Die Arbeit untersucht und vergleicht die Minderheitenpolitik in Australien und Neuseeland auf verschiedenen Ebenen. Nach einer Einführung in die historischen Entwicklung der Politik gegenüber den Aborigines (Australien) und Maori (Neuseeland) und der Beschreibung der heutigen Situation der beiden Minderheiten, werden Variablen herausgearbeitet, die die Minderheitenpolitik in beiden Ländern bestimmen oder bestimmt haben. Nach einem Exkurs zum Thema "Minderheitenrechte" wird die Eingangsfrage nach der Entwicklung der australischen Minderheitenpolitik beantwortet.
Inhalt
Abkürzungen
Einleitung
I. Historische Einführung
1. Sozio-kulturelle Unterschiede
2. Perzeption durch die Briten
3. Geografische Ausdehnung
4. Krieg – Massaker – Vertreibung
II. Phasen der Minderheitenpolitiken: Von Assimilation zu Bikulturalismus
1. Assimilationspolitik
2. Integrationspolitik
3. Tu Tangata – Entwicklung und Stärkung der Maori
4. Te Urupare Rangapu – Responsive Partnerschaft
III. Die Aborigine- und Maori-Population heute
1. Lebensbedingungen
2. Landrechte
2.1 National Native Title Tribunal (NNTT)
2.2 Maori Land Court (MLC) und Waitangi Tribunal (WT)
2.3 Landrechte und Souveränität
3. Repräsentation
4. John Howard und die reconciliation -Debatte
IV. Determinanten der Minderheitenpolitiken in Australien und Neuseeland
1. Politisch-institutionelle Variablen
1.1 Konstitutionelles Setting
1.2 Verfassungsgerichte
2. Parteiendifferenz-Theorie
3. Geografische und sozio-kulturelle Variable
4. Vertrag zwischen Siedlern und Ureinwohnern
V. Exkurs: Liberalismus vs. Kommunitarismus – Individualrechte vs. Gruppenrechte
VI. Australien auf dem Weg zum Bikulturalismus?
1. Bikulturalismus in Neuseeland
2. Zukünftige Perspektiven der australischen Minderheitenpolitik
Schluss
Appendices
1. Te Tiriti o Waitangi / Der Vertrag von Waitangi
2. Australian Declaration Towards Reconciliation
3. Roadmap for Reconciliation
Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
In jüngster Vergangenheit haben zwei Kinofilme, die sich mit den Ureinwohnern Australiens und Neuseelands beschäftigen, in Europa für Aufmerksamkeit gesorgt – zumindest in den Feuilletons. The Long Walk Home erzählt von den Stolen Generations, von Aborigines, die als Kinder von ihren Familien getrennt wurden, um in Heimen oder in weißen Pflegefamilien aufzuwachsen. Diese Maßnahme war offizielle australische Regierungspolitik, die bis in die sechziger Jahre praktiziert wurde. Whale Rider beschäftigt sich mit den Problemen der neuseeländischen Maori im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Dieses neu erwachte Interesse will diese Arbeit aufgreifen und sich auf der politikwissenschaftlichen Ebene mit den Beziehungen zwischen der indigenen Minderheit und der von europäischen Kolonisten abstammenden weißen Mehrheit in den beiden Ländern beschäftigen.
Wenn die neuseeländische Rugby-Nationalmannschaft – und neuerdings auch das Basketballteam – zu ihren Spielen antreten, führen die Spieler vor Beginn der Partie einen Kriegstanz der Maori auf. Bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney entzündete mit Cathy Freeman eine Aborigine das olympische Feuer. Zwei Beispiele für gelungene Integration, Repräsentation und Akzeptanz der nationalen Minderheiten in beiden Ländern? Oder nur öffentlichkeitswirksame Kosmetik von Missständen im Umgang mit den Ureinwohnern? Um zum Kern der Problematik des Zusammenlebens der beiden Ethnien in Australien und Neuseeland vorzudringen, ist eine Analyse der Minderheitenpolitiken in beiden Ländern von Nöten. Dies soll die Grundlage dieser Arbeit bilden. Ich möchte die Faktoren untersuchen, die zum Ist-Zustand in beiden Ländern geführt haben und die Entwicklung der Minderheitenpolitiken vor dem Hintergrund unterschiedlicher institutioneller Settings analysieren. Dabei sollen zunächst Instrumente aus der vergleichenden Policy-Forschung zum Einsatz kommen. Es sollen Variablen herausgearbeitet werden, die die Entwicklung der Minderheitenpolitik beeinflusst haben. In einem zweiten Schritt möchte ich mich der Diskussion um die Gewährung von Gruppenrechten für indigene Minderheiten widmen, die sich auf einer normativ-moraltheoretischen Ebene abspielt. Die auf den beiden Ebenen gewonnenen Erkenntnisse sollen zum Abschluss in eine Prognose über die zukünftigen Perspektiven der australischen Minderheitenpolitik einfließen.
Damit soll die Arbeit zunächst einen Beitrag zur vergleichenden Policy-Forschung leisten. Das Feld der Minderheitenpolitik ist allgemein ein in der europäischen Forschungsliteratur eher weniger gewürdigter Untersuchungsgegenstand. Die meisten Arbeiten bewegen sich hier im Bereich der Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatspolitik (vergl. beispielhaft Dye 1977, Schmidt 1988a, 1988b, Merkel 1993, Borchert 1995, Castles 1998). Dementsprechend wurden auch die meisten Theorien und Untersuchungsinstrumente im Kontext dieser Politikfelder entwickelt. Der Vergleich von Minderheitenpolitiken eröffnet somit eine neue Perspektive und es wird besonders von Interesse sein, einige Ansätze der vergleichenden Policy-Forschung in einem neuen Untersuchungsbereich auf ihre Erklärungsfähigkeit hin zu überprüfen. Die politischen Systeme Australiens und Neuseelands werden zwar besonders in den letzten Jahren in einigen vergleichenden Werken und Fallstudien behandelt (Kaiser 2000, 2002, Knorr 1997, Richter 1999), deren Minderheitenpolitik findet jedoch allenfalls am Rande Beachtung. Aus diesem Grund verspricht eine Analyse dieses Politikfeldes aus „nicht-ozeanischer“ Perspektive fruchtbare Ergebnisse zu liefern.
Durch die Einbeziehung einer zweiten, normativ-moraltheoretischen Analyseebene kann die Arbeit weiterhin zur aktuellen Debatte um Multikulturalismus und Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft beitragen und hier vor allem zur Diskussion um das Verhältnis von Siedlernationen wie Australien und Neuseeland zu ihren indigenen Minderheiten im Zusammenhang mit in der Vergangenheit zugefügten Ungerechtigkeiten und den heute daraus entstehenden Herausforderungen.
Untersuchungsgegenstand
Als Untersuchungsgegenstand dient die Minderheitenpolitik der beiden Länder. Die Analyse dieses spezifischen Politikfeldes bereitet zunächst Probleme, da es sich nicht eindeutig von anderen Portfolios abgrenzen lässt wie dies bei Analysen etwa der Wohlfahrtsstaatspolitik möglich ist, die sich doch zum größten Teil mit dem Ressort Soziales auseinandersetzen. Minderheitenpolitik ist vielmehr ein Überbegriff für Maßnahmen, die sich über nahezu die gesamte Palette der Zuständigkeiten eines Kabinetts erstrecken, entsprechend den Lebensbereichen, in denen sich die Adressaten der Politik, im vorliegenden Fall also Aborigines und Maori, zunächst wie jeder andere Staatsbürger bewegen. Diese Palette beinhaltet unter anderem Bereiche wie Gesundheit, Wohnungsbau, Jugend, Familie, Soziales, Fischerei- oder Justizangelegenheiten. Zwar gibt es sowohl in Australien wie auch in Neuseeland Ministerien, die sich entweder ausschließlich dem Feld der Minderheitenpolitik widmen (Neuseeland) oder es als Teil ihres Portfolios führen (Australien), organisatorisch ist es jedoch nicht möglich, die Leistungen speziell für die indigene Minderheit aus den Fachministerien herauszulösen und in einem Haus zu bündeln. Vielmehr ist vor allem in Neuseeland in den letzten Jahrzehnten ein Trend in umgekehrter Richtung zu erkennen.
Somit muss sich die Analyse der Minderheitenpolitik auf einige Kernbereiche beschränken. Im vorliegenden Fall sind dies Landrechte, verbunden mit dem Komplex der Forderungen nach mehr Souveränität, die Repräsentation der Ureinwohner im politischen System sowie, begrenzt auf den australischen Fall, die reconciliation -Debatte. In diesen Bereichen haben sich einerseits in den letzten 30 Jahren die heftigsten Umwälzungen ereignet, die die öffentliche Diskussion bis heute beeinflussen, andererseits lassen sich an ihnen beispielhaft wesentliche Unterschiede in den Politikansätzen der beiden Länder herausarbeiten. Der reconciliation-Komplex wurde mit in die Analyse aufgenommen, da der Verlauf dieser Diskussion die Zukunft der australischen Minderheitenpolitik entscheidend beeinflussen wird.
