Diese Arbeit beschäftigt sich nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung mit den Reformgesetzen von 1957 und 1972. Dabei werden sowohl die politischen, sozialen und ökonomischen Hintergründe, die zu den Reformschritten geführt haben, als auch die Auswirkungen der beschlossenen Maßnahmen, die zum Teil bis heute fortwirken, näher beleuchtet. Im Anschluss werden der demographische Wandel und die daraus entstehende aktuelle Problematik des Rentensystems knapp skizziert. In der Schlussbetrachtung werden einige Handlungsoptionen vorgestellt, die die Politik hat, um der Krise der gesetzlichen Alterssicherung zu begegnen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Hauptteil
1. Die Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung
2. Die Rentenreform von 1957
2.1 Die Situation vor 1957
2.2 Die Rentenreform
2.3 Die Rentenberechnung
2.4 Die Auswirkungen der Reform
3. Die Rentenreform von 1972
3.1 Die politischen Hintergründe
3.2 Die Rentenreform
3.3 Die Auswirkungen der Reform
4. Die Krise des Rentensystems
4.1 Der demographische Wandel
4.2 Die Auswirkungen des demographischen Wandels
III. Schlussbetrachtung
IV. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Dank eines gewachsenen Wohlstandsniveaus sowie aufgrund des medizinischen Fortschritts ist es immer mehr Menschen vergönnt, ein hohes Lebensalter zu erreichen. Die Frage nach ihrem Lebensunterhalt nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben ist eine der zentralen Herausforderungen sozialstaatlicher Bemühungen. So ist in den westlichen Industriestaaten „die Einkommenssicherung für Ruhestand, Invalidität und Alter zum größten einzelnen Posten des Sozialbudgets geworden.“[1]
In Deutschland bezieht der Großteil der Menschen im Ruhestand ihre Rente aus der 1889 geschaffenen gesetzlichen Rentenversicherung. Sie hat ihre heutige Ausgestaltung im Wesentlichen durch die Reform von 1957 erhalten. Wie auch das nächste große Rentenreformgesetz aus dem Jahr 1972 hat sie die finanzielle Situation der Rentner erheblich verbessert. Ob jedoch die damals gegebenen Versprechen, die die Legitimationsgrundlage des Generationenvertrags darstellen, auch in Zukunft noch eingehalten werden können, wird zunehmend in Frage gestellt. Steigende Versicherungsbeiträge und eine fragliche finanzielle Deckung künftiger Rentenansprüche sind, so scheint es, der Preis für die erfolgreiche Beseitigung der Altersarmut in der Gegenwart.
Diese Arbeit beschäftigt sich nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung mit den Reformgesetzen von 1957 und 1972. Dabei werden sowohl die politischen, sozialen und ökonomischen Hintergründe, die zu den Reformschritten geführt haben, als auch die Auswirkungen der beschlossenen Maßnahmen, die zum Teil bis heute fortwirken, näher beleuchtet. Im Anschluss werden der demographische Wandel und die daraus entstehende aktuelle Problematik des Rentensystems knapp skizziert. In der Schlussbetrachtung werden einige Handlungsoptionen vorgestellt, die die Politik hat, um der Krise der gesetzlichen Alterssicherung zu begegnen.
II. Hauptteil
1. Die Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung
Vor der Industrialisierung war die soziale Sicherheit durch Großfamilien und durch die ständische Gesellschaft gesichert, mit Organisationsformen wie Dorfverband, Gutsherrschaft, Zunft oder Gilde.[2] Die Alterssicherung wurde zum Problem, seit die Menschen ein eigenständiges Leben unabhängig von fremden Haushalten begannen und dieses nur auf den Einsatz ihrer eigenen Arbeitskraft gründeten. Eine Versorgung durch die eigenen Kinder erwies sich angesichts der prekären Einkommenssituation vieler Arbeiter im 19. Jahrhundert als schwierig.[3]
„Das Bedürfnis nach einer Einrichtung, die Schutz vor den materiellen Folgen der Leistungsunfähigkeit im Alter oder bei vorzeitiger Invalidität bietet, ist also nicht ahistorisch, sondern das Ergebnis eines gesellschaftlichen Strukturwandels im Gefolge der Industriellen Revolution.“[4]
Das Deutsche Reich antwortete auf diese neue Problematik mit der so genannten Bismarckschen Sozialgesetzgebung, deren dritter und letzter großer Baustein im Jahr 1889 die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) mit einer Invaliden- und Alterssicherung war.[5] Sie war laut Hans Günter Hockerts „der politisch umstrittenste, praktisch schwierigste und konzeptionell neuartigste Teil dieses Reformgesetzbündels.“[6]
Die Rente setzte sich aus einem einheitlichen Grundbetrag, teilweise vom Reich aus Steuermitteln aufgebracht, und einem beitragsabhängigen Steigerungsbetrag zusammen. Zur Abdeckung des Steigerungsbetrags sollte aus Beiträgen ein Kapitalstock aufgebaut werden.[7] Altersrente konnte ab 70 Jahren bezogen werden.[8]
Dabei war die Altersrente in der Konzeption von 1889 nur „dekoratives Beiwerk, gedacht für die wenigen Glücklichen, die in Rüstigkeit 70 Jahre alt wurden.“[9] Der Normalfall war, dass es vorher zum Bezug einer Invalidenrente kam, die im Vergleich zur Altersrente auch höher bemessen war. So wurden in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nur etwa 100000 Altersrenten, aber ca. 1,1 Millionen Invalidenrenten ausbezahlt.[10] Dies änderte sich grundlegend mit der Verschiebung der Altersstruktur.
