In meiner Arbeit setze ich mich mit den verschiedenen Ansätzen der Moralerziehung (Wertübermittlung, Wertklärung und progressiver Ansatz) auseinander, vergleiche diese miteinander und arbeite ihre philosophischen Grundannahmen heraus. Im weiteren Verlauf wird es um die allen drei Ansätzen gemeinsame Grundsatzfrage nach einer möglichen Letztbegründung gehen und ich untersuche, ob die Frage der Letztbegründung für die Moralerziehung relevant ist und welche Auswirkungen sie auf die einzelnen Ansätze hat. Abschließend geht es um die Spannung zwischen notwendiger Moralerziehung auf der einen und einem großen Wertepluralismus auf der anderen Seite. Brauchen wir eine Erziehung über Moral oder zur Moral? Wie offen kann Moralerziehung sein?
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Wertübermittlung – Der Mensch ist von Natur aus böse
1.1 Wolf unter Wölfen
1.2 Haken und Fallstricke des Wertübermittlungsansatzes
2. Wertklärung - Der Mensch ist von Natur aus gut
2.1 Blumenkinder
2.2 Rousseau – Das Gute im Natürlichen
2.3 Einwände und Anmerkungen zum Wertklärungsansatz
2.4 Suum cuique – Erziehung zur Wertklarheit
3. Zur höchsten Stufe - Der progressive Ansatz der Moralerziehung
3.1 Moralische Urteilsfähigkeit
3.2 Unwissend fair
3.3 Schwierigkeiten und Stärken der Kohlbergschen Moralauffassung
3.4 Ansätze nach Kohlberg
4. Abschließende Überlegungen
4.1 Die Stufentheorie als dialektische Antwort
4.2 Offene Fragen
4.3 Weiter-Denken
5. Literaturverzeichnis
6. Materialien
6.1 Interpretation “Lord Of The Flies”
6.2 Bildungsplan Ethik
6.3 Mut zur Erziehung, 9 Thesen
6.4 Stufenmodell, Tabelle nach Fittkau
Vorwort
Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht gelehrt, sondern geübt? Oder ob weder angeübt noch angelernt, sondern von Natur sie den Menschen innewohnt, oder auf irgendeine andere Art?
(Platon: Menon)
Im Laufe meiner praktischen Ausbildung in verschiedenen Schulen hatte ich mit verschiedenen Lehrern und unterschiedlichen Auffassungen darüber zu tun, wie man den Schülern Werte nahe bringen könnte. In meinen beiden Fächern Deutsch und Ethik, geriet ich in Situationen, die mich nachdenklich zurückließen. Provozierende Stellungnahmen der Schüler zu Fragen der Moral oder Desinteresse an offenkundigen Missständen beklagten auch die FachlehrerInnen. Unterschiedlich waren die Strategien, mit denen die Lehrer diesem Umstand begegneten: Der eine begann Druck auszuüben, die andere verfiel gegen Ende der Stunde in eine Art Moralpredigt, in der sie ihre Auffassung darlegte, wieder andere vermieden lieber Unterrichtsstoff, der mit solchen Problemen behaftet war und überließen das Feld der Ethik fortan lieber dem Familienkreis. All diese Lösungen gefielen mir nicht. Ich belegte aus ganz anderen Gründen ein Seminar über Sexualerziehung und traf hier auf das Problem, das mich während der Praktika beschäftigte: Werte scheinen einer gewissen Relativität zu unterliegen, die ihre Begründung erschwert. Gleichzeitig scheint eine Gesellschaft ohne Werte oder mit fragwürdigen Werten wenig erstrebenswert. Als Ethik-Lehrer möchte ich dazu beitragen, dass die Schüler Werte entwickeln, die die Bezeichnung „Wert“ verdienen. Gleichzeitig kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Werte dies sein sollen. Jede Auswahl ist philosophisch zumindest zweifelhaft.
Die Frage nach der Moralerziehung taucht schon in der Antike auf. Ob Tugend lehrbar sei oder vielleicht angeboren, möchte Menon von Sokrates wissen. Von hier aus entfalten sich in der Ethik zunächst zwei verschiedene Ansätze, mit denen sich die ersten beiden Teile meiner Arbeit beschäftigen werden.