Die Einschränkung auf die Gruppe der Ureinwohner als Adressaten der Minderheitenpolitik erfolgt bewusst, da hier in beiden Ländern identische Ausgangsbedingungen herrschen, nämlich das Vorhandensein einer Population vor Besiedlung des Kontinents beziehungsweise der Inseln. Da die spätere Zuwanderung anderer Volksgruppen unterschiedlich verlaufen ist, ergibt sich hierbei ein sehr viel heterogeneres Bild, was eine Analyse deutlich erschweren würde. Zur Terminologie sei noch erwähnt, dass neben der expliziten Benennung als „Aborigines“ und „Maori“ die Begriffe „indigene Minderheit“ und „Ureinwohner“ synonym verwendet werden. Darüber hinaus schließt der Terminus „Aborigines“ im australischen Kontext grundsätzlich die zweite indigene Minderheit der Torres Strait Islander mit ein. Wird nur auf eine der beiden Gruppen Bezug genommen, ist dies explizit erklärt. Im Fall Neuseeland bilden die Maori die einzige indigene Minderheit.
Fallauswahl
Australien und Neuseeland wurden ausgewählt, weil die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – sowohl in historischer Perspektive als auch in der Gegenwart –, unter denen sich die Minderheitenpolitiken entwickelten und weiter entwickeln, in beiden Ländern sehr ähnlich sind. Beide Staaten teilen die Geschichte als englische Kronkolonien, beide sind traditionell Einwanderungsländer, haben also neben der indigenen noch weitere Minderheiten in ihren Gesellschaften und nicht zuletzt sind beide „westliche“ OECD-Staaten in gleicher geopolitischer Lage.
Trotz dieser ähnlichen Ausgangsbedingungen scheinen die Minderheitenpolitiken in Australien und Neuseeland auf den ersten Blick unterschiedliche Entwicklungen genommen zu haben. Eine erste überblickhafte Analyse des Ist-Zustandes in beiden Ländern lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Maori wesentlich besser in Gesellschaft und Politik integriert sind als die Aborigines. Dies lässt sich nicht nur an vielen symbolischen Dingen wie etwa der Verwendung der Maori-Sprache im Alltag, der doppelten Benennung von Ministerien in Englisch und Maori oder den oben beschriebenen Ritualen von Sportmannschaften ablesen. Im Zuge der allgemeinen Devolution der neuseeländischen Verwaltung haben die Stammesgemeinschaften ein hohes Maß an lokaler Selbstverwaltung erhalten, mit der Mana Motuhake und dem Mana Maori Movement gibt es gleich zwei, wenn auch kleine, Parteien, die sich explizit für die Belange der nationalen Minderheit einsetzen. Die Exekutive setzt klar und über Parteigrenzen hinweg auf das Bekenntnis des Bikulturalismus. Besonders der 1840 zwischen den Stammeshäuptlingen der Maori und den britischen Siedlern geschlossene Vertrag von Waitangi genießt mittlerweile ein besondere Bedeutung als „central unifying force, providing a cultural frame of reference for renewal of Maori-state relations along lines of partnership and power-sharing“ (Fleras/Elliott 1996: 218) und besitzt quasi Verfassungsrang. Australien setzt zwar ebenso auf lokale Selbstverwaltung, doch sind hier die Strukturen weit weniger ausgeprägt als in Neuseeland, vor allem aufgrund der unübersichtlichen Zuständigkeiten zwischen der Bundesregierung und den Einzelstaaten (vergl. Robbins/Summers 1997: 517ff.). Spezielle Aborigine-Parteien oder ein dem Vertrag von Waitangi ähnliches Dokument gibt es nicht.
Zu erklären ist dieser unterschiedliche Verlauf und Ist-Zustand bei doch eigentlich gleichen Ausgangsbedingungen zu einem nicht geringen Teil mit den wesentlichen Unterschieden beider Länder im Bezug auf den Staatsaufbau und somit das politisch-institutionelle Setting. Während Australien ein föderales System mit einem Zwei-Kammer-Parlament darstellt, besitzt Neuseeland einen zentralistischen Staatsaufbau mit nur einer Kammer. Dies ist entscheidend für die Größe der Handlungskorridore, innerhalb denen die jeweiligen Regierungen ihre Policies formulieren, durchsetzen und implementieren können. Charakteristisch für Neuseeland ist grundsätzlich die Fähigkeit der Exekutive, in Krisensituationen einschneidende Politikwechsel relativ schnell durchzuführen. Dies gelang einmal bei der Restrukturierung des Wirtschafts- und Sozialsystems in den 80er und 90er Jahren und zum zweiten bei der Reform des Wahlsystems, die mit dem Bericht der Royal Commission on the Electoral System 1986 ihren Anfang nahm und mit dem positiven Referendum zugunsten des Mixed-Member-Proportional -Systems 1993 seinen formalen Abschluss fand. Entsprechend konnte das politische System auch auf den Druck der Maori-Interessengruppen reagieren und so Politiken zu deren Besserstellung formulieren und verabschieden. In Australien sind radikale Kurswechsel in dieser Form bisher nicht aufgetreten. Dafür sorgt das System der Checks and Balances zwischen dem House of Representatives und dem Senat. Da in beiden Häusern meist unterschiedliche Mehrheiten herrschen beziehungsweise unabhängige Senatoren oder die Vertreter der kleinen Parteien die Balance of Power halten, ist die Regierung viel stärker auf Konsensfindung angewiesen, um ihre Politiken durchsetzen zu können.[1]
So könnte man zu dem Schluss kommen, dass die unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen für eine unterschiedliche Entwicklung der Minderheitenpolitiken geführt haben. Betrachtet man jedoch die historische Dimension genauer, so fällt auf, dass die einzelnen Phasen der Beziehungen zwischen nationaler Minderheit und Staat in beiden Ländern sehr ähnlich klassifiziert werden können. So wird in der Literatur zunächst von einer Phase der Kriege beziehungsweise Massaker gesprochen. Daran schließt sich eine Phase an, in der durch eine Politik der Assimilation versucht wurde, die nationalen Minderheiten langsam „aussterben“ und in der weißen Gesellschaft aufgehen zu lassen. Darauf folgt die Phase der Integrationspolitik, in der die eigene Identität der nationalen Minderheiten anerkannt und auf das Ziel des Miteinanders der beiden Kulturen hingearbeitet wurde (vergl. Fleras/Elliott 1996: 180ff. und Strohscheidt 1996: 108ff.). Interessant hierbei ist, dass Australien bei der Einteilung der Phasen seinem Nachbarn Neuseeland „hinterherhinkt“. Während in Australien die Phase der Integrationspolitik seit den 70er Jahren andauert, kann in Neuseeland ein weiteres Voranschreiten der Entwicklung festgestellt werden. Ab 1972 begann der Übergang zu der Phase der „Entwicklung und Stärkung“ der indigenen Minderheit, die in der Tu Tangata (engl. Stand Tall)-Politik 1978 ihren Ausdruck fand und die Transition zu einer Ideologie des Bikulturalismus einläutete (vergl. Williams 2001: 100ff., Fleras/Elliott 1996: 183ff.). Von 1988 an kann eine erneute Weiterentwicklung der Minderheitenpolitik und der Beginn der Phase der Responsiven Partnerschaft (Te Urupare Rangapu, engl. Partnership Response) beobachtet werden (vergl. Williams 2001: 107, Fleras/Elliott 1996: 185 ff.).
Fragestellung
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wie sich die Minderheitenpolitik in Australien in der Zukunft entwickeln wird. Wird der fünfte Kontinent wie in der Vergangenheit auch, nur mit der üblichen „Verspätung“, dem Nachbarn Neuseeland auf dem Weg hin zum Bikulturalismus nachfolgen oder bildet sich eine spezifisch australische Konzeption in den Beziehungen zwischen Aborigines und der weißen Mehrheit in Politik und Gesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst die Variablen bestimmt werden, die die Entwicklung der Minderheitenpolitik in den beiden Ländern beeinflusst haben. In einem ersten Schritt soll nach dem Einfluss der konstitutionellen und institutionellen Settings auf die Formulierung, Durchsetzung und Implementation von Policies im Allgemeinen gefragt werden, gleichzeitig sollen Faktoren herausgearbeitet werden, die ausschließlich auf dem Gebiet der Minderheitenpolitik zum tragen kommen. In einem zweiten Schritt möchte ich die Problematik der Minderheitenpolitik auf eine höhere Abstraktionsebene heben und mich der Diskussion um die Gewährung von Gruppenrechten für (indigene) Minderheiten widmen. Hier soll gefragt werden, inwiefern bestimmte philosophisch-theoretische Konzeptionen sich in der neuseeländischen Doktrin des Bikulturalismus wiederfinden und welche Schlüsse daraus für die Prognose im australischen Fall gezogen werden können. Diese Erkenntnisse bilden zusammen mit der Analyse von aktuellen Policy-Dokumenten der beiden relevanten Parteien in Australien die Grundlage für einen Ausblick auf mögliche zukünftige Szenarien der Minderheitenpolitik auf dem fünften Kontinent.
