Hartz IV, Gesundheitsreform, Rente mit 67 – sozialpolitische Änderungen stehen wie kaum ein anderes Politikfeld im öffentlichen Interesse. Einstimmigkeit besteht darüber, dass der bundesrepublikanische Sozialstaat reformiert werden muss. In welche Richtung aber diese Neuerungen gehen sollen wird von Seiten der politischen und wirtschaftlichen Eliten ebenso wie in der Bevölkerung kontrovers diskutiert.
Die Meinungen der Bürger über mögliche Änderungen im Sozialsystem sind dabei in zweierlei Hinsicht besonders relevant: Zum einen aus legitimationstheoretischen Gesichtspunkten, denn die Bevölkerung stellt im demokratischen System der BRD den Souverän dar, dessen Wille verwirklicht werden soll. Darüber hinaus ist dieser Wille für die Programme der politischen Parteien auch aus der Perspektive der Wählerstimmenmaximierung relevant. Eine andere, ebenfalls sehr grundsätzliche Bedeutung hat die Meinung der Bevölkerung in stabilitätstheoretischer Hinsicht: Die politische Kulturforschung geht davon aus, dass ein System nur dann stabil ist und dauerhaft funktionieren kann, wenn es von einer kongruenten Kultur getragen wird. Die Stabilität der deutschen Sozialsysteme hängt also davon ab, inwiefern sie mit den normativen Vorstellungen der Bürger übereinstimmen.
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Einstellungen der Bürger zu einer möglichen Veränderung des Umfangs sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Anpassung der dazu erforderlichen Finanzierungsinstrumente. Diese Verknüpfung von Input- und Outputseite erhöht die praktische Bedeutung der empirischen Ergebnisse: Die Bürger können keine Optionen wie im „Schlaraffenland“ wählen, sondern werden mit den Finanzierungserfordernissen konfrontiert, die sich aus dem Umfang der gewünschten Sozialleistungen ergeben. Zum anderen ist es Ziel der vorliegenden Untersuchung die Determinanten der sozialstaatlichen Reformbereitschaft näher zu bestimmen. Es geht also darum herauszufinden, wer warum wie stark reformbereit ist, und nicht um eine rein deskriptive Analyse der Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Wohlfahrtstaat – Sozialstaat – Sozialpolitik – Sozialsystem
2.2 Reformbereitschaft
3 Theoretisches Erklärungsmodell: Determinanten der Reformbereitschaft
3.1 Wert- und Interessenorientierungen
3.1.1 Werte und Wertorientierungen
3.1.2 Interessenorientierung
3.2 Demografische und sozio-ökonomische Faktoren
3.3 Informiertheit
4 Datenbasis und Analysemethoden
5 Operationalisierung und Hypothesenformulierung
5.1 Abhängige Variable: Reformbereitschaft
5.2 Unabhängige Variablen
5.2.1 Wertorientierungen
5.2.2 Interessenorientierung
5.2.3 Demografische und sozio-ökonomische Faktoren
5.2.4 Informiertheit
6 Empirische Ergebnisse
6.1 Bivariate Analyse
6.2 Multivariate Analyse
7 Fazit und Ausblick
8 Literatur
9 Anhang
9.1 Studie zur Gesundheitsreform (ZA 4330)
9.1.1 Stichprobenziehung
9.1.2 Fragebogen
9.2 Neugebildete Variablen und Skalen
9.2.1 Reformbereitschaft
9.2.2 Selbstständigkeit
9.2.3 Kinder im Haushalt
9.2.4 Bildung
9.2.5 Links-Rechts-Selbsteinstufung
9.2.6 Informiertheit
9.2.7 Sozialpolitisches Problem als wichtigstes in Deutschland
9.3 Analysen zur Multikollinearität
9.4 Erklärung über Verfasserschaft der Hausarbeit
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Erklärungsmodell
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Reformbereitschaft
Tabelle 2: Korrelationsanalyse
Tabelle 3: Regressionsanalyse
Tabelle 4: Korrelationsmatrix der unabhängigen Variablen .
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Hartz IV, Gesundheitsreform, Rente mit 67 – sozialpolitische Änderungen stehen wie kaum ein anderes Politikfeld im öffentlichen Interesse. Einstimmigkeit besteht darüber, dass der bundesrepublikanische Sozialstaat reformiert werden muss. In welche Richtung aber diese Neuerungen gehen sollen wird von Seiten der politischen und wirtschaftlichen Eliten ebenso wie in der Bevölkerung kontrovers diskutiert (Welzel 1998: 259).
Die Meinungen der Bürger über mögliche Änderungen im Sozialsystem sind dabei in zweierlei Hinsicht besonders relevant: Zum einen aus legitimationstheoretischen Gesichtspunkten, denn die Bevölkerung stellt im demokratischen System der BRD den Souverän dar, dessen Wille verwirklicht werden soll (Grundgesetz Art. 20 Abs. 2). Darüber hinaus ist dieser Wille für die Programme der politischen Parteien auch aus der Perspektive der Wählerstimmenmaximierung relevant (Downs 1957: 11-13, 36-40; Luhmann 1981: 28). Eine andere, ebenfalls sehr grundsätzliche Bedeutung hat die Meinung der Bevölkerung in stabilitätstheoretischer Hinsicht: Die politische Kulturforschung geht davon aus, dass ein System nur dann stabil ist und dauerhaft funktionieren kann, wenn es von einer kongruenten Kultur getragen wird (Almond/ Verba 1972: 4, 13, 476). Die Stabilität der deutschen Sozialsysteme hängt also davon ab, inwiefern sie mit den normativen Vorstellungen der Bürger übereinstimmen (Ullrich 1996: 172-173; Roller 1992: 38).[1]
Die bisherige bundesrepublikanische Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich darauf konzentriert, die Verteilung von sozialpolitischen Einstellungen in der Bevölkerung und deren Veränderung im Zeitablauf zu beschreiben (Krömmelbein/ Nüchter 2006; Andreß et al. 2001: 105-124; Roller 1992). Wenn diese Einstellungen auf ihre Bestimmungsfaktoren hin untersucht wurden, so geschah dies meist unter dem Aspekt möglicher Konflikte in der Bevölkerung, d.h. im Hinblick auf die Frage in welchen Bereichen und in welcher Intensität Staatstätigkeit von verschiedenen Personengruppen gewünscht wird (Roller 2000; Krömmelbein/ Nüchter 2006: 5; Andreß et al. 2001: 125-151).