Die Auffassung, dass Moral lehrbar sei und sogar geübt werden müsse, findet sich im Ansatz der Werteübermittlung. Ein festgelegtes Bündel von Tugenden wird von Generation zu Generation weitervermittelt.
Der Gedanke der angeborenen Moral findet sich im Ansatz der Wertklärung wieder. Hier wird dem Erzieher nur die Pflicht auferlegt, die Entfaltung dieser bereits vorhandenen Moral zu ermöglichen, in dem er den Schülern die nötige Freiheit lässt.
Beide Auffassungen halten sich bis heute, müssen sich aber breiter Kritik erwehren. Im dritten Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich mit einer relativ neuen Methode der Moralerziehung, die als eine Art dialektische Antwort auf die beiden alten Theorien verstanden werden kann, vereint sie doch Grundzüge beider Strömungen in einer, um gleichzeitig deren Begrenzung aufzuheben. Ich spreche von der progressiven Moralerziehung nach Kohlberg.
Möchte ich den erhobenen Zeigefinger der Wertübermittler vermeiden, aber dennoch nicht in eine Starre der Hilflosigkeit verfallen, die meine Tätigkeit als Lehrerin darauf beschränkt, die Schüler sich selbst zu überlassen, so komme ich an Kohlberg nicht vorbei.
Meine Arbeit beschränkt sich nicht auf eine bloße Darstellung der drei Ansätze, sondern ist ein Versuch, die philosophischen Ursprünge in meine Überlegungen einzubeziehen. Tatsächlich krankt manche Theorie bereits an ihren Wurzeln und oftmals findet sich in den Ursprüngen bereits ein Ansatz, der zu einer Weiterentwicklung führen kann.
Doch nun genug der einleitenden Worte. Dem historischen Ablauf folgend, beginne ich mit der Wertübermittlung.
1. Wertübermittlung – Der Mensch ist von Natur aus böse
Homo homini lupus est.
(Thomas Hobbes)
Der Ansatz der Wertübermittlung, im nachfolgenden auch der technologische Ansatz genannt, ist wohl der älteste Ansatz der Moralerziehung überhaupt. Wenngleich viele Menschen seine philosophischen Grundannahmen nicht vorbehaltlos teilen würden, findet er noch heute häufig Anwendung, besonders im unreflektierten, spontanen Umgang mit Moral im Alltag.
Das Vorhandensein seiner Denkmuster im täglichen Miteinander werde ich anhand einiger Beispiele deutlich machen und dann ausführen, was der Wertübermittlung wesentlich ist. Im Anschluss daran werde ich mich ihren philosophischen Grundannahmen zuwenden.
Wer schon einmal mit der Straßenbahn oder dem Bus gefahren ist, der kennt sicher die Situationen, in denen sich ältere Menschen lautstark über junge Menschen beschweren. Sie beklagen die scheinbar nicht vorhandenen Manieren und manchmal auch den Verfall der Werte innerhalb der Jugend insgesamt. Der sich in dieser Weise äußernde Mensch vertritt, vermutlich ganz unbewusst, den technologischen Ansatz der Moralerziehung. Er möchte, dass seine eigenen Werte auch von den Jugendlichen als solche angenommen werden. Er versucht die eigenen Werte auf die Jugend zu übertragen oder bedauert, dass dies nicht bereits in der Schule oder im Elternhaus geschehen ist. In unserem Beispiel würde diese moralische Belehrung vielleicht so aussehen: Zu meiner Zeit ist man für einen älteren Menschen noch aufgestanden. Du solltest auch Respekt vor dem Alter zeigen!
Ein zweites Beispiel soll zeigen, dass auch scheinbar liberalere Pädagogen nicht ganz frei vom Einfluss der wertübermittelnden Moralerziehung sind.
In einer Klasse wird ein Mitschüler wegen einer körperlichen Missbildung gehänselt und schikaniert. Die junge Lehrerin ist darüber ganz schockiert und teilt der Klasse mit, dass sie ein solches Verhalten nicht duldet, weil in ihrer Klasse niemand schlecht behandelt werden soll. Zur Unterstreichung ihres Unmuts müssen die Rädelsführer einen Aufsatz zum Thema „Klassengemeinschaft“ verfassen.