Die GRV sah einen Versicherungszwang für Arbeiter sowie Angestellte bis 2000 Reichsmark Jahreseinkommen vor. Erst 1911 wurde eine eigene Rentenversicherung für Angestellte eingeführt.[11] In ihr war das Renteneintrittsalter fünf Jahre früher angesetzt, erst 1915 wurde auch das Renteneintrittsalter der Arbeiterrentenversicherung auf 65 Jahre angeglichen.[12]
Die Höhe der Altersrenten betrug in den ersten Jahrzehnten nach Einführung der GRV 13 bis 14 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes,[13] sie war nur als Zulage gedacht, die alleine nicht zur Existenzsicherung ausreichte. Entsprechend niedrig war die Höhe der Beiträge: Sie waren nach vier Lohnklassen gestaffelt und betrugen 14 bis 30 Pfennig wöchentlich, paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu tragen.[14]
Im Wesentlichen blieb das System in seiner Form auch während der Zeit der Weimarer Republik in Kraft. Jedoch wurde die Rentenversicherung durch die galoppierende Inflation 1923 stark in Mitleidenschaft gezogen.[15] Zu Beginn der Währungssanierung im November 1923 waren die Renten trotz wiederholter Erhöhungen durch Reichszuschüsse so marginal, dass maßgeblich die Fürsorgeämter für den Unterhalt der Alten sorgten.[16] Während der Weltwirtschaftskrise zu Ende der Weimarer Republik stand die GRV abermals am Rande des Ruins, hatte jedoch weiterhin Bestand. Dies änderte sich auch im Dritten Reich nicht, wo die Sozialversicherungspolitik stärker von der konservativen Ministerialbürokratie als von der nationalsozialistischen Politik bestimmt wurde.[17]
In den Grundsätzen blieb die GRV von 1889 bis zur Gründung der Bundesrepublik also von wesentlichen Änderungen weitgehend verschont:
„Vieles spricht für einen besonderen deutschen Weg der Alterssicherung, der im Kaiserreich begann, sich trotz der Krisen am Anfang und Ende der Weimarer Republik stabilisierte und im ‚Dritten Reich’ von weitgehenden Neuordnungsplänen nicht tatsächlich berührt wurde. Dieser Pfad prägte die Bundesrepublik“.[18]
Jedoch war das Anwartschaftsdeckungsprinzip, wonach Kapital aus Beiträgen die Grundlage für spätere Leistungen bilden sollte, wegen zweimaligem Vermögensverfall und Zweckentfremdung des angesparten Kapitals während des Zweiten Weltkriegs de facto nie verwirklicht worden.[19]
2. Die Rentenreform von 1957
2.1 Die Situation vor 1957
Über die Probleme der Entwertung und Zweckentfremdung des Deckungskapitals hinaus gab es noch weitere Defizite des bestehenden Rentensystems: In einer dynamischer Wirtschaft blieben die Renten stark hinter der Lohn- und Preisentwicklung zurück. Schuld war die Orientierung der Renten am „Nominalbetrag der in der Vergangenheit geleisteten Beiträge, gleichgültig, wie sich der innere Wert der Beitragseinheit verändert hatte“.[20]
So waren die Sozialrentner in der unmittelbaren Nachkriegszeit regelrecht verelendet. Im Vergleich zu 1938 waren die Lebenshaltungskosten um 73 Prozent gestiegen, die Durchschnittsrente aber nur um 35 (Arbeiter) beziehungsweise 14 Prozent (Angestellte).[21] Der Wirtschaftsrat der drei westlichen Besatzungszonen reagierte auf die Renten-Misere mit ad-hoc-Maßnahmen, „[i]n keinem Zweig der Sozialversicherung wurde das traditionelle Leistungsrecht in grundsätzlich bemerkenswerter Weise verändert.“[22] So brachte zum Beispiel das Sozialversicherungsanpassungsgesetz von 1949 pauschale Zuschläge für alle Rentner, zur Finanzierung wurde der Beitragssatz auf 10 Prozent erhöht.[23]
Dem Sozialversicherungsanpassungsgesetz des Wirtschaftsrates folgten weitere unsystematische Rentenerhöhungen. So verabschiedete der Deutsche Bundestag zwischen 1949 und 1956 das Rentenzulagegesetz, das Grundbetragserhöhungsgesetz, das Mehrbetragserhöhungsgesetz sowie das Sonderzulagengesetz.[24] Nichtsdestotrotz blieb die Lage der Rentner prekär: 1956, im Jahr vor der großen Rentenreform, betrugen Arbeiterrenten lediglich 28 Prozent der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte vergleichbarer Versicherter.[25] Ein führender Sozialexperte des DGB bezeichnete die Sozialrenten damals als „das brennendste soziale Problem“.[26]
Notwendig war ein Rentensystem, bei dem die über 65-Jährigen auch bei steigenden Preisen anständig leben konnten. Die wirtschaftliche und demographische Situation dafür war Mitte der 50er Jahre günstig: Es gab ein hohes Wirtschaftswachstum, eine Steigerung der versicherungspflichtigen Beschäftigten und reproduktionssichernde Geburtenraten.[27] Dies waren die Prämissen der Rentenreform von 1957.