Der vorliegende Beitrag unterscheidet sich davon in zweierlei Hinsicht: Zum einen konzentriert er sich auf die Einstellungen der Bürger zu einer möglichen Veränderung des Umfangs sozialstaatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Anpassung der dazu erforderlichen Finanzierungsinstrumente. Diese Verknüpfung von Input- und Outputseite erhöht die praktische Bedeutung der empirischen Ergebnisse: Die Bürger können keine Optionen wie im „Schlaraffenland“ (DIA 2004: 62) wählen, sondern werden mit den Finanzierungserfordernissen konfrontiert, die sich aus dem Umfang der gewünschten Sozialleistungen ergeben. Zum anderen ist es Ziel der vorliegenden Untersuchung die Determinanten der sozialstaatlichen Reformbereitschaft näher zu bestimmen. Es geht also darum herauszufinden, wer warum wie stark reformbereit ist, und nicht um eine rein deskriptive Analyse der Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat.
Im Folgenden sollen zunächst die für unsere Zwecke wichtigsten Begriffe inhaltlich geklärt werden. Danach erfolgt die Erarbeitung des theoretischen Erklärungsmodells, das dann durch die empirische Analyse geprüft wird, wobei zunächst bivariate und im Anschluss daran multivariate Auswertungen erfolgen. Abschließend werden aus den gewonnenen Erkenntnissen Folgerungen für die politische Praxis und die Durchsetzbarkeit von Reformen gezogen.
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Wohlfahrtstaat – Sozialstaat – Sozialpolitik – Sozialsystem
Der Wohlfahrtsstaat wird durch den Umfang derjenigen staatlichen Interventionen bestimmt, die die Realisierung von sozio-ökonomischer Sicherheit und Gerechtigkeit bezwecken. Seine inhaltliche Bedeutung ergibt sich also aus zwei abstrakten Zielen: Gerechtigkeit wird hierbei als Ergebnisgleichheit verstanden, während Sicherheit im modernen Wohlfahrtsstaat auf die Sicherung des relativen sozialen Status sowie die Abwesenheit der Möglichkeit zukünftiger Not abstellt (Flora et al. 1977: 722-723; Flora/ Heidenheimer 1987: 24-26; Butterwegge 2001: 15).[2] Der Begriff des Sozialstaats bezeichnet das spezifisch deutsche wohlfahrtsstaatliche Gebilde und wird daher in der Mehrheit der deutschen Literatur wie auch im vorliegenden Beitrag synonym zu dem des Wohlfahrtsstaates gebraucht (Roller 2002: 648).[3]
Das politische Handeln, das durch den Einsatz geeignet erscheinender Instrumente die Ziele des Wohlfahrtsstaates zu erreichen versucht, wird als Sozialpolitik bezeichnet (Lampert/ Althammer 2004: 4; Schmidt 2005b: 15-16). Das Sozialsystem mit seinen Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeeinrichtungen stellt den institutionellen Rahmen der Sozialpolitik dar (Butterwegge 2001: 11, 13).
2.2 Reformbereitschaft
Der Begriff der Reformbereitschaft bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf eine Einstellung gegenüber sozialpolitischen Veränderungsoptionen, es ist also immer sozialpolitische Reformbereitschaft gemeint. Konkret wird damit eine positive Einstellung zu der Möglichkeit bezeichnet, den Leistungsumfangs der sozialen Sicherungssysteme zu Gunsten einer Steuer- und Beitragssenkung abzubauen. Die inhaltliche Ausrichtung des Begriffs Reformbereitschaft auf einen Sozialabbau hin geschieht deshalb, weil die umgekehrte Möglichkeit einer Erhaltung oder gar eines Ausbaus der Sozialleistungen bei gleichzeitiger Steuer- und Beitragserhöhung kaum politisch diskutiert wird.[4]
Da die Reformbereitschaft über den Begriff der Einstellung definiert wird, ist dessen Bestimmung ebenso wichtig: Wie für viele sozialwissenschaftliche Ausdrücke gibt es auch für den der Einstellung keine allgemein anerkannte und gültige Definition (Hartmann/ Wakenhut 1995: 11-12). Die meisten Forscher begreifen Einstellungen als intervenierende Variable zwischen einem Reiz und der Reaktion darauf. Dieser Reiz kann eine konkrete Gegebenheit, eine Person, ein Objekt oder auch ein abstraktes, komplexes Thema sein, während die Reaktionen darauf affektiver, kognitiver oder konativer Art sein können (Rosenberg et al. 1963: 1-3; Eagly/ Chaiken 1993: 10-14; Metz-Göckel 1996: 10-13). Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Analyse der affektiv-bewertenden Reaktionen bezüglich möglicher Änderungen des sozialstaatlichen Gefüges, wobei diese im Folgenden mit Einstellungen bezeichnet werden.[5]
3 Theoretisches Erklärungsmodell: Determinanten der Reformbereitschaft
Zunächst gilt es festzuhalten, dass es in der Forschung zu sozialstaatlichen Einstellungen kein standardmäßiges Erklärungsmodell gibt, das hier einfach übernommen und angewendet werden könnte. Deshalb werden im Folgenden Ansätze der allgemeinen, d.h. nicht spezifisch wohlfahrtsstaatlichen, Einstellungsforschung auf das Feld der Reformbereitschaft übertragen und zu einem Gesamtmodell (Abbildung 1) integriert. Die Herleitung exakter Hypothesen erfolgt aufgrund der unsystematischen Vielfalt der in der Literatur zu findenden Annahmen zusammen mit der Operationalisierung.
3.1 Wert- und Interessenorientierungen
Grundsätzlich werden in den Sozialwissenschaften zwei verschiedene Handlungsorientierungen unterschieden (Pappi/ Laumann 1974: 160; Campbell et al. 1964: 203): Während die einen Wertorientierungen als prägende Determinante von Einstellungen betrachten, schreiben andere diese Rolle der Interessenorientierung zu. Diese Konzepte sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Im Rahmen der späteren Operationalisierung wird dann eine Vielzahl von einzelnen Hypothesen, die in der Literatur diskutiert werden, mit dieser Unterteilung sinnvoll gegliedert.