Auch in diesem Falle wird versucht, die eigenen Werte auf andere Menschen zu übertragen. Es spielt dabei nur eine sekundäre Rolle, ob diese Werte uns sinnvoll oder nicht sinnvoll erscheinen, ob sie uns sympathisch sind oder eher nicht – entscheidend ist der Versuch der Übertragung dieser Werte auf andere.
So sind selbst die neuen Bildungsstandards für das Fach Ethik nicht frei von einer verzwickten Doppeldeutigkeit. Einerseits möchten wir den Schülern die Kompe-tenzen an die Hand geben, selbstständig moralisch zu urteilen, andererseits haben wir in einem demokratischen Staat bestimmte Zielvorstellungen, zu denen wir die Schüler führen möchten:
Damit ergeben sich folgende didaktische Leitlinien:
- Vermittlung von ethisch relevantem Sachwissen, dessen Bezugspunkt die Lebenswelt der Schüler ist;
- verstehende Erschließung tradierter Wertvorstellungen;
- Reflexion von Möglichkeiten, Sach-, Sinn- und Lebensfragen in Rückbindung an Theorie und Tradition zu klären;
- Einübung folgerichtigen, widerspruchsfreien und begründeten Argumentierens;
- Ausbildung der Fähigkeit zu selbstständigem Denken und der Fähigkeit, dieses im Gespräch zu überprüfen und überprüfen zu lassen;
- Insgesamt; Erziehung zur Nachdenklichkeit, Förderung der moralisch-ethischen Kompetenz.
( aus dem Bildungsplan für das Fach Ethik am Gymnasium)
Die Zielvorstellungen kommen auch im Vorwort zu den Bildungsplänen zum Ausdruck:
5. Schülerinnen und Schüler lernen, dass sie dazu Überzeugungen, Wertvor-stellungen, Maßstäbe brauchen, dass ihnen zusteht, Kritik zu üben, und dass sie Konflikte wagen müssen; sie entwickeln Gelassenheit und Leidenschaft im öffentlichen Streit; sie erfahren, dass es lohnt, „durchzuhalten“ – sie lernen, wann es gut ist, nachzugeben; sie erkennen die der Demokratie zugrunde liegenden schwierigen, aber heilsamen Prinzipien; sie erkennen die Not von Randgruppen, beziehen sie ein, geben ihnen Hilfe.
6. Schülerinnen und Schüler lernen, der Gewalt zu entsagen – der physischen wie der psychischen; sie nehmen die friedens- und sicherheitsgebende Funktion des Rechtes und des staatlichen Gewaltmonopols wahr; sie erfahren die Notwendigkeit und außerordentliche Wirksamkeit der Zivilcourage – oder die Scham darüber, dass sie sie nicht aufgebracht haben.
( aus dem Vorwort zu den Bildungsplänen für Gymnasien in Baden-Württemberg)
Letztlich ist der Bildungsplan von der Hoffnung getragen, die sich bewährenden tradierten Werte auf die Schüler zu übertragen, weil man sie für die Werte hält, die sich aus einem Nachdenken über Moral notwendig ergeben. Man gewährt den Schülern also Denkfreiheit in der Hoffnung, dass die denkenden Schüler zu den richtigen Ergebnissen gelangen. Wir befinden uns hier zumindest in den Grenzbereichen des Ansatzes der Wertübermittlung.
Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich noch ausführlicher auf das Problem eingehen, inwiefern eine Moralerziehung ohne moralische Indoktrination oder moralische Zielvorstellungen überhaupt möglich ist.
Zunächst aber zurück zum Ansatz der Wertübermittlung. In der klassischen Bildung blickt er auf eine lange Tradition zurück und gründet auf der Vorstellung, dass das in einer Kultur gesammelte Wissen und die gesammelten Wertvorstellungen von einer Generation an die folgende weitergegeben werden müssen. (vgl. Oser/Althof 1992, S. 96)
Praktisch erfolgt diese Weitergabe durch Belehrung, Nachahmung, Belohnung, Strafe und Übung. Der technologische Ansatz bedient sich also lerntheoretischer Techniken. Eine klassische negative Verstärkung stellt zum Beispiel die Prügelstrafe dar. Heute wird eher auf Strafarbeiten oder Nachsitzen zurückgegriffen.
