„Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen.“ Dieses berühmte Zitat des Autors aus dem Jahre 1974 beschreibt die Intention des Werkes „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sehr treffend. Das Werk kann als Bölls literarischer Beitrag zur Gewaltdebatte der 70er Jahre gedeutet werden. Der Untertitel „wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ verweist auf die publizistische Gewalt, die Böll anhand des Werkes offen legt und kritisiert. „Publizistik ist nicht nur ein zunehmend wichtiger Seitenstrang von Bölls schriftstellerischer Arbeit, sie wird – vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Wirkung – konsequenterweise auch zum Gegenstand seines Erzählens.“ Dabei schöpft Böll aus persönlichen Erfahrungen mit der Pres-se seiner Zeit. (...)
In der vorliegenden Arbeit zum Thema „Grenzüberschreitungen in Heinrich Bölls „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum““ soll an ausgewählten Beispielen die Bedeutung von Grenzüberschreitungen für das Werk herausgearbeitet werden. Grenzüberschreitungen werden dabei als ein Übertreten geltender, moralischer und gesellschaftlicher sowie persönlicher Grenzen definiert. Diese Grenzen bilden sich aufgrund ethischer und moralischer Vorstellungen heraus und definieren den Lebens- und Handlungsraum des einzelnen Menschen.
Anschließend wird der Versuch einer kategorischen Darstellung der im Werk vorkommenden Grenzüberschreitungen unternommen. Aufbauend auf diese, sich als ergebnislos erweisende Darstellung, wird ein Kommu-nikations-Modell entworfen, das die verschiedenen Instanzen der im Werk erscheinenden Grenzüberschreitungen darstellt. Die agierenden Instanzen „Wirtschaft“, „Polizei“, „Öffentliche Meinung“, „Katharina Blum (KB) als Empfänger“ und „Presse“ werden darin visuell zueinander in Relation gesetzt.
(...)
Im Analyseteil der Arbeit werden, ausgehend von den einzelnen Instanzen, die formalen, personalen und institutionellen Grenzüberschreitungen an Textstellen belegt. Dabei gelten die Verbindungen innerhalb des Mo-dells als Richtlinie für die Intention von Grenzüberschreitungen.
(...)
Nach einer eingehenden Analyse der im Werk als Grenzüberschreitungen zu wertenden Textstellen wird das zu Beginn entworfene Kommunikati-ons-Modell ausführlich beschriftetet und die Ergebnisse der Analyse visualisiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den quantitativ überwie-genden Grenzüberschreitungen der Presse. (...)
Inhalt
1. Einleitung
2. Methode und Forschungsstand
3. Entstehungsgeschichte des Werkes „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum“
4. Der „Spiegel“-Artikel und die Reaktionen der Öffentlichkeit
Theorieteil
5. Allgemeine Definition von Grenzen und Grenzüberschreitung ...
5.1. Entstehung von Grenzen aufgrund von Moralvorstellungen
5.2. Ethik - eine Definition
5.2.1. Ebenen der philosophischen Ethik
5.2.2. Moral als Grundlage der Ethik
5.3. Grenzen als Sicherheit
5.4. Beispiele für positive Grenzüberschreitung
6. Die Institution der Presse: Sensationsjournalismus - Investigativer Journalismus
6.1. Investigativer Journalismus
6.2. Sensationsjournalismus
6.3. Veränderung des Journalismus
6.4. Aufgabe und Rolle des Journalisten
7. Öffentliche Meinung als Spiegel der vorhandenen Grenzen einer Gesellschaft
7.1. Definition Öffentliche Meinung
7.2. Öffentliche Meinung versus Veröffentlichte Meinung
7.3. Massenmedien als Repräsentanten der Öffentlichkeit
7.4. Öffentliche Meinung als Spiegel der geltenden Grenzen?