3.1.1 Werte und Wertorientierungen
Was unter einem Wert zu verstehen ist, ist nicht einheitlich definiert (Lautmann 1969: 7). Eine häufig zitierte Begriffsbestimmung stammt von Kluckhohn, der Werte als Konzepte des Wünschenswerten versteht (Kluckhohn 1967: 395). Van Deth und Scarbrough beschreiben den Begriff ähnlich: “Values engage moral considerations. Values are conceptions of the desirable” (Deth/ Scarbrough 1998: 28). Sie betonen aber stärker die soziale Beschaffenheit von Werten, da sie davon ausgehen, dass Werte nur im sozialen Kontext wirken und auch nur unter dessen Berücksichtigung erforscht werden können (Ebd.: 31). Werte konstituieren sich also in einem sozialen Zusammenhang. Aus Sicht des methodologischen Individualismus ist jedoch nicht die bloße Existenz von Werten in einer Kultur bedeutsam, sondern die Einstellungen des Individuums gegenüber diesen Werten (Rudolph 1959: 164). Im Anschluss an diese Überlegung bezeichnen einige Autoren die Einstellungen zu Werten als Wertorientierungen und grenzen sie so begrifflich vom kulturellen Objekt des Wertes ab (Friedrichs 1968: 74-76; Arzheimer 2005: 286; Bürklin et al. 1994: 581). Dieser Begriffsverwendung soll auch hier gefolgt werden.
Werte werden im Laufe der Sozialisation internalisiert (Klima 1995: 615). Die Soziologie geht dabei davon aus, dass Wertorientierungen, die sich während der primären Sozialisation im Kindes- und Jugendalter herausgebildet haben, im Zuge der sekundären Sozialisation, z.B. im Rahmen des Berufslebens, ergänzt werden können. Die Inhalte der sekundären Sozialisation werden jedoch nur dann vom Individuum übernommen, wenn sie der Grundstruktur seiner primären Sozialisation entsprechen (Berger/ Luckmann 2003: 141, 150-151).[6] Es ist also grundsätzlich möglich, dass Personen durch Erfahrungen in neuen Umwelten, Rollen oder Lebensabschnitten weitere Wertorientierungen entwickeln, eine völlige Abkehr von den bereits verinnerlichten Werten ist jedoch unwahrscheinlich.[7]
Worin liegt nun aber die Bedeutung von Wertorientierungen für die Reformbereitschaft? Im Allgemeinen stellen Wertorientierungen Leitlinien für Entscheidungen dar und haben eine Auswahlfunktion inne (Rokeach 1973: 13-14; Kluckhohn 1967: 395; Deth/ Scarbrough 1998: 30)[8]: Die Herstellung von Prioritäten, die Bevorzugung von bestimmten Dingen gegenüber anderen, ist auf Wertorientierungen zurückzuführen. Sie steuern Einstellungen im Sinne von „hinter ihnen stehenden elementaren Richtungskräften einstellungsbestimmender Natur“ (Klages/ Herbert 1983: 29). Dabei muss betont werden, dass Werte einen normativen Maßstab darstellen. In der Definition des Wohlfahrtsstaats wurde auf das Ziel der Gerechtigkeit Bezug genommen. Das normative Kriterium an dem der Sozialstaat beurteilt wird, ist also die sozio-ökonomische Gerechtigkeit in der Gesellschaft (Roller 1992: 50; vgl. auch Kangas 1997: 478): Je stärker eine Person diese Wertorientierung der Gerechtigkeit, d.h. der Ergebnisgleichheit, hat, desto stärker befürwortet sie den Wohlfahrtsstaat. Dabei ist davon auszugehen, dass die Reformbereitschaft umso geringer ist, je stärker ein Sozialstaat gewünscht wird.
3.1.2 Interessenorientierung
Die Idee, dass Menschen interessengesteuert handeln, steht in der Tradition der Rational Choice-Theorie.[9] Hier soll einem Ansatz von Sears et al. (1979, 1980) gefolgt werden, nach dem Eigeninteresse eine Determinante politischer Einstellungen ist. Demnach entwickeln Individuen Einstellungen auf Basis von Kosten-Nutzen-Kalkülen, d.h. Einstellungen sind instrumentell bezüglich der individuellen Zielerreichung. Um den Begriff der Ziele sinnvoll spezifizieren und von Wertorientierungen abgrenzen zu können, engen Sears et al. (1980: 671) ihn auf kurzfristiges materielles Wohlergehen des Individuums ein. Das Einstellungsobjekt wird entsprechend seiner Eignung zur Erreichung dieser Ziele beurteilt, es wird also ein instrumenteller Maßstab angelegt.
Dieser Maßstab kann durch Bezugnahme auf die Definition des Wohlfahrtstaats über das Ziel der Sicherheit spezifiziert werden: „Interessenorientierung bezüglich des Wohlfahrtsstaats meint dann Nutzen in Hinblick auf die sozio-ökonomische Sicherheit für Ego“ (Roller 1992: 50; vgl. auch Kangas 1997: 477). Der Wohlfahrtsstaat wird also danach bewertet, inwiefern er ein effektives Instrument zur Realisierung der sozio-ökonomischen Sicherheit der eigenen Person ist. Je stärker dies der Fall ist, desto mehr wird ein Sozialstaat für nützlich bzw. notwendig erachtet und desto geringer ist die Bereitschaft sein Ausmaß zu verringern. Die Reformbereitschaft ist demnach bei denjenigen höher, deren Interessen er zuwiderläuft, und geringer bei jenen, denen der Wohlfahrtsstaat zur Verbesserung ihrer sozio-ökonomischen Lage verhilft.