Es gibt traditionelle und abstoßend anmutende Verfechter eines solchen Moralunterrichts, aber auch indirektere, moderne Konzepte, die dennoch den gleichen Ansatz vertreten. So wird zum Beispiel das Credo der Disziplin und Vaterlandsliebe in Verbindung mit der Prügelstrafe heute in breiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr auf große Gegenliebe stoßen, wohl aber die wohl formulierten Thesen des Bonner Forums für Erziehung:
„Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung seien pädagogisch obsolet geworden, weil sie sich als politisch missbrauchbar erwiesen haben. In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umständen nötig. Denn ihre Nötigkeit ist nicht systemspezifisch, sondern human begründet.“
(These 3 des bildungspolitischen Kongresses in Bad Godesberg 1978)[1]
In dieser These taucht ein Begriff auf, der für den technologischen Ansatz der Moralerziehung von zentraler Bedeutung ist, der Begriff der Tugend. Tugenden wie z.B. Disziplin, Ordnungsliebe oder Fleiß werden als moralisch wertvoll betrachtet und sollen an die jüngere Generation weitergegeben werden. Das Ziel des Moralunterrichtes besteht in diesem Fall darin, dass möglichst viele Schüler die vorgegebenen Tugenden übernehmen. (vgl. Oser/Althof 1992, S. 97)
Das Kind als solches wird als Tabula Rasa betrachtet, als leeres Gefäß, das mit Bildung und Wertvorstellungen aufgefüllt werden muss, weil es sonst im Naturzustand als wildes, asoziales Wesen sein Dasein fristen müsste. Erst durch Bildung und Moral wird es von der Gesellschaft zum vollwertigen Menschen gemacht.
An dieser Stelle möchte ich kurz zusammenfassen, was dem technologischen Ansatz der Moralerziehung wesentlich ist:
1. Der Mensch wird ohne Moral geboren, er muss Moral erlernen.
2. Die Moral besteht aus tradierten Werten und Tugenden, diese müssen auf die Schüler übertragen werden.
3. Moralunterricht ist für ein soziales Miteinander unabdingbar.
Bevor ich zu einer Problematisierung des technologischen Ansatzes übergehe, steht noch eine tiefer gehende Beschäftigung mit der, dem Ansatz immanenten, philosophischen Grundhaltung aus. Was wäre der Mensch ohne Moralerziehung? Werfen wir einen Blick auf das Menschenbild der Wertübermittlung.
Dem technologischen Ansatz eigen ist die Annahme, dass der Mensch als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Um ein Mitglied der Gesellschaft zu werden, muss er deren Werte übernehmen. Ohne die Gesellschaft und ihre Werte würde der Mensch in seinem Naturzustand verbleiben und wäre für ein soziales Miteinander völlig ungeeignet. Die befürchteten Folgen reichen von einer erhöhten Kriminalitäts-rate bis hin zum totalen Verfall von Kultur und Gesellschaft.
Der viel beklagte Werteverfall in unserer Gesellschaft spricht ureigenste Ängste an und wird in allen politischen Lagern ausgeschlachtet und instrumentalisiert. Sind unsere Ängste vor dem drohenden Chaos berechtigt? Ist der Mensch ein Wilder, der gezähmt werden muss?
In der Philosophiegeschichte blickt die Angst vor dem menschlichen Naturzustand auf eine lange Tradition zurück. Noch heute betrachtet das Christentum das neugeborene Kind als von der Erbsünde bereits behaftet. Eine Rückführung auf den rechten Weg und hin zu Gott muss erst mühsam vollzogen werden. Über gut und böse entscheidet Gott, es sind seine Werte, die auf die Kinder übertragen werden müssen.
Dass die Überwindung des Naturzustandes notwendig erfolgen muss, meint auch Thomas Hobbes. An die Stelle Gottes setzt er den übermächtigen Staat, der den Menschen kontrolliert und ihn davon abhält, über die anderen Menschen herzufallen.
In Hobbes Leviathan möchte ich dem als bedrohlich empfundenen Naturzustand des Menschen auf den Grund gehen und Parallelen zwischen Hobbes` Ruf nach dem übermächtigen Staat und dem Verlangen nach Werteübermittlung mittels normativen Moralunterrichts auf der anderen Seite nachweisen.