7.5. Der Skandal als wichtigstes Element des Sensationsjournalismus’
7.6. Merkmale eines Skandals
7.6.1. Dramatisierung als Schlüssel zum Skandal
7.6.2. Ursprung des Skandals
7.6.3. Rollenverteilung eines gelungenen Skandals
7.6.4. Folgen des Skandals
7.6.5. Nutzen des Skandals
Analyse
8. Kategorische Darstellung der Grenzüberschreitungen im Werk..
9. Kommunikations-Modell zu Grenzüberschreitung der verschiedenen Instanzen
9.1. Formale Grenzüberschreitungen
9.1.1. Der allwissende Erzähler
9.1.2. Bedeutung der Sprache in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“
9.1.3. Der Titel und seine Bedeutung
9.1.4. Sprachliche Merkmale sensationsjournalistischer Darstellung.
9.1.5. Satirische Darstellung als Grenzüberschreitung
9.2. Personale Grenzüberschreitungen
9.2.1. Personen öffentlicher Institutionen
9.2.2. Die Gruppe der Freunde der Katharina Blum
9.2.3. Ludwig Götten
9.2.4. Die Protagonistin Katharina Blum
9.2.4.1. Charakterisierung aus der Perspektive des Erzählers
9.2.4.2. Charakterisierung durch die Presse
9.2.5. Die finale Grenzüberschreitung der KB
9.3. Die Unmöglichkeit des Nicht-Reagierens
9.4. Institutionelle Grenzüberschreitung
9.4.1. Instanz „Wirtschaft“
9.4.2. Instanz „Polizei“
9.4.3. Öffentliche Meinung - eine abstrakte Instanz
9.4.4. Die Instanz „Presse“
9.4.4.1. Erfolg und Einfluss der Medien
9.4.4.2. Verbindungen der Presse
9.4.4.3. Die Rolle des Journalisten im Werk
9.4.4.4. Publizistische Gewalt bei Böll
9.4.4.5. Beispiele für verbale Gewalt und Verleumdung
9.4.4.5.1. Methoden der Wahrheitsverfälschung
9.4.4.5.2. Der Skandal in der „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“
9.4.4.5.3. Gewaltandrohung und unlautere Recherchemethoden
9.4.4.5.4. Verleumdung und Verdrehung
9.4.5. Grenzüberschreitungen im dargestellten Sensationsjournalismus
10. Ausführlich erarbeitetes Kommunikations-Modell
11. Fazit
12. Schlussbemerkung
Literaturangaben
1. Einleitung
„Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohr- feigen und Pistolen.“ Dieses berühmte Zitat des Autors aus dem Jahre 1974 beschreibt die Intention des Werkes „Die verlorene Ehre der Katha- rina Blum“ sehr treffend. Das Werk kann als Bölls literarischer Beitrag zur Gewaltdebatte der 70er Jahre gedeutet werden. Der Untertitel „wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ verweist auf die publizistische Ge- walt, die Böll anhand des Werkes offen legt und kritisiert. „Publizistik ist nicht nur ein zunehmend wichtiger Seitenstrang von Bölls schriftstelleri- scher Arbeit, sie wird - vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer politi- schen Wirkung - konsequenterweise auch zum Gegenstand seines Er- zählens.“1 Dabei schöpft Böll aus persönlichen Erfahrungen mit der Pres- se seiner Zeit.
Als Mitglied der APO schlägt Böll sich während der Demonstrationen der 60er Jahre auf die Seite der Studenten und schließt sich als Mitglied der „Gruppe 47“ einem Boykott gegen die Springer-Presse an und fordert eine öffentliche Diskussion über deren Methoden. Als am 23. Dezember 1971 in der „Bild“-Zeitung über einen bewaffneten Banküberfall berichtet und die terroristische Gruppierung um Ulrike Meinhof (RAF) ohne Indizien dafür verantwortlich gemacht wird, sieht Böll seine Chance, die Diskussion zu eröffnen. Dafür verfasst er einen Artikel, in dem er die Methoden der „Bild“-Zeitung als Verleumdung und Lynchjustiz verurteilt. Außerdem for- dert er Fairness und Gnade für die Terroristen. Am 10. Januar 1972 er- scheint der Artikel unter dem Titel „Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?“2 im „Spiegel“ und sorgt fortan für eine heftige Diskussion.