3.2 Demografische und sozio-ökonomische Faktoren
Ein weiterer Block von Einstellungsdeterminanten besteht aus demografischen und sozio-ökonomischen Faktoren. Diese Angaben werden oft zur Operationalisierung der Interessenorientierung verwendet (D`Anjou et al. 1995: S. 357-359; Hasenfeld/ Rafferty 1989: 1030-1031; Hochschild 1979). Da sie jedoch sowohl die Situation und damit die Interessen bestimmen als auch im Zuge der Sozialisation zur Herausbildung bestimmter Wertorientierungen führen, können sie weder der einen noch der anderen Orientierung zugeordnet werden und werden deshalb als eigenständige Determinantengruppe behandelt (Sears et al. 1980: 671-672; Roller 1992: 168; Roller 1994: 113-114; Roller 1998: 102-103).[10]
Abbildung 1: Erklärungsmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene Darstellung
3.3 Informiertheit
In der neueren Einstellungsforschung wird die Rolle des politischen Wissens unter dem Begriff der Informiertheit intensiv diskutiert (für einen Überblick siehe: Schoen 2006). Dabei wird unter Informiertheit der Vorrat politischer Vorstellungen und Ansichten des Bürgers verstanden (Schmitt-Beck 2000: 31). Um den Inhalt dieser Vorstellungen genauer zu spezifizieren, soll die Definition von Wissen herangezogen werden, die in diesem Forschungszweig dominiert: Wissen ist „the range of factual information about politics that is stored in long-term memory“ (Delli Carpini/ Keeter 1996: 10). Bei der Informiertheit geht es also um das politische Faktenwissen von Bürgern.
Die meisten Beiträge untersuchen den Einfluss der Informiertheit auf die Konsistenz und Stabilität von Informationen (Bütschi 2004: 326; Delli Carpini/ Keeter 1996: 227-238). Da in der vorliegenden Arbeit aber weder mehrere Einstellungen noch Veränderungen über die Zeit untersucht werden, soll ein anderer Fokus gesetzt werden: Es wird gefragt, in welche Richtung die Reformbereitschaft sich mit zunehmender Informiertheit entwickelt. Ähnliche Analysen bezüglich sozialpolitischer Reformoptionen ergaben, dass besser informierte Personen auch reformbereiter sind (Boeri et al. 2001: 32-35; DIA 2004: 47-50, 81-83).
4 Datenbasis und Analysemethoden
Die empirische Untersuchung wird mit einem Datensatz durchgeführt, der im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Mannheim zur Gesundheitsreform entstand und beim Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln unter der Nummer ZA4330 archiviert ist. Zwischen Oktober und November 2004 wurden mit 809 Westdeutschen und 403 Ostdeutschen computergestützte Telefoninterviews durchgeführt.[11] Auf Empfehlung der Primärforscher hin, wird bei der Analyse ein Gewichtungsfaktor zur Umwandlung der Haushalts- in eine Personenstichprobe sowie zur Gewichtung des Alters, des Geschlechts und der Regionen Ost- und Westdeutschland verwendet (Pappi/ Shikano 2005: 2-3).
Um die eingangs gestellte Frage nach den Determinanten der Reformbereitschaft empirisch zu klären, werden zwei Verfahren angewandt: Zunächst werden im Rahmen der Korrelationsanalyse bivariate Zusammenhänge zwischen einzelnen unabhängigen Variablen und der Reformbereitschaft berechnet. Im Anschluss daran erfolgt eine multiple lineare Regressionsanalyse, mit der sich berechnen lässt, wie stark der Einfluss einer einzelnen unabhängigen Variable auf die Reformbereitschaft ist, wenn alle anderen unabhängigen Variablen kontrolliert werden.
5 Operationalisierung und Hypothesenformulierung
5.1 Abhängige Variable: Reformbereitschaft
Das Ausmaß der Reformbereitschaft wird durch eine sechsstufige Skala erfasst: Sie reicht von „Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung stark erhöhen, um den Leistungsumfang der sozialen Sicherungssysteme zu erhalten“ als Ausprägung für geringe Reformbereitschaft bis zu „Steuern und Beiträge stark senken, auch wenn dann der Umfang der Sozialleistungen verringert werden muss“ als Ausprägung für hohe Reformbereitschaft.[12] Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Verteilung der Antworten.
Tabelle 1: Reformbereitschaft (Gewünschte Veränderung der Steuern und Beiträge)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dieser Überblick zeigt, dass in der Bevölkerung mehrheitlich so etwas wie eine „mittlere Reformbereitschaft“ vorhanden ist: Mehr als 44% aller Befragten sprechen sich für eine moderate Senkung der Beiträge und Steuern aus, was dafür spricht, dass radikale Sozialeinschnitte überwiegend nicht befürwortet werden. Die Gruppe derer, die die Sozialleistungen - unabhängig davon wie stark - ausbauen möchten, ist mit knapp 28% klar in der Minderheit. Ein weiterer interessanter Befund ist, dass die Zahl derjenigen, die die Sozialleistungen stark ausbauen möchten, sehr gering ist (0,7%) und nur einen Bruchteil derer beträgt, die sich für eine starke Kürzung aussprechen (10,9%). Die Gesamtschau lässt also auf eine moderate Reformbereitschaft schließen.
Die Frage, die hier zur Operationalisierung der Reformbereitschaft verwendet wird, bezieht sich nach einem Konzept von Roller (1992: 41-42) auf die Dimension der Intensität, d.h. auf das gewünschte Ausmaß der Sozialstaatstätigkeit. Demgegenüber betrifft die Dimension der Extensität die Frage, ob der Staat überhaupt für die Realisierung der Ziele sozio-ökonomische Sicherheit und Gerechtigkeit zuständig sein soll. Dies ist eine grundsätzliche Frage und ihre Bejahung wird für die Diskussion um die Intensität vorausgesetzt: Es geht bei der Intensität also darum, in welchem Ausmaß der Staat bei gegebener Zuständigkeit für sozio-ökonomische Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen soll. Dementsprechend wird bei der Hypothesenformulierung davon ausgegangen, dass Personen, die die grundsätzliche staatliche Verantwortung bezweifeln, auch in der Frage der Intensität eine minimalistische Position vertreten.