[...]
[1] Conrad, Christoph: Alterssicherung. In Hockerts, Hans Günter (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München, 1998, S.102
[2] Siehe Alex, László: Ökonomische Probleme der Rentenreform von 1957. Frankfurt, 1966, S. 3
[3] Siehe Krause, Peter: Alterssicherung. In Blüm, Norbert / Zacher, Hans F. (Hg.): 40 Jahren Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden, 1989, S.431
[4] Döring, Diether: Das System der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine sozialpolitische Einführung. Frankfurt am Main, 1980, S.12
[5] Siehe Schmähl, Winfried: Beiträge zur Reform der Rentenversicherung. Tübingen, 1988, S.3
[6] Hockerts, Hans Günter: Sicherung im Alter. Kontinuität und Wandel der gesetzlichen Rentenversicherung 1889-1979. In Conze, Werner / Lepsius, M. Rainer (Hg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem. Stuttgart, 1985 (2. Auflage), S.298
[7] Zum so genannten Anwartschaftsdeckungsverfahren siehe Döring 1980, S. 108-109: Bei dieser Sonderform des Kapitaldeckungsverfahrens sollten Beiträge akkumuliert und angelegt werden, um die durch sie entstehenden Anwartschaften zu decken, also die Renten der Beitragszahler später zahlen zu können. Zwar wurde das Anwartschaftsdeckungsverfahren nie konsequent durchgeführt, dem Grundsatz nach war es aber von 1889 bis 1957 in Kraft.
[8] Siehe Krause 1989, S.432
[9] Hockerts 1985, S.299. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag Ende des 19. Jahrhunderts bei 40 Jahren; siehe dazu Pilz, Frank: Der Sozialstaat. Ausbau – Kontroversen – Umbau. Bonn, 2004, S.26
[10] Siehe Döring 1980, S. 16-17
[11] Siehe Alex 1966, S.5. Zweck der Trennung von Arbeiter- und Angestelltenversicherung war unter anderem die Distanzierung der wachsenden Schicht der Angestellten von der Arbeiterbewegung; siehe dazu Hockerts 1985, S.302
[12] Siehe Krause 1989, S.432
[13] Siehe Alex 1966, S.6-7
[14] Siehe Döring 1980, S.21
[15] Siehe Pilz 2004, S.28
[16] Siehe Döring 1980, S.32
[17] Siehe Hockerts 1985, S.306.307
[18] Conrad 1998, S.114
[19] Siehe Nitsche, Michael: Die Geschichte des Leistungs- und Beitragsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung von 1889 bis zum Beginn der Rentenreform. Frankfurt am Main, 1986, S.746
[20] Frerich, Johannes / Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit. München, 1993, S.43
[21] Siehe Hockerts 1985, S.311
[22] Hockerts, Hans Günter: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland: Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957. Stuttgart, 1980, S.171
[23] Siehe Schmähl, Winfried: Rentenversicherung in der Bewährung: Von der Nachkriegszeit bis an die Schwelle zum neuen Jahrhundert. Stationen und Weichenstellungen. In Kaase, Max / Schmid, Günther (Hg.): Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Berlin, 1999, S.400
[24] Siehe Hentschel, Volker: Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880-1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht. Frankfurt am Main, 1983, S.160
[25] Siehe Frerich/Frey, S.43
[26] Hockerts 1980, S.171
[27] Siehe Hinrichs, Karl: Auf dem Weg zur Alterssicherungspolitik – Reformperspektiven in der gesetzlichen Rentenversicherung. In Leibfried, Stephan / Wagschal, Uwe (Hg.): Der Deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven. Frankfurt am Main, 2000, S.276
- Citar trabajo
- Martin Stephan Hagen (Autor), 2006, Die Große Illusion: Die Rentenreformen von 1957 und 1972, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80225
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