Doch diese Debatte richtete sich nicht, wie von Böll erhofft, gegen die Methoden der Springer-Presse, sondern gegen den Verfasser des Artikels, Böll selbst. Seine Bitte um Gerechtigkeit und die Warnung vor einer Menschenjäger-Mentalität wird - gewollt? - falsch verstanden und er selbst wird Objekt hetzerischer Pressekampagnen. Als 1974 „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ erscheint, wird seine Intention des Werkes als Rache an der Sensationspresse seiner Zeit interpretiert. Die hohen Verkaufszahlen sprechen dafür, dass das Werk eine Wirklichkeit trifft, die unmissverständlich und für jedermann präsent ist: Die verleumderische Gewalt der Medien auf die Öffentliche Meinung und einzelne Gruppierungen oder Individuen.
In der vorliegenden Arbeit zum Thema „Grenzüberschreitungen in Hein- rich Bölls „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum““ soll an ausgewählten Beispielen die Bedeutung von Grenzüberschreitungen für das Werk her- ausgearbeitet werden. Grenzüberschreitungen werden dabei als ein Über- treten geltender, moralischer und gesellschaftlicher sowie persönlicher Grenzen definiert. Diese Grenzen bilden sich aufgrund ethischer und mo- ralischer Vorstellungen heraus und definieren den Lebens- und Hand- lungsraum des einzelnen Menschen.
Meine These, dass Grenzüberschreitungen im Werk unumgänglich sind, soll am Text belegt werden. Es soll gezeigt werden, dass es nicht möglich ist, über einen längeren Zeitraum keine Grenzen zu übertreten. Grenz- überschreitung wird hier als reaktive Handlung definiert, die auf vorange- gangene Taten folgen muss. Die Unmöglichkeit, sich einer solchen reakti- ven Grenzüberschreitung zu entziehen, soll an ausgewählten Textstellen nachgewiesen werden.
Durch eine Anhäufung von Grenzüberschreitungen wird eine gewalttätige Reaktion verständlich gemacht mit dem Ziel, Gnade für die handelnde Person zu erreichen. Interessanterweise ist die Diskussion um Gnade für ehemalige Mitglieder der RAF auch oder wieder ein äußerst kontroverses Thema. Daher erscheint mir die Betrachtung der dargestellten Grenzüber- schreitungen, mit Hilfe derer Gnade propagiert wird, sehr interessant.
Im Theorieteil der Arbeit werden grundlegende Begriffe aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft erläutert, die die spätere Analyse an- hand eines Kommunikations-Modells vorbereiten. Die Methoden eines Skandals gelten als Grundlagen zum Verständnis der erarbeiteten Ergeb- nisse der Analyse.
Anschließend wird der Versuch einer kategorischen Darstellung der im Werk vorkommenden Grenzüberschreitungen unternommen. Aufbauend auf diese, sich als ergebnislos erweisende Darstellung, wird ein Kommu- nikations-Modell entworfen, das die verschiedenen Instanzen der im Werk erscheinenden Grenzüberschreitungen darstellt. Die agierenden Instanzen „Wirtschaft“, „Polizei“, „Öffentliche Meinung“, „Katharina Blum (KB) als Empfänger“ und „Presse“ werden darin visuell zueinander in Relation ge- setzt.
Im Analyseteil der Arbeit werden, ausgehend von den einzelnen Instanzen, die formalen, personalen und institutionellen Grenzüberschreitungen an Textstellen belegt. Dabei gelten die Verbindungen innerhalb des Modells als Richtlinie für die Intention von Grenzüberschreitungen. Nach einer eingehenden Analyse der im Werk als Grenzüberschreitungen zu wertenden Textstellen wird das zu Beginn entworfene Kommunikations-Modell ausführlich beschriftetet und die Ergebnisse der Analyse visualisiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den quantitativ überwiegenden Grenzüberschreitungen der Presse.