5.2 Unabhängige Variablen
5.2.1 Wertorientierungen
Da der Wohlfahrtsstaat über die Ziele sozio-ökonomische Sicherheit und Gerechtigkeit definiert wurde, nehmen in diesem Themenkomplex Gerechtigkeitsvorstellungen als eine Art von Wertorientierungen eine besondere Stellung ein. Dementsprechend geht ein Großteil der Literatur davon aus, dass Vorstellungen über gerechte Verteilungsergebnisse und -regeln die wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen beeinflussen (Gangl 1997: 171-172; Krömmelbein et al. 2006: 28; Hasenfeld/ Rafferty 1989: 1029-1030; Ullrich 2000: 136-137). Leider enthält die hier zu Grunde gelegte Datenbasis keine direkten Fragen zu Gerechtigkeitsvorstellungen. Deshalb soll die Kirchgangshäufigkeit als Proxy-Variable dienen[13]: Praktizierende Christen sollten einerseits solidarischen Werten und somit auch den Zielen des Wohlfahrtsstaats positiver gegenüber stehen als andere Personen. Andererseits wäre eine größere Zustimmung zum Subsidiaritätsprinzip möglich, das in der katholischen Soziallehre entwickelt wurde und später Eingang in die gesamte christliche Ideengeschichte fand: Danach ist in sozialen Notlagen zunächst einmal die kleinere Einheit, d.h. die Familie oder eine andere Gruppe, für deren Lösung zuständig und nur wenn diese an ihre Grenzen stößt, kommt dem Staat eine Fürsorgepflicht zu (Mäder 2000: 20-24).[14]
Mit steigender Kirchgangshäufigkeit kann sowohl eine erhöhte [H 1a] als auch eine verringerte Reformbereitschaft [H 1b] einhergehen.
Ergänzend werden hier die Wertorientierungen über weitere allgemeine Prädispositionen operationalisiert, von denen angenommen wird, dass sie Einstellungen wesentlich beeinflussen (Sears et al. 1980: 671). Eine dieser Prädispositionen ist die Parteiidentifikation, deren Bedeutung für die Reformbereitschaft daraus erwächst, dass sich die Parteien hinsichtlich ihrer sozialstaatlichen Konzeptionen teilweise deutlich voneinander unterscheiden (Gangl 1997: 176-177; Roller 1999: 240; Roller 2000: 95). Als energischste Befürworter eines starken Wohlfahrtsstaates müssten sich dabei die Anhänger der PDS erweisen, da sie als einzige Partei für einen generellen Ausbau der Sozialleistungen und starke planwirtschaftliche Elemente eintritt.[15] Die SPD hat sich zwar von ihrer traditionellen Bindung an das Arbeiterlager gelöst und unter Schröder neue Wege der Liberalisierung beschritten, dennoch strebt sie einen im Vergleich zur Unionsposition stärkeren Sozialstaat an. CDU/ CSU haben das bundesrepublikanische Wohlfahrtsstaatsmodell entscheidend geprägt und befürworten es bis heute, wenn sie auch die Rolle der Eigenverantwortung stärker betonen als die SPD. Die FDP gilt als diejenige deutsche Partei, die einer staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit grundsätzlich skeptisch gegenübersteht und die Überbelastung durch Sozialabgaben und Steuern am stärksten thematisiert (Roller 1999: 230-231; Schmidt 2005a: 89-95). Bündnis 90/ Die Grünen sind als linke Partei ebenfalls Befürworter der staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit (Roller 1999: 230-231), aus ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen ließe sich jedoch schließen, dass ihre Anhänger sich in geringerem Umfang als die der SPD gegen Sozialabbau sträuben (Roller/ Westle 1987: 236; Schmidt 2005a: 95). Andererseits befürworten die Grünen als Partei, die aus dem Wandel hin zu postmaterialistischen Werten entstanden ist, die Möglichkeiten individueller Selbstentfaltung, als deren Voraussetzung die Existenz eines Wohlfahrtsstaats gesehen werden kann (Mayer/ Müller 1989). Insgesamt wird daher unter den grünen Parteiidentifizierern eine ähnlich geringe Reformbereitschaft erwartet wie unter denen der SPD.[16]
Zusammenfassend wird also erwartet, dass die Reformbereitschaft von den Anhängern der PDS über die der SPD, der Grünen, der Unionsparteien bis zu denen der FDP zunimmt. [H 2]
Ebenso wie die Parteiidentifikation kann die Links-Rechts-Selbsteinstufung zur Operationalisierung der Wertorientierungen verwendet werden (Sears et al. 1980: 673; Roller 1992: 168-169). Klassische linke und rechte Politik unterscheiden sich in der Antwort auf die Frage, wie Ressourcen verteilt werden: über den Staat oder über den freien Markt. Im Extremfall geht es also um die Entscheidung zwischen Sozialismus und Kapitalismus.[17] Der Sozialstaat verteilt Ressourcen um und greift so in das Ergebnis der Verteilung über den Markt ein. Je stärker ausgeprägt das konkrete Wohlfahrtsstaatsregime ist, desto weiter links ist die ihm zu Grunde liegende Politik einzuordnen (Sihvo/ Uusitalo 1995: 253).
Demnach sollte die Reformbereitschaft umso höher sein, je weiter rechts sich eine Person einordnet. [H 3]
5.2.2 Interessenorientierung
Wie im theoretischen Teil erläutert, wird der Sozialstaat durch den instrumentellen Maßstab der sozio-ökonomischen Sicherheit beurteilt. Dabei geht es um das eigene Interesse daran, gegen mögliche Risiken abgesichert zu sein. Hierzu liegt ein Item vor, das erfasst, ob der Befragte seinen Arbeitsplatz für gefährdet hält oder nicht. Droht Arbeitslosigkeit, so nützt der Sozialstaat den eigenen sozio-ökonomischen Sicherheitsinteressen.
Wenn der Befragte seinen Arbeitsplatz für gefährdet hält, sollte die Reformbereitschaft sinken. [H 4]
Ein weiteres Maß zur Interessenorientierung ist die Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland.[18] Es ist davon auszugehen, dass die Lösung dieses wichtigsten Problems für den Befragten Priorität hat. Die Erhaltung oder gar der Ausbau der Sozialleistungen kann ein geeignetes Mittel hierfür sein.
Es wird erwartet, dass die Reformbereitschaft sinkt, wenn der Befragte ein sozialpolitisches Problem als wichtigstes Problem in Deutschland ansieht. [H 5]
5.2.3 Demografische und sozio-ökonomische Faktoren
Im theoretischen Teil wurde argumentiert, dass demografische und sozio-ökonomische Faktoren sowohl die Situation und damit die Interessen bestimmen als auch im Zuge der Sozialisation zur Herausbildung bestimmter Wertorientierungen führen. Deshalb soll nun für jede der untersuchten Variablen dieser Gruppe sowohl ihr Sozialisations- als auch ihr Situationseinfluss erörtert werden.