Methodologie/Vorgehensweise
Es soll vergleichend vorgegangen werden. Hierbei wird dem historisch-empirischen Ansatz folgend eine induktive Herangehensweise gewählt. Entsprechend soll in den ersten drei Kapiteln der Arbeit ein detaillierterer Überblick sowohl über die historische Entwicklung der Minderheitenpolitik als auch deren heutigen Stand in den für die Untersuchung ausgewählten Bereichen gegeben werden. Kapitel I geht zunächst auf die Frühphase der Kolonisation ein. Ein tieferes Verständnis dieses Abschnitts der Geschichte beider Länder ist von großer Wichtigkeit, da just in dieser Zeit bereits wichtige Weichenstellungen für die Entwicklung der Minderheitenpolitiken getätigt wurden, die sich bis in die heutige Zeit auswirken. In diesem Zusammenhang sind besonders die sozio-kulturellen Unterschiede zwischen den Aborigine- und Maori-Gesellschaften vor der Besiedelung von Bedeutung. In Kapitel II werden die Phasen der Minderheitenpolitiken in Australien und Neuseeland in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Begonnen wird mit der Phase der Assimilation, da hier zum ersten Mal von einer „Politik“ gegenüber den indigenen Minderheiten gesprochen werden kann. Die Darstellung erfolgt entlang eines Querschnittes, der die Ungleichzeitigkeit der einzelnen Phasen in den beiden Ländern berücksichtigt. Die Gegenüberstellung der Minderheitenpolitiken wird daher nicht notwendigerweise zum selben Zeitpunkt erfolgen, vielmehr orientiert sich die Analyse an den aus der einschlägigen Literatur abgeleiteten Phaseneinteilungen. Wenn also beispielsweise die Assimilationspolitik betrachtet werden soll, wäre dies für Australien die Zeitspanne von den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis 1972, während die Phase im neuseeländischen Fall zwischen 1865 und 1945 verortet werden kann. Anschließend wird auf die weitergehende Entwicklung in Neuseeland eingegangen. Im dritten Kapitel wird die heutige Situation der beiden indigenen Minderheiten dargestellt. Zunächst wird anhand statistischer Daten auf die Lebensbedingungen der Aborigines und Maori eingegangen. Dabei werden sowohl Unterschiede zwischen den beiden Minderheiten als auch zwischen Minderheit und Mehrheit im jeweiligen Land selbst herausgearbeitet. Die Behandlung des Komplexes „Landrechte“ konzentriert sich auf die relevanten Institutionen, die den Ureinwohnern zur Durchsetzung ihrer Ansprüche zur Verfügung stehen und die Verbindung mit Fragen der Souveränität der beiden Minderheiten. Anschließend wird auf die verschiedenen Formen der Repräsentation der indigenen Minderheiten im politischen System eingegangen, den Abschluss des deskriptiven Teils der Arbeit bildet die Nachzeichnung der Australien-spezifischen reconciliation-Debatte.
Der folgende analytische Teil beginnt in Kapitel IV zunächst mit der Herausarbeitung der Determinanten der Minderheitenpolitiken in Australien und Neuseeland. Zu diesem Zweck werden Instrumente der vergleichenden Policy-Forschung angewandt, gleichzeitig spielt der Kontext der vorliegenden Fälle eine große Rolle bei der Herausarbeitung der Variablen. Kapitel V führt in die Problematik der normativ-moraltheoretischen Ebene ein, in dem die wesentlichen Vertreter der Debatte um Individual- und Gruppenrechte behandelt und deren für diese Arbeit relevanten Thesen und Konzeptionen herausgearbeitet werden. Diese werden in Bezug zu den Entwicklungen vor allem in Neuseeland gestellt und ergänzen die im vorigen Kapitel herausgearbeiteten Variablen. Das abschließende Kapitel VI widmet sich der Beantwortung der Eingangsfrage nach der Zukunft der australischen Minderheitenpolitik. Zu diesem Zweck wird zunächst die Entwicklung des Bikulturalismus in Neuseeland einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Den Abschluss der Arbeit bildet der Vorschlag von zwei möglichen Szenarien für die zukünftige Minderheitenpolitik Australiens.
I. Historische Einführung
Um die heutige Ausprägung und Bedeutung der Minderheitenpolitiken Australiens und Neuseelands zu verstehen, ist es unabdingbar, sich mit deren historischer Entwicklung in beiden Ländern zu beschäftigen. Denn trotz der oben beschriebenen gleichen Rahmenbedingungen sind vor allem für die Jahrzehnte nach der Besiedelung wichtige Unterschiede festzustellen, die für das Verständnis der gegenwärtigen Situation von großer Wichtigkeit sind. Diese Unterschiede möchte ich an drei Aspekten herausarbeiten: der sozialen und kulturellen Unterschiede der traditionellen Gesellschaften der Aborigines und Maori vor der Besiedelung, die dadurch bedingte unterschiedliche Wahrnehmung der Minderheiten durch die Briten, vor allem im Hinblick auf die Perzeption als souveräne Gesellschaft und der unterschiedlichen geografischen Ausdehnung der beiden Länder. Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Siedlern und den Minderheiten soll bis zum Ende der Phase der Kriege und Massaker skizziert werden – im Falle Neuseelands also bis zu den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts für Australien etwa bis Mitte der dreißiger Jahre desselben Jahrhunderts.
1. Sozio-kulturelle Unterschiede
In Australien lebten vor der Besiedelung durch die Briten zwischen 250.000 und 1 Million Aborigines. Die Ureinwohner verteilten sich auf etwa 500 verschiedene Völker auf dem gesamten Kontinent und sprachen 250-260 verschiedene Sprachen (vergl. Strohscheidt 1996: 104). Die genaue Herkunft der Aborigines ist noch nicht abschließend geklärt, sicher ist jedoch, dass sie den Kontinent seit zirka 60.000 Jahren besiedeln. Die Ureinwohner lebten in Jäger/Sammler-Gesellschaften. Ein Konzept von Privat- oder Landbesitz war nicht vorhanden, trotzdem herrschte eine tiefe religiöse Verbundenheit zu bestimmten heiligen Plätzen, an die immer wieder zurückgekehrt wurde. Jeweils zwei bis drei Familien bildeten eine Gemeinschaft, die durch das Prinzip der Verwandtschaft definiert war. Häuptlinge, in der Form wie sie etwa bei den nordamerikanischen Indianerstämmen anzutreffen waren, gab es nicht.
Grafik 1: Australien
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigenes Archiv
Politische oder religiöse Institutionen waren nicht vorhanden. Die Basis des Glaubens bildete der Mythos des „Dreaming“, einer Schöpfungszeit, in der die Urahnen der Aborigines über den Kontinent wanderten und das Land und die Menschen schufen. Die Regeln, die jede Gemeinschaft von diesen Urwesen empfangen hatte, waren strikt einzuhalten. Es entstand eine Art Vertrag mit dem Tenor „befolgt die Regeln und es wird Euch nichts geschehen, Ihr werdet beschützt sein.“ Das sich Abwenden von diesen Traditionen kam der Herausforderung von großem Unglück gleich. Durch dieses Festhalten an den Überlieferungen entstand eine relativ statische Gesellschaft, die durch ständige Wiederholung von Ritualen gekennzeichnet war und die wenig Spielraum für Veränderungen lies. Das Land, auf dem sich die verschiedenen Gruppen bewegten, wurde nicht bewirtschaftet, feste Grenzen zwischen den Territorien der Stammesgemeinschaften waren nicht vorhanden. Kriege zwischen den Stämmen gab es kaum, Differenzen wurden bei größeren Treffen mehrerer Gruppen entweder durch Verhandlungen oder im Zweikampf beigelegt.