1.1 Wolf unter Wölfen
Hobbes gelingt es 1651 mit seinem Leviathan eine Staatstheorie zu erschaffen, die ohne jede metaphysische Fundierung auskommt und dem Staat allein aus Gründen der Zweckmäßigkeit eine Daseinsberechtigung erteilt. Der Staat, Leviathan genannt, ist notwendig um das menschliche Zusammenleben zu regeln und die Menschen davon abzuhalten, sich gegenseitig Gewalt anzutun, denn der Mensch ist allen anderen Menschen in erster Linie ein Wolf, der das eigene Leben und Wohl zu verteidigen sucht. Erst durch den Staat wird der Naturzustand abgeschafft, der laut Hobbes in einem immerwährenden Kriegszustand zwischen den Menschen bestünde. So entsteht ein Staat mit Gesetzen und Einschränkungen der individuellen Freiheiten allein deshalb, weil die Menschen ein Verlangen danach haben „sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden.“ (Hobbes 2003, S. 151)
In Abgrenzung zum christlichen Glauben gibt Hobbes dem absolutistischen Staatskonzept, in dem der König seine Aufgabe von Gottes Gnaden erhielt, ein rein pragmatisches Fundament, das nicht auf die Existenz Gottes und den Glauben daran angewiesen ist. Der Staat erhält seinen Wert nicht von Gott, sondern allein durch seine Zweckmäßigkeit. So revolutionär Hobbes` Staatstheorie in diesem Punkt sein mag, so teilt Hobbes doch weiterhin sein pessimistisches Menschenbild mit der christlichen Tradition. Während das Christentum sich das Elend des Naturzustandes mit dem Mythos um die Vertreibung aus dem Paradies und den Sündenfall erklärt, ergibt sich für Hobbes das Elend des menschlichen Naturzustandes notwendig aus der menschlichen Natur selbst. Beiden Auffassungen gemeinsam ist die Empfindung des Naturzustandes als einen Zustand, der überwunden werden muss, weil er für den Menschen gefährlich, unwürdig, im christlichen Sinne sogar sündig ist.
Im ersten Teil des Leviathan, bestehend aus 16 Kapiteln, zeichnet Hobbes Stück für Stück den Menschen, so wie er ihm erscheint. Der Mensch wird beschrieben als eine Art animalische Maschine, ausgestattet mit seinen Sinnen, Vorstellungskraft, Verstand, der Fähigkeit zu Sprechen und verschiedenen Leidenschaften. Es sind diese Leidenschaften, die über den Einsatz seiner anderen Fähigkeiten bestimmen und sein Tun leiten. So unterscheidet Hobbes zum Beispiel folgendermaßen zwischen Neigung und Abneigung – Neigung meint die Dinge oder Zustände, die der Mensch erreichen will; Abneigung meint die Zustände, die der Mensch zu meiden versucht. (vgl. Hobbes 2003, S. 48f)
Da die Leidenschaften bei allen Menschen verschieden sind und sich fortwährend verändern, kommen die verschiedensten Interessen und Ängste zustande – es gibt allerdings zwei Dinge, in denen alle Menschen übereinstimmen: Sie streben nach Macht und sie möchten Schmerz und Tod vermeiden. Das eine bedingt das andere, denn wer mächtig ist, kann sich vor Schmerz und Entbehrungen schützen.
Hobbes` Menschenbild beinhaltet gerade in dem Punkt der Leidenschaften eine überraschend moderne Auffassung von Individualität:
„Bei der beständigen Veränderung des menschlichen Körpers, die in der Einrichtung desselben gegründet ist, können durchaus nicht ein und dieselben Gegenstände zu allein Zeilen in uns Neigung und Abneigung erzeugen; noch viel weniger können aber alle Menschen nach einem und demselben Ding verlangen.“
(Hobbes 2003, S. 49f)
Da nicht alle Menschen gleich sind, ja nicht mal jeder einzelne Mensch gleich bleibt, sondern sich ständig verändert, könnten die Menschen auch nach ganz unter-schiedlichen Dingen streben. Dies sei auch der Grund, warum die Menschen zu unterschiedlichen Auffassungen darüber gelangen, was gut und was böse sei:
„Gut nennt der Mensch jedweden Gegenstand seiner Neigung, böse aber alles, was er verabscheut (…). Es müssen also die Ausdrücke gut, böse und schlecht nur mit Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; (…).“
(Hobbes 2003, S.50)
Sind nach Hobbes alle moralischen Werte nichts weiter als Ausdrucksformen unserer individuellen Leidenschaften, nicht mehr als subjektive Empfindung ohne jeden Anspruch von Allgemeingültigkeit?