Im abschließenden Fazit werden die aussagekräftigen Ergebnisse der A- nalyse zusammengefasst und auf die These der Arbeit hin angewendet. Dabei ergibt sich ein neuer Ansatz der Interpretation für die Intention des Autors Heinrich Böll.
2. Methode und Forschungsstand
Die folgende Arbeit gliedert sich in einen Theorie- und einen anschließenden Analyseteil. Dem Theorieteil der Arbeit ist die Entstehungsgeschichte des Werkes „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ vorangestellt, da geschichtliche, politische und biographische Aspekte eine oder besser die bedeutende Rolle für die Entstehung und den Inhalt des Werkes darstellen. Nur aus dem Entstehungskontext des Werkes heraus kann es verstanden und interpretiert werden. (Vgl. Kap. 3, S. 5)
Im Theorieteil werden unterschiedliche, für die Interpretation bedeutende Begriffe definiert. Eine ausführliche Definition von Grenzen und Grenz- überschreitung leitet diesen Teil ein. (Vgl. Kap. 5, S. 15 ) Ihr Ursprung und die Entwicklung sind in Unterkapiteln zu Ethik und Moral kurz beschrieben.
(Vgl. Kap. 5.1. / 5.2., S. 16) Weiter wird die Institution Presse dargestellt, wobei auf die Teilgebiete des Sensationsjournalismus und der Rolle der Journalisten genauer eingegangen wird. (Vgl. Kap. 6.1. - 6.3., S. 24 - 26) Diese theoretischen Erläuterungen erweisen sich als sinnvoll bei der folgenden Betrachtung des Werkes. Besonderes Augenmerk liegt in diesem Zusammenhang auf dem Journalisten, der als Berichterstatter eine tragende Rolle spielt. (Vgl. Kap. 6.4, S. 27 )
Auch die unterschiedliche Bedeutung von „öffentlicher“ und „veröffentlichter Meinung“ wird in diesem Teil der Arbeit erarbeitet und mit dem Phänomen „Öffentlicher Meinung (ÖM)“ und Massenmedien als Träger der ÖM in Relation gesetzt. (Vgl. Kap. 7.1. - 7.4., S. 28 - 33) Schlussendlich werden die Merkmale und die Rollenverteilung eines Skandals erläutert, die zu einem späteren Zeitpunkt anhand von ausgewählten Textstellen im Werk nachgewiesen werden sollen. (Vgl. Kap. 7.5, S. 34)
Der Versuch einer kategorischen Darstellung aller im Werk belegbaren Grenzüberschreitungen wird in tabellarischer Form vorgenommen. (Vgl. Kap. 8, S. 41) Dabei ergeben sich allerdings keine brauchbaren Ergebnis- se. Deshalb wird ein Kommunikations-Modell entworfen, das die verschie- denen Instanzen des Werkes beinhaltet und sie zueinander in Relation setzt. (Vgl. Kap. 9, S. 47)
Anhand dieses Modells werden im folgenden Analyseteil die unterschiedli- chen Grenzüberschreitungen im Werk definiert und bewertet. Die umfassende Sekundärliteratur gibt ausführlich Information zum Beg- riffsapparat um „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum“. Zur Begriffsbe- stimmung von Grenzen fällt das Werk von F. Parpert (1963), „Grenze und Grenzüberschreitung“ besonders auf, da er die Grenze als Sicherung des Menschen definiert. Von dieser Definition ausgehend werden die Grundla- gen der Grenzüberschreitung erklärt. Dem Theorieteil der Arbeit liegen vorrangig Texte aus dem Gebiet der Kommunikationswissenschaft zu Grunde. Besonders hervorzuheben ist dabei E. Noelle-Neumann, die die Theorie der Schweigespirale und der ÖM belegt. (Vgl. Noelle-Neumann,
E. (1980), „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut“, R. Riper & Co. Verlag, München Zürich) Diese Theorien sind maßgeblich für das Verständnis des Werkes, da ihre Mechanismen das Verhalten der Masse und den Verlust der Ehre erklären.