Die Gesellschaft der Maori war im Vergleich in wesentlichen Teilen anders organisiert. Etwa 1000 Jahre vor der Besiedelung durch die Briten aus Zentralpolynesien eingewandert, lebten zum Zeitpunkt der Entdeckung durch die Europäer rund 125000 Ureinwohner auf den beiden Inseln. Im Gegensatz zu den Aborigines hatten die Maori feste Wohnsitze und betrieben Landwirtschaft. Die wichtigste politische Einheit war der Stamm (iwi), dessen Zusammenleben ebenfalls durch Verwandtschaftsverhältnisse gekennzeichnet war. Jedoch existierten in den Gemeinschaften formale Hierarchien, an deren Spitze Häuptlinge (rangatira) standen, die sich durch besondere persönliche Qualitäten ausgezeichnet hatten. Jeder Stamm verteidigte sein angestammtes Territorium gegen Eindringlinge, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Gruppen waren weit verbreitet und dienten den Stammesführern zum Ausbau ihrer Respektabilität und ihres Führungsanspruches (mana). Trotz fester Hierarchien stand das Gemeinschaftsdenken an erster Stelle:
Chiefly authority was not exercised over people, but was exercised with their advice and support. A chief was a ‚trustee for his people, an entrepreneur in all their enterprises‘ (Parsonson 1992: 171, Zitat aus Report of the Waitangi Tribunal on the Orakei Claim (Wai 9), S. 131f.).
Mündlich überlieferte Traditionen komplettierten die Identität eines Stammes.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik 2: Neuseeland
Quelle: eigenes Archiv
Die Maori begrüßten den christlichen Glauben der Siedler, die sie Pakeha nannten, mit Respekt und Neugier und bis zum Jahr 1845 war ein Großteil der Ureinwohner konvertiert, ohne jedoch die alten Traditionen aufzugeben (Williams 2001: 3f.). Allgemein kann man also sagen, dass
[o]nce they had experience of the wider world, the intellectual curiosity, boldness and willingness to innovate of many Maori was that they did not want to cling to an unmodified traditionalism (...) [T]he traditional Maori social structure and value system were open and adaptive, not rigid or inflexible... (A. Ward: A show of justice: racial ‚amalgamation‘ in nineteenth century New Zealand, Auckland 1974: Auckland University Press, S. 17f., zit. in: Williams 2001: 4f.).
Diese größere Rezeptivität der Maori-Gesellschaft wurde auch von den anfänglichen Kontakten mit Europäern, die durch Gegenseitigkeit und kooperatives Selbstinteresse (Fleras/Elliott 1996: 176), etwa beim Handel mit Rohstoffen, gekennzeichnet war, begünstigt. Weitere Faktoren waren die im Vergleich mit den Aborigines positivere Perzeption durch die Briten sowie die unterschiedlichen geografischen Voraussetzungen, die beide im Folgenden thematisiert werden.
2. Perzeption durch die Briten
Die oben beschriebenen Unterschiede in sozialer Organisation und Lebensweise waren maßgeblich verantwortlich für die Art und Weise, wie die britischen Kolonisten und vor allem die politischen Führer im Londoner Westminster-Parlament den Minderheiten in Australien und Neuseeland gegenüber traten. Zentral hierbei war die Frage, ob die Aborigines beziehungsweise die Maori als souveräne Nation angesehen werden konnten. Geltendes britisches Recht gegen Ende des 18. Jahrhunderts sprach den Einwohnern von neu entdeckten Landmassen nur dann den Status der Souveränität zu „...if, by their labour and practice of agriculture, they used it and changed it by constructing buildings and towns“ (Broome 1994: 26). Wurden diese Kriterien erfüllt, war es die übliche Vorgehensweise der britischen Kolonisten, mit solchen „First Nations“ über die Modalitäten der Besiedelung zu verhandeln. Dieser eurozentristischen Sicht folgend erfüllten die Aborigines die erforderlichen Kriterien jedoch nicht (vergl. Reynolds 1996: 10) und wurden somit nicht als adäquater Verhandlungspartner angesehen. So entwickelte sich die Doktrin der terra nullius (lat. „niemandes Land“), die den Kontinent als leer und unbewohnt deklarierte und somit die britische Krone als ersten Souverän installierte. Diese Vorstellung konstituierte den Kern der Vertreibung und Unterdrückung der australischen Ureinwohner und wurde erst im Jahr 1995 durch die Entscheidung des High Court im Mabo-Fall aufgehoben (s. Kapitel II 2.). Dass die damalige eine Fehleinschätzung war und dass auch nach dem Kenntnisstand von 1788 die Aborigines als souveräne Nation hätten eingeschätzt werden müssen, hat Henry Reynolds (1996: 39ff.) durch eine Untersuchung von historischen Quellen dargelegt.
Die Maori hingegen erfüllten in den Augen der Kolonisten die Voraussetzungen als souveräne Nation, auch wenn eine nationale Institution zur Vertretung aller Stämme nicht existierte. Die Krone sah die verschiedenen Stammeshäuptlinge als Kollektivträger einer souveränen Autorität an (vergl. Cox 1993: 3f.). Die Verhandlungen führten schließlich am 6. Februar 1840 zum Abschluss des Vertrages von Waitangi zwischen Kapitän William Hobson als Vertreter der britischen Königin und über 40 Maori-Häuptlingen. In den folgenden Monaten reiste Hobson durch das ganze Land und sammelte weitere Unterschriften. Durch den Vertrag wurden die Maori zu britischen Staatsbürgern, im Gegenzug erkannten sie die britische Königin als Souverän an und traten der Krone die Hoheitsrechte über das gesamte Land ab.
3. Geografische Ausdehnung
Ein weiterer wichtiger Determinator für die Entwicklungen der Beziehungen zwischen Kolonisten und Minderheit in den beiden Ländern ist deren unterschiedliche Größe. In Australien war es den Aborigines möglich, in den ersten Jahrzehnten der Besiedelung, ein weitgehend eigenständiges Leben unberührt von der weißen Zivilisation zu führen. Da sich die europäischen Siedlungsgebiete zunächst nur auf das Gebiet des heutigen New South Wales und Victoria an der Ostküste sowie das Gebiet um Perth im Westen des Kontinents beschränkten, blieb den Aborigines ein riesiges Rückzugsgebiet, in dem sie ihr traditionelles Leben fortführen konnten. Selbst 1890, also über einhundert Jahre nach der Gründung der ersten Kolonie, waren weite Teile des heutigen Queensland, South und Western Australia, sowie das gesamte Northern Territory – offensichtlich aufgrund der unwirtlichen Beschaffenheit der Umgebung – so gut wie nicht von den Weißen besiedelt (s. Grafik 3).
Diese Möglichkeit des Rückzugs hatte allerdings ebenfalls zur Folge, dass die Aborigines auch von den Siedlern nicht wahrgenommen wurden, eine Ignoranz, die sich auch dann fortsetzte, als deutlich wurde, dass man sich mit ihnen auseinandersetzen musste. Dies führte vor allem im 19. Jahrhundert zu einer inkonsistenten, zum Teil sogar widersprüchlichen Minderheitenpolitik.
Grafik 3: Verlauf der Besiedelung in Australien bis 1890
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aus: Broome 1994: 37.
Die Option der Selbstisolation stand für die Stammesgemeinschaften der Maori nur zu einem weit geringeren Maße zur Verfügung. Somit mussten sich die Siedler von Anfang an mit den Ureinwohnern beschäftigen. Die geringere Größe Neuseelands machte es auf der anderen Seite auch für die Maori einfacher, überregionale Strukturen zu entwickeln, um der zunehmenden Unterdrückung und Entrechtung entgegenzutreten.
4. Kriege – Massaker – Vertreibungen
In beiden Ländern kam es durch die Expansion der Besiedelung zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Ureinwohnern und den Kolonisten. Nachdem das britische Parlament die Importzölle für australische Wolle gesenkt hatte, immigrierten zwischen 1832 und 1850 über 200000 Briten auf den Kontinent, was eine weitere Ausdehnung der Kolonien ins Landesinnere zur Folge hatte (Broome 1994: 37). Die kommerzielle Schafzucht und Landwirtschaft zerstörten systematisch die Lebensgrundlage der Jäger-und-Sammler-Gesellschaft der Aborigines. Da die Vorstellung von individuellem Besitz in deren Denken unbekannt war, war es für die Ureinwohner selbstverständlich, frei laufende Schafe zu jagen, um ihr Überleben zu sichern. Die gewaltsamen Reaktionen der Europäer starteten eine Spirale der Gewalt, die zu einer „Aufrüstung“ der Siedler mit Feuerwaffen führte. Die Aborigines entgegneten auf die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten mit Guerrilla-Aktionen, die teilweise von den Weißen mit Massakern beantwortet wurden. Verbreitet war ebenfalls die Praxis, vergiftetes Mehl an die Ureinwohner auszugeben. Die zum Teil äußerst brutale Vorgehensweise kann bis zu einem gewissen Grad mit der Vergangenheit vieler Siedler als Strafgefangene erklärt werden (vergl. Broome 1994: 41).
