Motive und Zwecke sind) verstehen wir seine Handlungen. Wir stellen diese Handlungen als eine Episode menschlichen Handelns in den Kontext mehrerer narrativer Geschichten, sowohl der betroffenen Personen wie auch des Rahmens, in dem sie stattfinden.
MacIntyre schreibt abschließend, dass der Begriff der Verständlichkeit als Bindeglied zwischen dem Begriff der Handlung und dem der Erzählung diene. Somit sei eine Handlung nur als ein Teil in einer Geschichte verständlich, eine isolierte Handlung sei hingegen nur eine irreführende Abstraktion.[8]
[...]
[1] MacIntyre (1995), S. 275
[2] Vgl. MacIntyre (1995), Kapitel 13
[3] Vgl. MacIntyre (1995), S. 279
[4] Vgl. MacIntyre (1995), S. 271 „Das Wesen der Tugenden“
[5] Vgl. MacIntyre (1995), S. 279
[6] Vgl. MacIntyre (1995), S. 280
[7] Vgl. MacIntyre (1995), S. 283
[8] Vgl. MacIntyre (1995), S. 285 f
- Citation du texte
- Nina Reißler (Auteur), 2007, Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend - Die Tugenden, die Einheit des menschlichen Lebens und der Begriff von Tradition, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80673
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