Die Interpretationen über „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum“ von Bernhard Sowinski und Friedhelm Kiecherer erweisen sich im Hinblick auf die Analyse der Grenzüberschreitungen als besonders hilfreiche Materia- lien, da sie die verschiedenen Instanzen innerhalb des Werkes ausführlich diskutieren und mit Textbeispielen belegen. (Vgl. Sowinski, B. (1994), „Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ Oldenburg Interpre- tationen mit Unterrichtshilfen, R. Oldenburg Verlag GmbH, München / Ki- cherer, F. (Hrsg.), (1998), „Heinrich Böll, Die verlorenen Ehre der Kathari- na Blum. Analysen und Interpretationen mit Hinweisen zur Unterrichtsges- taltung.“, 6. überarbeitete Auflage, Joachim Beyer Verlag, Hollfeld)
Auch darin enthaltene formale und sprachliche Besonderheiten sowie ausführliche Charakterisierungen der im Werk vorkommenden Personen erweisen sich als aufschlussreich für die Analyse des Textes.
3. Entstehungsgeschichte des Werkes „Die verlorenen Eh- re der Katharina Blum“
Bei Heinrich Böll spielte seine persönliche Biographie immer eine große Rolle für das gesamte literarische Werk. Viele Motive seiner Erzählungen und Satiren entstammen dem Leben und Erleben innerhalb und außerhalb der Familie, der Dienstzeit als Soldat und den Erfahrungen mit dem Krieg.3 Etwa in der Mitte der 50er Jahre entwickelt sich bei Böll ein starkes politi- sches Engagement. Dem verstärkten Einfluss einstiger Nationalsozialisten und den materialistischen und egoistischen Auswüchsen des „Wirt- schaftswunders" antwortet er in zunehmendem Maße mit Stilmitteln der Satire. Mit seiner Rede „Wo ist dein Bruder“ kritisiert er 1958 den west- deutschen Wohlstand und dessen Wertevorstellungen.4 Die latenten Un- menschlichkeit der Besitzideologie und die Dürftigkeit der herrschenden Moralvorstellungen kritisiert Böll in einem Artikel mit dem Titel: „Hast Du was, dann bist du was.“5 In „Brief an einen jungen Katholiken“ und „Brief an einen jungen Nichtkatholiken“ prangert er das Versagen der Katholischen Kirche in der NS-Zeit wie auch in der Gegenwart an.6 Seine Auseinandersetzung mit der Macht und den Mächtigen wird in seinem Brief „An einen Bischof, einen General und einen Minister des Jahrgangs 1917“7 ersichtlich: „Lustlos geht ihr einher, kaut lustlos vor Fernsehkameras und auf Tonbändern Eure Vorsicht und Schläue wieder.“8 In ironischem Ton bietet er den Vertretern der Kirche, der Armee und des Staates ein Spiel an und führt daran die Versagen der Institutionen vor.