Erfolgreiche Widerstandsbewegungen auf Seiten der Aborigines waren selten, da es an einer effizienten internen militärischen Organisation mangelte. Schließlich wurden die verschiedenen Guerrilla-Gruppen aufgrund der besseren waffentechnischen Ausstattung und der zahlenmäßigen Überlegenheit der Weißen besiegt. Aus Europa eingeschleppte Krankheiten dezimierten die Aborigines weiter. In der australischen Geschichtsschreibung wurde dieses Kapitel uminterpretiert und die Pioniertaten der Siedler, die sich gegen die rauhe Umwelt behaupteten in den Mittelpunkt gestellt und so ein Kernelement der (weißen) Identität kreiert. Die gewaltsame Vertreibung und Dezimierung der Ureinwohner wurde ausgeblendet.
Die Kolonialregierungen reagierten auf die frühen Erfolge der Widerstandsgruppen zunächst, in dem sie von der Praxis, die Aborigines wie britische Staatsbürger zu behandeln, Abstand nahmen. Massaker und andere Greueltaten an den Ureinwohnern wurden durch die Verhängung des Kriegsrechts in betroffenen Regionen begünstigt (Broome 1994: 44). Andere Maßnahmen waren von eher protektionistischer Natur. So wurden verschiedentlich Schutzgebiete eingerichtet, in denen Aborigines leben sollten. Solche Versuche waren jedoch selten erfolgreich, was nicht zuletzt auf den Widerstand der Betroffenen – vor allem gegen den christlichen Glauben, dem sie in den Protektoraten ausgesetzt waren – zurückzuführen war (vergl. Broome 1994: 48ff.).
Durch den Abschluss des Vertrags von Waitangi und die Anerkennung als souveräne Nation waren die Maori formal besser gestellt als die Aborigines. Beides konnte jedoch den Konflikt um Land nicht verhindern. Bereits unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrags von Waitangi gab es Unstimmigkeiten zwischen Maori und Briten über dessen Interpretation, die aus der Tatsache resultierten, dass die meisten Häuptlinge die in Maori übersetzte Version des Vertrages unterschrieben hatten, diese aber in zentralen Formulierungen vom englischen Original abwich. War in der englischen Version in Artikel eins von der Abtretung aller Souveränitätsrechte an die Krone die Rede, so wurde in der Übersetzung das Wort kawanatanga benutzt, eine ungleich schwächere Formulierung. Wäre die korrekte Übersetzung mana verwendet worden, hätten viele Häuptlinge wohl ihre Unterschrift verweigert (Richter 1999: Fn. 24). Im zweiten Artikel wurde den Häuptlingen in der Maori-Version tino rangatiratanga, völlige Selbstbestimmung, zugesichert. Im Original war jedoch nur vom exklusiven Recht auf den Besitz von Land sowie Jagd- und Fischereigründen die Rede.
Doch auch diese Formulierung konnte nicht verhindern, dass die Maori um ihr Land gebracht wurden. Aus dem Vertrag hatte die Krone zunächst ein Vorkaufsrecht für alle Maori-Ländereien in Neuseeland, um diese dann zur Besiedelung freizugeben. Das Besitzrecht der Maori wurde 1844 dahingehend uminterpretiert, dass es sich lediglich auf den Bereich der Siedlungen und des bestellten Landes erstreckte. Alle darüber hinaus gehenden Ländereien fielen automatisch der Krone zu. Als im selben Jahr auch noch deren Vorkaufsrecht abgeschafft wurde, wurde die Maori zunehmend Opfer von Spekulanten und verloren große Teile ihrer angestammten Territorien.
Das nun neu zur Verfügung stehende Land führte zu einer Expansion der Besiedelung, durch die die Maori immer weiter zurückgedrängt wurden. Bereits in den vierziger Jahren kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ein deutliches Zeichen des Widerstandes der Ureinwohner war die Wahl eines Maori-Königs auf der Nordinsel im Jahr 1858. Die Königsbewegung war ein erster Versuch, eine über die Stammesgrenzen hinweg gehende nationale Maori-Bewegung zu etablieren. Die Briten sahen es jedoch als einen Affront gegen die Souveränität der Königin. In dieser gespannten Situation genügten regionale Streitigkeiten um Ländereien, um den Konflikt ab 1860 zu einem Krieg auszuweiten. Die offenen Gefechte dauerten bis 1863, Guerrilla-Aktivitäten verschiedener Maori-Gruppen dauerten noch bis 1872. Wie in Australien konnten die Maori letztendlich nichts gegen die zahlenmäßige Überlegenheit der Siedler ausrichten. Die Königsbewegung wurde außer Gefecht gesetzt und große Ländereien als Strafe für den Aufstand von der Krone konfisziert. Die Maori-Bevölkerung schwand durch die Kriege und eingeschleppte Krankheiten bis auf 40000.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die unterschiedlichen Entwicklungen in der Frühphase der Kolonisation in Australien und Neuseeland im Endeffekt zu gleichen Ergebnissen führten. Die Anerkennung der Maori als souveräne Nation durch die Briten und der Abschluss des Vertrags von Waitangi konnten den Verlust des Großteils ihrer Ländereien im Zuge von Krieg und Vertreibung nicht verhindern. Somit befanden sich die Minderheiten in beiden Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts in nahezu der gleichen Situation: Ihres Landes beraubt und dezimiert durch Kriege und Krankheiten, mussten sie mit dem immer weiter fortschreitenden Verlust ihrer traditionellen Gesellschaftsformen zurechtkommen und fristeten ihr Dasein zumeist in Reservaten, auf entlegenen Missionsstationen oder am Rande der europäischen Siedlungen.
II. Phasen der Minderheitenpolitiken: Von Assimilation zu Bikulturalismus
Während der Phase der Kriege und der Landnahme eine stringente, in eine Richtung zielende Minderheitenpolitik in Australien oder Neuseeland auszumachen, ist schwierig. In Australien war etwa der juristische Status der Aborigines in den ersten 50 Jahren der Besiedelung nicht eindeutig geklärt. Teilweise wurden sie wie britische Staatsbürger behandelt, zum Beispiel in Fällen von strafbaren Übergriffen durch Siedler, in anderen Angelegenheiten – besonders nach Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen – galt dies nicht (vergl. Reynolds 1996: 99f., Peterson/Sanders 1998: 4). Zu Beginn herrschte ein „juristischer Pluralismus“, der es den Aborigines erlaubte, interne Streitigkeiten weiterhin nach ihren eigenen Gesetzen beizulegen. Dies wurde ihnen jedoch bereits 1816 verboten, da die entsprechenden Bräuche von den Briten als barbarisch und unzivilisiert angesehen wurden. 1836 schließlich wurde durch das oberste Gericht der Kolonie New South Wales erstmals festgestellt, dass das britische Recht ausnahmslos auch auf die Ureinwohner anzuwenden sei (vergl. Peterson/Sanders 1998: 5, Reynolds 1996: 62f.). Auch in den Jahren danach war die Situation dergestalt, dass „...there was no clear-cut simultanious national progression from one policy phase to another“ (H. McRae, G. Nettenheim, L. Beacroft (Hg.): Aboriginal legal issiues: commentary and materials, North Ryde 1991: Law Book Company, S. 9, zit. in: Lane 1997: 8).
Auch in Neuseeland konnten die Maori in der Frühphase der Besiedelung ihre Angelegenheiten weitestgehend intern und nach ihren eigenen Gesetzen regeln. Die Häuptlinge hatten zwar im Vertrag von Waitangi (nach britischer Lesart) ihre Souveränitätsrechte abgetreten, doch die Kolonialmacht war zunächst schlicht aus Mangel an Soldaten und Polizisten nicht in der Lage, ihre eigene Rechtsprechung in allen Gebieten durchzusetzen (Hill/O’Malley 2000: 56f.). Da das Land nicht wie Australien aus mehreren unabhängigen Teilkolonien bestand, war in Neuseeland eine einheitliche Linie in der Minderheitenpolitik früher festzustellen. 1847 beispielsweise wurde durch die Education Ordinance das Englische als einzige offizielle Sprache implementiert. Diese Maßnahme war bereits Ausdruck einer Politik, die zum Ziel hatte, die Maori in die Einwanderergesellschaft zu assimilieren (vergl. Williams 2001: 22).