Nach Hobbes kristallisieren sich im Naturzustand dann aber doch einige Dinge heraus, die alle Menschen gemeinsam haben. Wie bereits erwähnt, streben alle Menschen nach Macht:
„Zuvörderst wird also angenommen, daß alle Menschen ihr ganzes Leben hindurch beständig und unausgesetzt eine Macht nach der anderen sich zu verschaffen bemüht sind; nicht darum, weil sie nach einer immer größeren Macht(…) streben, sondern weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.“
(Hobbes 2003, S.90f)
Dieses Streben nach Macht führt nach Hobbes dazu, dass die Menschen sich gegenseitig bekämpfen, wo sie nur können. Teils um ihre Macht zu stärken, teils ganz einfach aus Furcht vor dem, was der andere ihnen antun könnte, wenn sie ihm nicht zuvorkommen.
So besteht der Naturzustand also in einem Kriegszustand, in dem jeder dem anderen schaden will und alle Menschen ständig in Angst und Schrecken leben müssen:
„Die Furcht, von einem andern Schaden zu erleiden, spornt uns an, dem zuvorzukommen oder sich Anhang zu verschaffen; denn ein anderes Mittel, sich Leben und Freiheit zu sichern, gibt es nicht.“
(Hobbes 2003, S. 93)
Ein solches Leben ist nun sicher sehr unbehaglich und aus Furcht und der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden verzichten die Menschen auf die ihnen im Naturzustand eigene Freiheit und schließen sich in einem Staat zusammen, der mittels Gewalt die Ordnung aufrechterhält.
Dies geschieht, weil die Menschen sich mit Hilfe ihrer Vernunft gewisse Naturgesetze erschließen, diese aber ohne eine übergeordnete Gewalt aufgrund der immer wieder durchschlagenden Leidenschaften nicht eingehalten werden können. Für die Einhaltung dieser Naturgesetze tritt nun der Staat mit Gewalt ein:
„Alles, was die natürlichen Gesetze fordern, wie z.B. Gerechtigkeit, Billigkeit und kurz, andern das zu tun, was wir wünschen, daß es uns von andern geschehe, ist, wenn die Furcht vor einer Zwangsmacht wegfällt, den natürlichen Leidenschaften, Zorn, Stolz und den Begierden aller Art, gänzlich zuwider.“
(Hobbes 2003, S.151)
In diesem Textabschnitt fasst Hobbes die zwanzig natürlichen, in Kapitel 15 des Leviathan beschriebenen Gesetze in der Goldenen Regel zusammen.
Zur Einhaltung und Aufrechterhaltung dieses Naturgesetzes bedarf es der staatlichen Gewalt. Ohne diese herrschen wiederum die Leidenschaften und mit ihnen der Kriegszustand.
Mit der Goldenen Regel glaubt Hobbes aber das gefunden zu haben, was er als allgemeingültige Moral bezeichnet – im Unterschied zu dem, was die Menschen subjektiv als gut oder schlecht empfinden mögen, weil es ihren eigenen Interessen förderlich oder hinderlich ist. Freilich haben sie ohne eine übergeordnete Macht und drohende Strafe nicht die Möglichkeit, sich an dieses Naturgesetz zu halten. Ihre eigene Natur steht ihnen im Weg.
Ohne den ordnenden Staat wären sie gefangen in einem Zwiespalt zwischen Leidenschaften auf der einen und dem vernunftbedingten Wissen um ein Miteinander, wie es das Naturgesetz vorgibt, auf der anderen Seite. Der Leviathan ist nach Hobbes der einzige Ausweg aus diesem Dilemma.
Ich komme nun zurück zum Anfang meiner Betrachtungen über Hobbes` Menschenbild. Meine These, dass Hobbes` Ruf nach dem mächtigen Leviathan Parallelen aufweist zu dem Ruf nach einer Übertragung der tradierten Wertvorstellungen auf die nächsten Generationen, hat sich aus mehreren Gründen als haltbar erwiesen:
1. Im Naturzustand belassen, befände sich der Mensch im kriegerischen Chaos und im moralischen Niemandsland.
Dies ist sicher eine These, die die Anhänger der Wertübermittlung akzeptieren würden. Sie betrachten den Menschen zwar zunächst als Tabula Rasa, gehen aber davon aus, dass er ohne Erziehung zur Moral und ohne vermittelte Werte der Unmoral verfallen würde. Die Angst, dass der Wertewandel zu einer erhöhten Kriminalitätsrate führen könnte, deutet darauf hin, dass Hobbes` Vorstellung vom Naturzustand hier im Wesentlichen geteilt wird.