Eine wichtige Variable ist sicher die Region Deutschlands, in der der Befragte lebt. Erhoben wurde diese Angabe durch die Frage nach dem Bundesland, in dem der Befragte wahlberechtigt ist. Der Sozialisationseinfluss dieses Faktors wird bereits deutlich, wenn man bedenkt, dass die Bürger von Ost- und Westdeutschland mehr als 40 Jahre in verschiedenen Staaten mit völlig verschiedenen Wirtschafts- und Sozialsystemen gelebt haben: Die DDR verfügte über einen umfassenden, auf die sozialistisch-planwirtschaftliche Wirtschaftsordnung ausgerichteten Wohlfahrtsstaat, der das Recht auf Arbeit umfasste und als autoritär-paternalistisch bezeichnet werden kann (Schmidt 2004: 143-150). Demgegenüber betonte das bundesrepublikanische System der sozialen Marktwirtschaft in stärkerem Maße Leistungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung. In der vergleichenden Forschung wird unter dem Begriff der Regimehypothese diskutiert, ob die länderspezifische Ausprägung des Wohlfahrtsstaats die öffentliche Meinung dahingehend beeinflusst, dass sich Wertorientierungen in Übereinstimmung mit dem nationalen Sozialstaatsmodell herausbilden (Svallfors 1997: 291, 295-296; Jaeger 2006: 157-160; siehe auch Rothstein 1998). Dieser Hypothese nach, müssten also die ostdeutschen Bürger stärker egalitär orientiert sein als die westdeutschen und damit einen stärker ausgeprägten Sozialstaat bevorzugen.[19]
In welchem Teil Deutschlands man lebt, beeinflusst darüber hinaus wesentlich die sozio-ökonomische Lage: In Ostdeutschland ist die wirtschaftliche Situation schlechter, die Arbeitslosigkeit ist höher, die Löhne sind niedriger (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2006: 9-170). Dabei handelt es sich aber in erster Linie um Kompositionseffekte, die sich durch Kontrolle anderer sozio-ökonomischer Variablen wie Arbeitslosigkeit oder Einkommen herausrechnen lassen (Welzel 1998: 250-251; Pollack 1998: 304). Ein genuiner Regioneneffekt liegt jedoch in der Gefahr arbeitslos zu werden, die in den neuen Bundesländern größer ist als in den alten. Diese objektive Gefährdungslage verbindet sich mit den verunsichernden Erfahrungen der Transformation (Krömmelbein 1996: 120-132; Rüther 1993: 3) sowie dem Gefühl der Ostdeutschen, kollektiv benachteiligt und als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt zu werden (Pollack/ Pickel 1998: 18-22; Wagner 1997). Diese objektiven wie subjektiven Komponenten zeigen, dass die Ostdeutschen sich in größerer sozio-ökonomischer Unsicherheit als die Westdeutschen befinden und deshalb ein stärkeres Interesse an einem starken und großzügig ausgestalteten Sozialstaat haben.
Die Reformbereitschaft der Ostdeutschen sollte daher geringer sein als die der Westdeutschen. [H 6]
Eine weitere wichtige demografische Variable ist das Alter. Um Vergleichbarkeit herzustellen, wurden sowohl die west- als auch die ostdeutschen Befragten in vier Generationen unterteilt: 18 bis 34 Jahre (Geburtsjahrgänge 1970 bis 1986), 35 bis 49 Jahre (1955 bis 1969), 50 bis 59 (1945 bis 1954) sowie 60 Jahre und älter (bis 1944).[20]
In Deutschland ergibt sich bei den Sozialisationseinflüssen des Alters eine Überlagerung von generationen- und regionenspezifischen Effekten: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wurde vor der Wiedervereinigung und damit in verschiedenen Systemen sozialisiert. Innerhalb der Regionen wiederum ist die Wandlung der Wohlfahrtsstaatsideologie bedeutsam, d.h. die Frage welche sozialpolitischen Orientierungen in der Phase der primären Sozialisation einer Generation dominierten (Andreß et al. 2001: 41-42; Herrmann 1991: 240-242). In Westdeutschland ist für die beiden ältesten Generationen eine hohe Zustimmung zu einem starken Sozialstaat zu erwarten, da sie in Zeiten der sozialstaatlichen Expansion sozialisiert wurden und von ihr profitiert haben (Krömmelbein et al. 2006: 25; IGSF 2001: 12). Die beiden jüngeren Generationen sind dagegen mit der Diskussion um die Finanzierbarkeitskrise des Wohlfahrtsstaats aufgewachsen, weshalb bei ihnen von einer größeren Reformbereitschaft ausgegangen werden kann (Roller 2000: 88-89). In Ostdeutschland kann bei der ältesten Altersgruppe eine besonders große Identifikation mit der DDR angenommen werden und eine dementsprechende Unterstützung eines starken Sozialstaats nach sozialistischem Vorbild. Die nachfolgenden Generationen wurden bereits in den Wohlfahrtsstaat der DDR hineingeboren und trugen nicht zu seinem Aufbau bei, weshalb ihre Wertorientierungen sich weniger stark an ihm ausgerichtet haben sollten (Andreß et al. 2001: 41-42).