Die Phase der Assimilationspolitik will ich im Folgenden zuerst untersuchen. Sie stellt in beiden Ländern den Beginn einer einheitlichen Minderheitenpolitik dar, wobei es – besonders im neuseeländischen Fall – schwer fällt, den Übergang von der Phase der Kriege zur Assimilationspolitik eindeutig zu bestimmen. Spätere Phasen lassen sich dagegen meist durch einen Regierungswechsel oder bestimmte Einzelmaßnahmen zeitlich präziser verorten. Dem Abschnitt der Assimilation folgte in Australien wie in Neuseeland eine Phase der Integrationspolitik. In Neuseeland können noch zwei weitere Phasen unterschieden werden, die letztendlich zum heute vorherrschenden Konzept des Bikulturalismus führten, während in Australien die Integrationspolitik bis heute die bestimmende Regierungsdoktrin geblieben ist.
1. Assimilationspolitik
Ziel der Politik der Assimilation war es in beiden Ländern, eine homogene Gesellschaft zu schaffen. Die Aborigines und Maori sollten sich der Lebensweise der Europäer anpassen und sich von ihren traditionellen Lebensformen lösen. Grundlage dieser Politik war zunächst die Annahme, dass die Ureinwohner nach und nach aussterben würden. Die zum Teil katastrophalen hygienischen Bedingungen, die schlechte Wohnungssituation und der Schwund der Populationen durch Krankheiten gaben am Ende des 19. Jahrhunderts jeden Anlass dafür. Die Politik sollte dafür sorgen, diesen Prozess zu beschleunigen und ihn so human wie möglich für die Minderheiten zu gestalten. Der Ausdruck „smoothing the dying pillow“ (etwa „das Sterbebett herrichten“) taucht an vielen Stellen in der Literatur auf, um diesen Prozess zu beschreiben (Fleras/Elliott 1996: 181, Robbins/Summers 1997: 511, Lane 1997: 10).
In Australien ging der offiziellen Adaption des Begriffs „Assimilation“ eine Phase der Protektion und Segregation voraus, die allerdings ebenso auf den oben genannten Vorstellungen aufbaute. Etwa ab 1836, als in New South Wales das britische Recht ausnahmslos auch auf die Aborigines ausgeweitet wurde, wurden die Ureinwohner systematisch vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt. In South Australia wurde beispielsweise 1837 eine Verordnung erlassen, die den Aborigines den Konsum von Alkohol untersagte. Mit der Bekehrung zum Christentum und dem Aufbau von Missionsstationen (ab 1823) sollten die Jäger und Sammler sesshaft gemacht werden. Als Anreiz wurde auf den Stationen medizinische Hilfe sowie Essensrationen und Grundnahrungsmittel zur Verfügung gestellt. Unter dem Label des Schutzes der Ureinwohner wurden deren Rechte immer weiter eingeschränkt. 1897 wurde in Queensland ein Gesetz verabschiedet, das die Zwangsumsiedelung von Aborigines in Reservate oder sonstige staatliche und kirchliche Einrichtungen möglich machte. Die anderen Kolonien mit Ausnahme von Tasmania[2] folgten. Aborigines durften ohne die Zustimmung eines vom Staat bestellten Protektors nicht heiraten, das Eröffnen von Bankkonten oder sonstige Geschäftstätigkeit waren ihnen ganz verboten (Strohscheidt 1996: 111). Die Ziele dieser „Schutzgesetzgebung“ waren
[to] protect public health and good order; to provide a pillow for a dying race; to manage and control an uneducatable and doomed population; conversely to train Aboriginal people for their selective transition into civilized society; and to justify the continuing dispossession of the original owners of the land (Lane 1997: 10).
Mit dem Zusammenschluss der australischen Kolonien zu einem Bundesstaat im Jahr 1901 änderte sich nicht viel für die Ureinwohner. Die Gesetzgebungshoheit über Angelegenheiten der Aborigines verblieb bei den Einzelstaaten, eine Regelung, die bis 1967 Bestand hatte und maßgeblich für die langsamere Entwicklung der Minderheitenpolitik im Vergleich zu Neuseeland verantwortlich war. Weiterhin wurde in der Verfassung festgelegt, die Aborigines bei Volkszählungen nicht als Staatsbürger zu zählen. Diese höchst diskriminatorische symbolische Maßnahme wurde aus finanzpolitischen Erwägungen getroffen. Da die Verteilung der Überschüsse der Bundesregierung an die Bevölkerungszahl der Einzelstaaten gekoppelt war, wollte man mit der Exklusion der Ureinwohner verhindern, dass Staaten, die zwar ein große Aborigine-Population besaßen, ihnen aber nur wenige Finanzmittel zur Verfügung stellten, unrechtmäßig profitierten (vergl. Peterson/Sanders 1998: 8).
Die Restriktionen für die Aborigines setzten sich auch nach der Gründung der Föderation fort. Im Jahr 1902 zum Beispiel verloren sie durch den Franchise Act der Bundesregierung das Wahlrecht auf nationaler Ebene. Eine der schonungslosesten Maßnahmen war das Recht der Protektoren, Kinder von ihren Eltern zu trennen. Unter diesem Recht konnten ab 1908 Kinder, vor allem aus Mischehen, mit verschiedenen Begründungen aus ihren Familien herausgenommen und in Heime oder an weiße Familien gegeben werden. Meist wurde als Vorwand die angebliche Unfähigkeit der Eltern zur Erziehung durch Armut, Überforderung bei Alleinerziehenden oder Alkoholmissbrauch genannt, doch auch eine Gefängnisstrafe des Vaters konnte die Trennung nach sich ziehen. Diese Praxis wurde bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufrechterhalten und so schätzungsweise 60000 Kinder von ihren leiblichen Eltern getrennt. Erst in den letzten Jahren ist dieses Kapitel der australischen Geschichte wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.[3]
Assimilatorische Elemente waren immer Teil der protektionistischen Politik (Lane 1997: 13), formal wurde der Begriff „Assimilation“ jedoch erst in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von allen Einzelstaaten zur Beschreibung ihrer Minderheitenpolitik benutzt. Zu diesem Zeitpunkt musste den verschiedenen Administrationen spätestens klar geworden sein, dass sich eine der Annahmen, auf die sich Minderheitenpolitik bis dahin gestützt hatte, nicht mehr aufrechterhalten lies. Die Voraussage, die Aborigines würden langsam aussterben, hatte sich als falsch erwiesen. Deren Population erreichte Ende der zwanziger Jahre ihren tiefsten Punkt, erholte sich danach jedoch langsam wieder. Gleichzeitig nahm die Zahl der Nachkommen aus gemischten Beziehungen zu. Auf diese sogenannten half-castes konzentrierte sich die Assimilationspolitik, die zum ersten Mal 1937 bei einer Konferenz der Fachminister der Einzelstaaten zur Sprache kam. Was die „reinrassigen“ Aborigines (full-bloods) anging, war man weiterhin der Meinung, diese würden über kurz oder lang verschwinden. Dieser Ansatz führte zu einer Einteilung in Klassen, abhängig vom Grad der Blutszugehörigkeit, beginnend bei full-blood bis hin zu denjenigen, die noch zu einem Achtel als Aborigines angesehen wurden (octoroons), um Anspruchstatbestände für soziale Leistungen oder die Wahrnehmung bestimmter Rechte zu bestimmen. Dieser Kategorisierung lag die rassistische Idee zugrunde „...that people of mixed race were on a continuum between civilisation and barbarism; the lighter the skin the more civilized and intelligent the person was supposed to be“ (Broome 1994: 160f.).
Ziel war es nun, die Aborigines mit gemischter Herkunft in die weiße Gesellschaft zu absorbieren und so eine homogene Gemeinschaft zu schaffen. Um dies zu erreichen, wurden – auch auf Druck der in den dreißiger Jahren aufkeimenden Protestbewegung auf Seiten der Ureinwohner – verschiedene Restriktionen gelockert. So konnten ab 1940 Aborigines die australische Staatsbürgerschaft erlangen, wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllten. Dazu gehörte neben dem Beweis eines „guten Charakters“ und eines „fleißigen Lebenswandels“ auch eine Erklärung, dass der Betroffene mit allen Verbindungen zu seiner traditionellen Stammesgemeinschaft mit Ausnahme der direkten Verwandten gebrochen hatte. Die letztendliche Entscheidung oblag dem Friedensrichter des jeweiligen Distriktes. Diese von den Aborigines abfällig als dog license oder beer ticket bezeichneten Zertifikate erlaubten es zwar, die Reservate zu verlassen und Alkohol zu konsumieren, wurden aber kaum angenommen (Broome 1994: 170f.).