2. Um die Ordnung aufrechterhalten zu können, bedarf es Vorschriften und Gesetze, deren Nichteinhaltung bestraft wird.
In meiner Einleitung zum technologischen Ansatz der Moralerziehung hatte ich beschrieben, dass in der konkreten Erziehungspraxis mit lerntheoretischen Methoden gearbeitet wird. Wer trotz der Belehrungen gegen die guten Sitten verstößt oder sich nicht an moralische Gesetze hält, gegen den können Sanktionen verhangen werden.
3. Der Mensch lässt sich von seinen Leidenschaften leiten und kann in diesem Zustand nicht zwischen gut und böse unterscheiden.
Genau aus diesem Grund muss ihm der Unterschied zwischen richtig und falsch beigebracht und auf die Aufrechterhaltung dieser Werte bestanden werden. Die traditionellen Werte haben sich über Jahrzehnte hinweg bewährt und stehen somit über dem subjektiven Moralempfinden des Einzelnen. Zu Erinnerung und Unterstreichung hier noch eine These des Bonner Forums für Erziehung:
„Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Schule könne Kinder lehren, glücklich zu werden, indem sie sie ermuntert, >Glücksansprüche< zu stellen. – In Wahrheit hintertreibt die Schule damit das Glück der Kinder und neurotisiert sie. Denn Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen, sondern stellt im Tun des Rechten sich ein.“
(These 2 des bildungspolitischen Kongresses in Bad Godesberg 1978)
Was dieses „Rechte“ denn sei, was zu tun ist, das wissen die Herren genau, denn es ist das, was sich in ihren Augen bereits bewährt und zur gesellschaftlichen Ordnung beigetragen hat. An dieser Stelle führt uns die Argumentation in problematische Gewässer, in die ich im nächsten Abschnitt meiner Arbeit ausführlich eintauchen möchte.
1.2 Haken und Fallstricke des Werteübermittlungsansatzes
1. Tradierte Werte einer Kultur sind nicht unbedingt Werte, die unverändert von einer Generation in die nächste übernommen werden sollten. Vor allen Dingen wäre auch die Frage klärenswert, ob demnach jede Kultur eigene Werte haben soll oder ob es Werte gibt, die kulturübergreifend sind. Geht man davon aus, dass jede Kultur ihre eigenen Werte hat, dann stellt sich rasch die Frage, wie man mit einer Mischung von Kulturen umgehen will. Möchte man die eigenen Werte auch auf andere Kulturen übertragen oder stellt man sich dem Zusammenleben in einem Land, in dem mehrere Wertsysteme nebeneinander existieren? Spätestens beim Rechtssystem muss eine Einigung erfolgen, denn es kann nur ein Recht für alle geben.
2. Gesellschaftliche Veränderungen machen auch Veränderungen in der bürgerlichen Moral notwendig. Der Prozess der stetigen Veränderung macht ein Festhalten an rein traditionellen Werten unmöglich. Mir ist klar, dass viele die Veränderungen innerhalb der Gesellschaft dem Werteverfall zuschreiben, allerdings wird dabei außer Acht gelassen, dass die Lebensumstände sich faktisch verändert haben, angefangen von der Wohnsituation bis hin zum Arbeitsmarkt. Mag manch einer diese Veränderungen auch bedauernswert finden, so lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen.
3. Wenn die einzige Begründung für Werte und Normen in der kulturellen Tradition besteht, dann erliegt der Ansatz dem naturalistischen Fehlschluss - nur weil die Moral immer so war, heißt das nicht, dass sie immer so sein muss. Die Beschneidung von Frauen hat in einigen afrikanischen Ländern viele Jahrhunderte lang Tradition, das reicht aber nicht als Begründung für ihre Aufrechterhaltung. Viele traditionelle Werte müssen sogar hinterfragt werden.