Zusammenfassend kann man also in beiden Teilen Deutschlands von einem Sozialisationseinfluss des Alters dergestalt ausgehen, dass die Reformbereitschaft mit zunehmendem Alter sinkt. [H 7a]
Die Einflüsse des Alters auf die Situation der Person können als Lebenszykluseffekte verstanden werden. Im Zusammenhang mit dem Sozialstaat wird hier seit längerem ein möglicher Generationenkonflikt über die Verteilung von Kosten und Leistungen diskutiert (Alber 1984: 246-247; Roller 2000: 96; Dallinger 2005). Die älteste Generation konsumiert durch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und durch den Empfang von Renten oder Pensionen verstärkt Sozialleistungen, weshalb sie ein Interesse an deren großzügiger Ausgestaltung hat (Ahlstich 1999: 106-107). Andererseits haben Reformen, die erst in der Zukunft greifen, aufgrund des fortgeschrittenen Alters keine Auswirkung mehr auf diese Personen, weshalb ihre Reformbereitschaft steigen dürfte (Krömmelbein et al. 2006: 25). Die Generation der 50- bis 59-Jährigen ist in der Lebensphase, in der das Armutsrisiko typischerweise am geringsten ist. Demgegenüber befindet sich die zweijüngste Generation (35 bis 49 Jahre) in dem Alter, in dem oftmals finanziell abhängige Kinder zu unterhalten sind und in dem Sozialleistungen wie Kindergeld empfangen werden (Svallfors 1991: 620). Gleichzeitig wird diese Generation aber stark durch Sozialabgaben belastet und kommt nicht mehr in den Genuss von sozialstaatlichen Leistungen wie z.B. der Frührente. Für die 18- bis 34-Jährigen gilt, dass sie einerseits ein großes Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko haben, dass sie andererseits aber zukünftig noch stärker überproportional belastet würden, falls keine Sozialreformen in Gang gesetzt werden (Andreß et al. 2001: 46-47). Zusammenfassend kann also davon ausgegangen werden, dass bezüglich der durch das Alter determinierten Lebenssituation und der Reformbereitschaft ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang besteht:
Aufgrund von Lebenszykluseffekten sollten die jüngste und älteste Generation weniger reformbereit sein als die beiden mittleren Generationen. [H 7b]
Das Geschlecht stellt eine weitere demografische Variable dar, die für die Reformbereitschaft bedeutsam ist. Seinen Sozialisationseinfluss entfaltet dieser Faktor über eine am klassischen Geschlechterbild angelehnte Erziehung: Während Mädchen eher solidarische, fürsorgende Werte vermittelt bekommen, richten sich Jungen nach individualistischen, wettbewerbsorientierten Werten (Andreß et al. 2001: 42-43; D´Anjou et al. 1995: 362).[21] Außerdem wird postuliert, dass Frauen sich häufiger um soziale und gesundheitliche Probleme und die davon betroffenen Menschen kümmern, und so eine größere Sensibilität für sozialpolitische Themen entwickeln (Svallfors 1997: 290; Ahlstich 1999: 108). Darüber hinaus ist die sozio-ökonomische Lage von Frauen schlechter als bei Männern, weshalb sie eher von sozialstaatlichen Leistungen abhängen: Dies betrifft nicht nur höhere Arbeitslosigkeit oder schlechtere Bezahlung (Hinz/ Gartner 2005), sondern auch ein spezifisch weibliches Armutsrisiko, das durch Abhängigkeit vom männlichen Haupternährer entsteht (Svallfors 1991: 623). Ein weiterer Aspekt des Interesses am Wohlfahrtsstaat ergibt sich daraus, dass traditionellerweise Frauen die Pflege und Kinderbetreuung in der Familie übernehmen und sie durch das öffentliche Angebot solcher Dienstleistungen von dieser Pflicht entbunden werden und somit mehr Freiheit erhalten (Ebd.). Insgesamt ist also zu erwarten, dass Frauen sowohl aufgrund ihrer Interessen als auch aufgrund ihrer Wertorientierungen ein stärkeres Interesse an großzügigen Sozialleistungen haben.
Deshalb ist davon auszugehen, dass Frauen weniger reformbereit sind als Männer. [H 8]
Eine wichtige sozio-demografische Variable ist Bildung: Schule, Ausbildung und Hochschule sind Instanzen der sekundären Sozialisation (Fuchs-Heinritz 1995). Dabei gehen die einen Autoren davon aus, dass Bildung einen Aufklärungseffekt hat, dass also mit steigender Bildung eine größere Vertrautheit mit Gleichheit als positivem Wert eintritt, was zur Befürwortung der Ziele des Wohlfahrtsstaats führt (Robinson/ Bell 1978: 129; Hasenfeld/ Rafferty 1989: 1031). Demgegenüber wird von anderen Autoren angeführt, dass Erfolge im Bildungssystem zur Herausbildung von leistungsorientierten Ideologien führen, was in einer Ablehnung sozialstaatlicher Interventionen münden müsste (Andreß et al. 2001: 44). Die gleiche Schlussfolgerung ergibt sich aus der Möglichkeit, dass Bildung über die Steigerung der kognitiven Kompetenzen zu einer allgemein kritischen Sichtweise gegenüber staatlichen Leistungen und Eingriffen führt (Ahlstich 1999: 110). Ebenso ist es möglich, dass höher Gebildete mehr „cognitive sophistication“ (Hasenfeld/ Rafferty 1989: 1031) aufweisen und zwar den abstrakten Zielen der Gleichheit und Gerechtigkeit zustimmen, ihre Realisierung durch konkrete Programme jedoch interessengeleitet ablehnen. Diese Hypothese verweist bereits auf die enge Verbindung von Bildung und sozio-ökonomischer Situation: Mit der Bildung steigen die Berufschancen und üblicherweise auch das Einkommen. Dies ist im Fall der vorliegenden Untersuchung von besonderer Bedeutung, da das Einkommen nicht erfragt wurde. Hohe Einkommen führen dazu, dass sozialstaatliche Umverteilungen dem Eigeninteresse zuwider laufen: Bezieher hoher Einkommen werden einerseits stärker durch Abgaben und Steuern belastet und haben andererseits, insbesondere bei sozialstaatlichen Programmen mit Bedürftigkeitsprüfung, keine oder weniger Ansprüche auf Leistung (Gangl 1997: 176). Um das Humankapital, das über Berufs- und Einkommenschancen entscheidet, vollständig erfassen zu können, wurde ein Index aus schulischer und beruflicher Bildung erstellt (Brauns/ Steinmann 1997; Gangl 1997: 176).[22]
Die meisten Argumente sprechen also dafür, dass mit zunehmender Bildung sowohl Wert- als auch Interessenorientierung zu einer größeren Reformbereitschaft führen. [H 9]
[...]
[1] Mit Hilfe der Systemtheorien Eastons (1965) sowie der von Almond und Powell (1978) kann darüber hinaus sogar argumentiert werden, dass nicht nur die Stabilität der Sozialsysteme von ihrer Unterstützung abhängt, sondern auch die Stabilität und Legitimität des gesamten politischen Systems (Roller 1992: 23-28, 52-54).