Die fünfziger und sechziger Jahre brachten die ersten wirklich substanziellen Veränderungen für die Ureinwohner. Bereits 1949 wurde Aborigines, die entweder im Militär gedient hatten oder in ihrem Heimatstaat wählen durften, die Teilnahme an nationalen Wahlen erlaubt. 1962 folgte das allgemeine Wahlrecht für alle Ureinwohner auf nationaler Ebene. Bis 1965 hoben mit Western Australia und Queensland die letzten beiden Einzelstaaten alle Restriktionen auf. In der Folgezeit wurden vor allem aus vielen Sozialgesetzen die Exklusionsklauseln für Ureinwohner gestrichen. Andere Restriktionen, etwa zur freien Wahl des Wohnortes oder zum Genuss von Alkohol wurden ebenfalls überarbeitet oder ganz abgeschafft (Peterson/Sanders 1998: 14). Gleichzeitig wurde der Begriff „Assimilation“ in mehreren nationalen Native Welfare Conferences leicht uminterpretiert und sanftere Formulierungen für die Anpassung der Aborigines an die weiße Gesellschaft kreiert. Das allgemeine Ziel der Schaffung einer homogenen Gemeinschaft stand allerdings nicht zur Debatte (vergl. Broome 1994 171ff.).
Allerdings muss ebenso festgehalten werden, dass die Erleichterungen für die längste Zeit der Phase der Assimilationspolitik nur einem kleinen Teil der Aborigines zu Gute kamen. Besonders in den entlegenen Reservaten und Missionsstationen, wo die meisten von ihnen lebten, änderte sich meist nicht viel, die Praktiken der Separation und Protektion blieben bis weit in die sechziger Jahre unverändert. Da sich die Minderheitenpolitik auf die half-castes beschränkte, blieben full-bloods außen vor. In Lanes (1997: 17) Worten:
The policy of ‚assimilation‘ signified the selective, tightly controlled assimilation of a few and the continued exclusion and tightly supervised segregation of the many (...) In practical everyday terms, assimilation did not touch the majority of Aboriginal people.
In den sechziger Jahren zeichnete sich jedoch ein gesamtgesellschaftlicher Wandel ab, der schließlich zur Aufgabe der Politik der Assimilation führen sollte. Die Studenten- und Bürgerrechtsbewegung fasste aus den USA kommend auch in Australien Fuß und nahm sich zunehmend der Minderheitenproblematik an. Durch die große Immigrationswelle aus Europa und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die australische Gesellschaft multikultureller und damit auch das Verständnis für Minderheiten größer. Unter den Aborigines entwickelte sich, auch bedingt durch die nach dem Krieg verstärkte Migration in die Städte, eine neue Generation von jungen Aktivisten, die mit Aktionsformen nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung auf die Missstände aufmerksam machte.[4] Schließlich richtete sich der Blick der internationalen Gemeinschaft im Zuge der Dekolonisierungswelle der fünfziger und sechziger Jahre zunehmend auf die Problematik des Umgangs mit Minderheiten.
Alle diese Faktoren trugen schließlich zur Entscheidung der konservativen Regierungskoalition aus Liberal (LP) und National Party (NP) bei, 1967 in einem Referendum über die Änderung der Verfassung abstimmen zu lassen. Der Vorschlag der Regierung sah vor, Section 127, die für die Nichtberücksichtigung der Aborigines bei Volkszählungen verantwortlich war, zu streichen. Wichtiger war jedoch die Änderung von Section 51 (xxvi), die der Bundesregierung die Gesetzgebungskompetenz im Feld der Angelegenheiten der Aborigines verschaffen würde. Das Referendum wurde mit einer landesweiten Zustimmung von 90,77 Prozent angenommen, der höchsten in der Geschichte Australiens (Robbins/Summers 1997: 514). Das Referendum wird heute oftmals als Wendepunkt in der Minderheitenpolitik dargestellt und als der Tag, an dem das australische Volk sich zu den Aborigines bekannte. Ebenso wird von Politikern, Medien und auch von Seiten der Wissenschaft (z. B. Strohscheidt 1996: 115) oft fälschlicherweise behauptet, mit dem Referendum hätten die Aborigines den Status als Staatsbürger und das Wahlrecht erhalten.
Faktisch änderte sich der Status der Ureinwohner jedoch nur wenig. Die neuen Kompetenzen der Bundesregierung in der Gesetzgebung wurden zunächst kaum ausgeschöpft und auch spätere Reformschritte in den siebziger Jahren wurden meist mit Hilfe anderer verfassungsrechtlicher Mechanismen, wie etwa der zweckgebundenen Vergabe von Bundesmitteln an die Staaten, erreicht (vergl. Robbins/Summers 1997: 515, Atwood/Markus 1998: 121). Auch war die Motivation der konservativen Administration zur Initiierung des Referendums nicht primär der Wille zur Reform der Minderheitenpolitik oder ein neues Denken, das die Politik der Assimilation ablehnte. Vielmehr lassen neuere Analysen vermuten, dass eher der Blick auf die nationale und internationale Öffentlichkeit der hauptsächliche Beweggrund für die Verfassungsänderungen war. Vor allem unter Premierminister Robert Menzies, der von 1949 bis 1966 amtierte und dessen Regierung 1965 das Referendum auf den Weg brachte, war die Assimilation der Aborigines noch offizielle Regierungspolitik (Atwood/Markus 1998: 122f., 125).
Nichtsdestoweniger half das Referendum durch seinen hohen Symbolwert den Weg für tiefgreifendere Reformen zu ebnen. Die Strategie der Befürworter, die Abstimmung zu einer Sache der „nationalen Ehre“ zu machen und die Art und Weise der Erinnerung in den Jahrzehnten danach, machten es einfacher, auf die Situation der Minderheit in Australien hinzuweisen und die Öffentlichkeit dadurch sensibler für deren Probleme zu machen (Atwood/Markus 1998: 133f.). Wesentliche Policy-Änderungen blieben unter den folgenden konservativen Regierungen zunächst jedoch aus. Erst als die Australian Labor Party (ALP) 1972 in die Verantwortung gewählt wurde, war die lange Phase der Assimilationspolitik in Australien endgültig beendet.
Verglichen mit der vorhergehenden Phase der Protektion und Segregation brachte die Assimilationspolitik durchaus Verbesserungen für die australischen Ureinwohner, auch wenn nicht alle im gleichen Maße davon profitieren konnten. Vor allem bei der individuellen Bewegungsfreiheit, dem Wahlrecht und des Rechtes der Inanspruchnahme sozialer Leistungen wurden deutliche Fortschritte erzielt. Ihre große Schwäche lag in der Ignoranz der indigenen Kultur und Gesellschaft. Der Grundannahme folgend, dass die traditionelle Gesellschaft der Aborigines nicht überlebensfähig war, wurde als Ziel die Amalgamation deren Reste in die weiße, europäisch geprägte Gesellschaft ins Auge gefasst. Für die Betroffenen selbst äußerte sich diese Politik als von außen aufgezwungene Aufgabe ihrer Kultur und ihres Landes, während die Befürworter sie als „human crusade against the many inherited exclusions and tyrannies of ‚protection‘ policy“ verstanden (Rowse 1998: 80). Die Praxis der Herausnahme von Kindern aus ihren Familien war wohl die extremste Manifestation des Zieles, eine homogene Gesellschaft zu schaffen, ein Vorgehen, das Richard Broome (1994:171) mit den Worten „naive social engineering to change Aborigines into Europeans with black skin“ beschrieben hat.
In Neuseeland firmierte die Assimilationspolitik auch unter dem Begriff Amalgamation. Die Grundannahmen über deren Ziel, das Fleras und Elliott (1996: 181) als „phasing out as humanly as possible the cultural basis of Maori society“ beschrieben haben, waren jedoch die selben wie im australischen Fall. Ein präziser Zeitpunkt für den Beginn der Assimilationspolitik lässt sich ebenfalls nicht bestimmen, der Übergang von der Phase der Kriege war fließend. Schon 1848 wurden durch die Resident Magistrates Courts Ordinance erste Policies implementiert, die die Assimilation der Maori in die weiße Siedlergesellschaft forcieren sollten (Williams 2001: 20). Bildung war ebenso ein Mittel, um diesen Prozess zu fördern. Auf den Missionstationen wurden Grundschulen eingerichtet, in denen die Kinder der Maori nicht nur im Lesen und Schreiben unterrichtet werden sollten, sondern auch in europäischer Lebensart. Bis 1847 wurde der Unterricht noch in Maori abgehalten, dann wurden die Missionsschulen durch die bereits erwähnte Education Ordinance auf die englische Sprache verpflichtet. Krankenhäuser in europäischen Siedlungen, die auch für die Maori zugänglich waren, sollten ebenfalls dazu dienen, die Ureinwohner mit der ihnen fremden Kultur vertraut zu machen.