Ein weiteres, ernsthaftes politisches Problem stellt für ihn die Remilitarisie- rung der Bundesrepublik in der Mitte der 50er Jahre dar, der er ebenfalls mit Hilfe satirischer Texte begegnet.9 Mit seiner Satire „Hauptstädtisches Journal“ wendet er sich 1957 gegen eine Wideraufrüstung Deutschlands. Die zunehmend kritische Haltung Bölls gegenüber Regierung und Gesell- schaft der BRD spiegelt sich in zahlreichen seiner Reden und Schriften wider.10 Insbesondere die Bildung einer großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD und einer gemeinsamen Regierung unter Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler, der seit 1933 NSDAP-Mitglied war, sowie Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister und ihr gemeinsames Ein- treten für eine Verfassungsänderung zur Durchsetzung von Notstandsge- setzen verurteilte er scharf als "absolute politische Promiskuität". Kiesinger sei, so drückt er sich aus, eine "Zumutung".11 Als im November 1968 Kie- singer von der Journalistin Beate Klarsfeld öffentlich geohrfeigt wird, schickt Böll ihr zur Anerkennung Blumen. Diese Geste wird vielfach verur- teilt, da man Böll vorwirft, der Gewalt damit Vorschub zu leisten.12
Sein stärker werdendes politisch-gesellschaftliches Engagement zeigt sich fortan in seinen Werken deutlich. In den 60er Jahren haben der erzwungene Rücktritt Adenauers und der Bau der Berliner Mauer ein Erstarken der konservativen Kräfte der CDU/CSU zur Folge. Von 1966-69 bildet die schon schwache CDU eine große Koalition mit der SPD. Schon 1965 äußert Böll sich übertreibend: "Die CDU hat in diesem Lande das Christentum, die SPD hat den Sozialismus zerstört."13
Es gibt verschiedene Gründe, die die Studenten damals veranlassten, zu demonstrieren. Anhänger der APO (Außerparlamentarischen Opposition) und Studenten richten ihre Proteste gegen die geplanten Notstandsgesetzte, den amerikanischen Kriegseinsatz in Vietnam und Kernkraftwerke. Zudem demonstrieren sie für verschiedene studentische Anliegen. Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten, am 2.6.1967 während einer Demonstration, halten die Protestbewegungen mehrere Wochen mit unveränderter Stärke an.14
Böll, der zu diesem Zeitpunkt in vielerlei Hinsicht mit den Entscheidungen der Regierung unzufrieden ist, schließt sich damals auch der außerparlamentarischen Opposition und der großen Protestbewegung gegen die Notstandsgesetze an und ist einer der Redner auf der Kundgebung im Mai 1968 in Bonn. Die Gesetzte selbst erscheinen ihm dabei nicht als Gefährdung, sondern vielmehr das Versagen kritischer Öffentlichkeit, das in diesem Zusammenhang zutage getreten ist.15
Für Böll, der sich während der Demonstrationen auf die Seite der Studen- ten schlägt, wird das Jahr 1968 ein Jahr politischer Aktivitäten. Die Zeitun- gen des Axel-Springer-Konzerns hetzten unterdessen mit großem Erfolg gegen die Studenten. Mit den Mitgliedern der „Gruppe 47“, die er selbst in einem Essay als „Publikationsinstrument“16 und im Gegensatz zur Gesell- schaft als „nicht korrupt“17 definiert, schließt er sich einem Boykott gegen die Springer-Presse an.18 Doch der Boykott hat kaum Erfolg und die Springer-Presse, allen voran die „Bild“, richtet sich weiterhin gegen stu- dentische Proteste und es gelingt ihr, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Studenten feindlich gegenüber steht. Nach dem Schuss auf Rudi Dutschke, einem der Wortführer der Studenten, dauern die neu einsetzenden Demonstrationen tagelang an. Heinrich Böll forderte öffent- lich die ernsthafte Beachtung der Studenten und eine öffentliche Diskussi- on über die Springer-Presse.