[2] Gegenüber anderen Definitionen des Wohlfahrtsstaates, die konkrete Instrumente aufzählen oder auf nationale Ausprägungen Bezug nehmen (Wilensky 1975: 1), hat diese hier den Vorteil, dass sie nicht an historische Gegebenheiten geknüpft ist, sondern abstrakt bleibt und damit dynamisch anwendbar ist. Ähnlich argumentieren Lampert und Althammer bezüglich der Definition von Sozialpolitik (Lampert/ Althammer 2004: 3-4).
[3] Gleichwohl ist diese synonyme Begriffsverwendung theoretisch nicht unumstritten (Butterwegge 2001: 12-14). Darüber hinaus konnte empirisch gezeigt werden, dass im Alltagsverständnis der Wohlfahrtsstaat als umfassendere Version des Sozialstaats begreift (Roller 1992: 59-68).
[4] Dabei handelt es sich nicht um eine kurzfristige politische Modeerscheinung, sondern um eine seit Mitte der 70er-Jahre anhaltende Krisendiskussion um die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaats (Roller 2000: 88-89).
[5] Diese Eingrenzung erfolgt zum einen aufgrund der Items, die in der hier genutzten Studie verwendet wurden. Zum anderen ist diese Begrenzung auch theoretisch begründbar: Vertreter des Ein-Komponenten-Modells argumentieren, dass affektive Reaktionen entscheidend seien und daher Einstellungen mit Bewertungen gleichzusetzen sind (Fishbein 1967: 258). Außerdem konnte immer wieder gezeigt werden, dass die Beziehung zwischen Einstellungen und tatsächlichem Verhalten nicht sehr eng ist, so dass eine konative Reaktion auf einen Stimulus nicht als Abbild von Einstellungen gelten kann (Fishbein/ Ajzen 1975).
[6] Einen Ausnahmefall stellt die „Verwandlung“ dar, bei der im Zuge einer Resozialisation die Inhalte der primären Sozialisation demontiert werden (Berger/ Luckmann 2003: 167-172).
[7] Hier soll jedoch nicht, wie dies oftmals in der politikwissenschaftlichen Forschung unter der Bezeichnung „Sozialisationshypothese“ geschieht, die Annahme vertreten werden, dass Wertorientierungen im Kindes- und Jugendalter erworben werden und sich danach grundsätzlich nicht mehr verändern (Bürklin et al. 1994: 583; Almond et al. 2004: 52; Almond/ Verba 1972: 14).
[8] Van Deth/ Scarbrough kritisieren zwar die funktionale Definition von Werten aufgrund ihres tautologischen Risikos (Deth/ Scarbrough 1998: 27), die Bedeutung von Werten für die Alternativenauswahl bestreiten sie jedoch nicht (Ebd.: 30).
[9] Zur Unterscheidung des neoklassischen Versiondes Homo Oeconomicus vom offeneren REMM-Modell und zu dessen näherer Erläuterung vgl. Kunz 2004.
[10] Eine Zuordnung der sozio-ökonomischen Variablen zu Situations- und Sozialisationseinflüssen hat ungenaue, bzw. aufgrund ihrer Vermengung nicht falsifizierbare Hypothesen zur Folge (siehe z.B.: Andreß et. al. 2001: 79-93; Krömmelbein et. al. 2006: 24-29, 39-43). Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass diese Variablen die „objektive“, tatsächliche soziale Lage abbilden. Der subjektiven, wahrgenommenen Lage wird zwar eine größere Bedeutung zugesprochen, man kann aber davon ausgehen, dass diese Wahrnehmung von den tatsächlichen Gegebenheiten beeinflusst wird (Robinson/ Bell 1978: 128-129).
[11] Erläuterungen zur Stichprobenauswahl und der Fragebogen befinden sich im Anhang unter 9.1.
[12] Zur Skalenkonstruktion siehe Anhang 9.2.1.
[13] In Deutschland ist weniger von einem Unterschied zwischen den Konfessionen auszugehen (Andreß et al. 2001: 36 Fußnote 24) als eher von einem zwischen praktizierenden Christen und anderen.
[14] Zum Subsidiaritätsprinzip im deutschen Sozialstaat vgl. Ullrich 2005: 51.
[15] Eine Parteiidentifikation mit der WASG wurde nicht erhoben. Die Partei wurde im Januar 2005 gegründet, die Daten, die hier zu Grunde gelegt werden, wurden jedoch zwischen Oktober und November 2004 erhoben.
[16] Da nur fünf Personen angaben, sich mit NPD, DVU oder den Republikanern zu identifizieren, wird für diese Ausprägung der Parteiidentifikation keine Hypothese formuliert und keine Analyse durchgeführt.
[17] Mit dem Aufkommen der neuen Linke wurde sich dieser ökonomische Konflikt um die gesellschaftspolitische Kontroverse zwischen Liberitarismus und Autoritarismus ergänzt (Kitschelt 1994: 9-12). Zur Konstruktion der Links-Rechts-Skala siehe Anhang 9.2.5.
[18] Zur Zuordnung von Problemen zum Bereich der Sozialpolitik siehe Anhang 9.2.7.
[19] Eine wichtige Ergänzung dieser These ist, dass die Wertorientierungen der Jüngeren, die nicht in der DDR aufgewachsen sind, durch die Erziehung ihrer Eltern wesentlich beeinflusst werden und sich dadurch der sozialisatorische Einfluss der DDR quasi „vererbt“ (Pickel 2006: 107).
[20] Die Einteilung der Generationen erfolgte in Anlehnung an Dallinger 2005, wobei aufgrund der Kategorisierungen im Datensatz leichte Abweichungen vorgenommen werden mussten.
[21] Die Behauptung einer geschlechterspezifischen Sozialisation wird teilweise als veraltet dargestellt und kann diesbezüglich sicherlich kritisiert werden (Bilden 1991: 297-301).
[22] Zur Indexkonstruktion siehe Anhang 9.2.4.
- Citation du texte
- Magistra Artium Eva Christensen (Auteur), 2006, Determinanten der sozialstaatlichen Reformbereitschaft der Bürger in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80168
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.