4. Auch eine Zweck-Mittel-Rechnung ist in Bezug auf die Moral fragwürdig. So genannte Lernerfolge sind keine Garantie für ein echtes moralisches Bewusstsein. Die Gefahr der Doppelmoral ist beim Wertübermittlungsansatz meiner Meinung deshalb besonders groß, weil die Schüler rasch wissen, worum es dem Lehrer geht. Lippenbekenntnisse sind die Folge. Moralische Erkenntnisse sind kein Lernstoff im klassischen Sinne, sie müssen erfahren und verstanden werden, erst dann können sie das Handeln bestimmen. So kann jeder Schüler einen Tugendkatalog auswendig lernen, das heißt aber nicht, dass er dann diesen Tugenden entsprechend handelt. (vgl. Oser/ Althof, S. 99)
5. Die Festlegung des Tugend- und Wertekanons muss sich als schwierig, wenn nicht als unlösbar erweisen. Die Tradition versagt als alleinige Begründung von Werten. Am Beispiel der vom Bonner Forum für Erziehung vorgetragenen Tugenden Fleiß, Disziplin und Ordnung wird dies deutlich. Werden diese Tugenden vermittelt, ohne den Schülern gleichzeitig auch den nötigen moralischen Überbau oder die Fähigkeit dazu vermittelt, sich diesen selbst herzustellen, dann sind diese Tugenden wertlos und in der Tat politisch missbrauchbar. Gleichzeitig verblasst die Wichtigkeit dieser Tugenden im Vergleich zu anderen Werten, die in der Wertepyramide weit über solchen Tugenden anzusiedeln sind.[2] So waren während des zweiten Weltkrieges sehr viele tugendhafte Offiziere nicht dazu in der Lage, den moralischen Morast zu erkennen, in den sie geführt worden waren. Der technologische Ansatz bietet keine angemessene Antwort auf die Frage nach der Relativität seiner Tugendkataloge.
6. Unterzieht man Kinder einer solchermaßen ausgerichteten Moralerziehung, dann erhält man als Produkt keine mündigen Bürger, sondern auf bestimmte Tugenden gedrillte Menschen, die sich problemlos in ethisch fragwürdige Systeme integrieren und von diesen instrumentalisieren lassen. Nach dem Kohlbergschen Stufenmodell würden die Zöglinge auf der untersten moralischen Stufe verbleiben können und trotzdem moralische Lernerfolge im Sinne des technologischen Ansatzes vorweisen können. Eine wirkliche moralische Entwicklung wird nicht gefördert. Man könnte sogar vermuten, dass sich auch die Verfechter des technologischen Ansatzes auf eher niedrigen Stufen der moralischen Kompetenz bewegen, wenn ihr Menschenbild die Vermittlung eines Tugendkataloges als sinnvollen Weg der Moralerziehung zulässt. Setzt man die Priorität nicht auf die moralische Kompetenz der einzelnen Menschen, sondern auf deren unreflektierte Funktionalität in der Gesellschaft, dann nimmt man zwangsläufig Indoktrination vor.
7. Der technologische Ansatz misst dem Individuum und seiner Entwicklung wenig Bedeutung bei. Die Erhaltung der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen steht im Vordergrund. Eine Gesellschaft funktionierender, aber unmündiger Menschen ist leicht lenkbar und somit anfällig für totalitäre Staatsmodelle. Der technologische Ansatz der Moralerziehung fördert in letzter Konsequenz die Gefahr totalitärer Gesellschaftsstrukturen.
[...]
[1] siehe Materialien im Anhang
[2] Höffe kreiert 1984 eine dreistufige Wertepyramide. Die vom Bonner Forum hervorgehobenen Tugenden wären in seinem Modell auf der untersten Stufe anzusiedeln, der Stufe der instrumentalen und funktionalen Werte. Wichtiger sind dagegen die Werte der dritten Stufe, wie z.B. Toleranz oder Gerechtigkeit. Es wird darauf hingewiesen, dass Sekundärtugenden häufig zu Unrecht absolut gesetzt werden und so die wirklich wichtigen sittlichen Werte und Normen vernachlässigt werden.
(vgl. Oser/Althof 1992, S. 30)
- Citar trabajo
- Nicole Geilen (Autor), 2005, Moral mit und ohne Zeigefinger - Konzepte von Moralerziehung und ihre philosophischen Grundannahmen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80306
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