Mit der Einrichtung des Siedlerparlaments durch den New Zealand Constitution Act 1852 wurde die Politik nicht mehr von durch die britische Krone ernannte Beamte sondern von einer parlamentarischen Regierung bestimmt. Die Politik der Assimilation blieb jedoch offizielle Regierungslinie (Williams 2001: 24, 27). Im Jahr 1865 wurde der Native Land Court (NLC) eingerichtet, dessen „Hauptfunktion (...) die „Individualisierung“ von Maori-Land [war,] mit der Absicht, das Land zu enteignen, was in vielen maorischen Gemeinden zu nicht wieder gutzumachenden Trennungen führte“ (Hill/O’Malley 2000: 61). Die weißen Richter entschieden nach europäischem Rechtsverständnis und ignorierten die Kultur der Maori, in der das Land als Kollektivbesitz angesehen wurde, völlig. Die Hinführung vom traditionellen Kollektivismus zu einem Ideal des individuellen Landesitzes war gewollt und ein Kernpunkt der Minderheitenpolitik (Williams 2001: 26, Sorrenson 1992: 162). Ein Vorteil für die Maori war die Tatsache, dass sie durch den individuellen Besitz von Land als Staatsbürger das Wahlrecht erlangten. Als Reaktion richtete der Maori Representation Act 1867 vier Maori-Sitze im Parlament ein. Dies war als temporäre Maßnahme gedacht, da man davon ausging, dass die Maori nach erfolgreicher Assimilation wieder am allgemeinen Wahlsystem teilnehmen würden (Ward 1997: 464). Die Aufrechterhaltung der vier Sitze wurde in den folgenden Jahren immer wieder verlängert, 1876 dann auf unbestimmte Zeit. Ab 1871 wurden per Konvention zwei Maori ins Oberhaus des Parlaments berufen, ab 1872 waren die Ureinwohner auch im Executive Council vertreten. Gleichzeitig wurde mit dem Native Schools Act von 1867 das System der englischsprachigen Schulen für Maori-Kinder von 1847 bestätigt und die Unterdrückung der Muttersprache der Ureinwohner weiter gefördert.
Auf der einen Seite lässt sich also im Unterschied zum Fall Australien feststellen, dass in Neuseeland die Ureinwohner schon sehr früh in das politische System mit einbezogen wurden. Allerdings entsprachen die vier Maori-Sitze nicht den tatsächlichen Bevölkerungsanteilen, nach denen den Ureinwohnern 20 Repräsentanten im Parlament zugestanden hätten. Aus diesem Grund kann der Einfluss der Maori auf die Implementation der Assimilationspolitik als nur marginal eingeschätzt werden. Ein Beleg hierfür sind die zahlreichen Versuche, separate Maori-Parlamente außerhalb des regulären politischen Systems zu installieren. Außerdem herrschte was das Wahlrecht betraf keineswegs Gleichheit zwischen Pakeha und Maori. So wurde den Ureinwohnern bis 1937 das geheime Wahlrecht vorenthalten, das für die Weißen seit 1870 galt. Schließlich waren die Maori auch nicht in der Electoral Representation Commission vertreten, die sich für die Überprüfung des Zuschnitts der Wahlkreise verantwortlich zeichnete (Walker 1989: 323f.).
Gleichzeitig hatte die indigene Population um 1890 mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie die Aborigines in Australien. Durch eingeschleppte Krankheiten, Alkoholmissbrauch und die allgemein schlechten Lebensbedingungen nahm die Maori-Bevölkerung immer weiter ab, was die politische Klasse in ihrem Ziel der Assimilation weiter bestärkte. Hinzu kamen Elemente der Bevormundung. Ausgehend von der Annahme, dass die Maori den Europäern nicht gewachsen waren, wurde die gezielte Entwicklung der Ureinwohner zum Ziel erklärt, um sie „fit zu machen“ für die weiße Gesellschaft, in die sie sich eingliedern sollten (vergl. Sorrenson 1992: 163). Doch anders als den meisten Aborigines in Australien gelang es den Maori, bestimmte Traditionen nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch zu erreichen, dass sie von den Weißen respektiert wurden. So folgten Verhandlungen mit Maori oftmals den überlieferten Traditionen, Rituale wie das hui (politisches/soziales Zusammentreffen) oder das tangihanga (Totenwache) konnten ohne Angst vor Repressionen abgehalten werden. Trotz des assimilatorischen Ziels, eine homogene Gemeinschaft zu bilden, existierten so am Ende des 19. Jahrhunderts zwei Gesellschaften in Neuseeland (Sorrenson 1992: 164ff.).
Im Jahr 1900 erhielten die Maori-Gemeinden unter dem Maori Councils Act ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. Die Councils setzten sich aus zwölf gewählten Mitgliedern zusammen und hatten die Aufgabe,
to formulate plans acceptable to Maori of their district that would ensure the observance of all rights and duties of tribes in relation to social and domestic matters; achieve the suppression of injurious Maori customs; promote education and the management of Native Schools; and generally promote the health and well-being of Maori inhabitants (Williams 2001: 34).
Dieser emanzipatorische Schritt stand für die politischen Führer keineswegs im Widerspruch zu dem Ziel, den Maori-Kollektivismus zu unterminieren. Vielmehr sollte er die Verschmelzung der beiden Ethnien weiter beschleunigen:
It was no doubt reasoned that this cultural revolution might be better recieved if it were implemented by Maori leadership, rather than directly imposed on Maori by settler politicians and their officials (Williams 2001: 33).
Dies war ein wichtiges Element in der Durchführung der Assimilationspolitik. Die Maori-Elite sollte für die Ziele der weißen Administration gewonnen werden, um die Implementation der policies zu vereinfachen. Ein Vertreter dieser neue Elite war James Carroll, ein half-caste -Maori, der 1899 als erster Ureinwohner Minister of Native Affairs wurde und später sogar für zwei kurze Perioden als Premierminister amtierte (vergl. Williams 2001: 32f.).
Die neue Klasse der Maori-Führer entstand vor allem in den kirchlichen Schulen wie dem Te Rau College und Internaten wie in Te Aute. Aus der Studentenverbindung des Te Aute College ging im Jahr 1909 die Young Maori Party (YMP) hervor, die die Interessen der Ureinwohner im politischen System artikulierte. Die YMP-Parlamentarier hatten außerhalb ihres Wahlkreises jedoch meist wenig Einfluss. Es existierte eine gewisse Distanz zwischen den elitären Politikern und ihren Wählern auf der Gemeindeebene, die zum größten Teil noch in den traditionellen Strukturen der Stammeszugehörigkeit verhaftet blieben. So mussten sich die Maori-Führer mit starken Gegenspielern auseinandersetzen, die sich auf regionaler Ebene die Unterstützung der Bevölkerung gesichert hatten (King 1992: 296). Die YMP unterstützte viele der assimilatorischen Ziele der damaligen Administrationen. Sie bekannte sich zum westlichen System der repräsentativen Demokratie, ihren Führern war klar, dass sie nur innerhalb dieses Systems etwas bewegen konnten. Die Übernahme von westlichen Praktiken, Institutionen und Technologien sowie eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung sahen sie als unabdingbar für das Überleben ihrer Ethnie an. Außerdem unterstützten sie eine auf Individualismus basierende Lebensweise und die Übernahme einer europäisch-protestantischen Arbeitsethik (King 1992: 295). Erfolge konnte die YMP besonders auf dem Feld der Gesundheitsversorgung erreichen. Nicht zuletzt deswegen stieg die Maori-Population ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts wieder an.
[...]
[1] Alle Gesetzesvorlagen müssen von beiden Häusern verabschiedet werden.
[2] Dies lag in der Tatsache begründet, dass in Tasmania durch Krankheiten, Vertreibung und Ausrottung so gut wie keine Aborigines mehr lebten.
[3] Dies geschah vor allem durch die Untersuchung der Human Rights and Equal Opportunity Commission. Der Abschlussbericht Bringing Them Home, der 1997 erschien, ist die bis heute meist verkaufte Einzelpublikation der Regierung und brachte die Forderung der Ureinwohner um eine offizielle Entschuldigung der Regierung für in der Vergangenheit erlittenes Unrecht wieder auf die öffentliche Agenda.
[4] Der Freedom Ride im Jahr 1965 ist ein Beispiel für eine solche Aktion. Initiiert vom Studenten Charles Perkins, der später eine der führenden Figuren indigener Herkunft in der politischen Administration werden sollte, wurden Bustouren durch den Norden von New South Wales gemacht, um auf die schlechten Lebensbedingungen der Aborigines hinzuweisen.
- Quote paper
- Magister Artium Steffen Blatt (Author), 2003, Australien auf dem Weg zum Bikulturalismus? – Minderheitenpolitik in Australien und Neuseeland im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80267
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