Dem Protest gegen die Notstandsgesetze 1968 folgt Bölls Eintreten für die SPD im Wahlkampf in den Jahren 1969 und 1972.19 Auch engagierte er sich für das deutsche PEN-Zentrum, dessen Präsidentschaft er von 1970 bis 1972 übernahm.20 Der PEN ist eine seit 1921 bestehende Schriftstel- lervereinigung, deren Mitglieder sich gegen Völker- und Rassenhass, Un- terdrückung der Meinungsäußerung, für gegenseitige Achtung, Freiheit des Wortes und für das Ideal einer in Frieden lebenden Menschheit ein- setzen.21 Außerdem galt Bölls Interesse dem Deutschen Schriftstellerver- band, den er mitbegründete, sowie dem internationalen PEN22, als dessen Präsident (1972-74) er sich für die russischen Dissidenten einsetzte. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im November 1972, ein Jahr nach dem erfolgreichen Roman “Gruppenbild mit Dame“, schwächte die journalistischen Angriffe gegen Böll kaum ab, stärkte allerdings sein An- sehen, vor allem auch im Ausland, so dass er nun mit einem größeren Prestige seinen Standpunkt öffentlich verkünden konnte.23
Bereits die große Demonstration gegen den Vietnamkrieg im Februar 1968 führt zu Ausschreitungen einzelner Gruppen und der Bildung ver- schiedener Untergruppen. Aus diesen verschiedenen Gruppen der De- monstranten bildet sich die Rote Armee Fraktion (RAF) heraus, die die Gewaltanwendung gegen Sachen und Menschen als Mittel des Protests propagierte. „Die „Rote Armee Fraktion (RAF)“ war die gefährlichste terro- ristische Vereinigung im Deutschland der Nachkriegszeit. Sie trat 1970 an mit dem Ziel, Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland durch Morde und andere Gewalttaten im sozialistischen Sinne zu verän- dern. Ihre Mitglieder waren in dem von ihnen erklärten Krieg gegen unse- ren Staat und unsere Gesellschaft zu allem entschlossen; sie arbeiteten mit großer krimineller Energie und mit gewissenloser Brutalität.“ (Prof. Dr. Kurt Rebmann, Generalbundesanwalt a.D.)24 Für viele ist das Schlüsseler- lebnis zur Gründung der RAF der bereits erwähnte Tod von Benno Ohe- sorg, der als 26-jähriger bei einer Protestaktion in Berlin von einem Poli- zisten erschossen wird.25 Ab sofort versteht die RAF sich als politisch- militärische Organisation. Sie hält den Imperialismus für einen „Todfeind der Menschheit“ und sieht in der BRD und in West-Berlin eine „Metropole des Imperialismus“.26 Die RAF will die Befreiungskriege der Völker der Dritten Welt mit ihrem Kampf unterstützen. Durch bewaffnete, gewaltsame Aktionen, eine Propaganda der Tat, sollen Signale gesetzt werden und damit der potentiell revolutionäre Teil in der Bevölkerung zu weiteren revo- lutionären Aktionen veranlasst werden. Letztlich will die RAF den Beginn des Volkskrieges veranlassen.27 In drei Generationen hat die RAF bis zu ihrer offiziellen Auflösung am 20. April 199828 35 Menschen ermordet und mehr als 100 Menschen als Geiseln genommen. Fast drei Jahrzehnte lang ist sie als terroristische Vereinigung eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherung und Ordnung im deutschen Staat und verbreitete in der Bevöl- kerung Angst und Schrecken. Das Ziel der RAF ist es, „die staatliche Ord- nung und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Nordatlantische Verteidigungsge- meinschaft (NATO) durch Gewalttaten wie Mord- und Sprengstoffanschlä- ge zu bekämpfen.“29 Später wird die Gruppierung unter dem Namen „Baader-Meinhof“ bekannt. Zu Beginn ist die propagierte Gewaltanwendung eine Gewalt gegen Sachen, später auch gegen Personen. Böll distanziert sich schon 1968 von der Gruppe30 und ihrer Hinwendung zu Terror und Gewalt. Vor allem das Jahr 1977, auch der „Deutsche Herbst“ genannt, stellt eine große Gefahr für Deutschland dar. Dennoch hat sich der Staat niemals auf den von der RAF erklärten Krieg eingelassen und somit eine Demontage des Rechtsstaats verhindern können. Im Jahre 1998 erkennen die Mitglieder der Gruppe an, ihre Ziele nicht erreicht zu haben. Die RAF wird zerschlagen und existiert nicht mehr.31
4. Der „Spiegel“-Artikel und die Reaktionen der Öffentlich- keit
Am 23. Dezember 1971 wird auf der Titelseite der „Bild“ von einem Banküberfall in Kaiserslautern berichtet. Die Überschrift ist schlagkräftig: „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub. Polizist erschossen. Eine Witwe und zwei Kinder bleiben zurück.“ Darunter sind Fotos der beiden Kinder abgebildet. Die Titelseite ist damit fast ausgefüllt.32 Für eine Täterschaft der RAF gab es keinerlei Beweise.
Dies ist der Funke, der den Zorn des Autors zur öffentlichen Explosion bringt. Am 10. Januar 1972 erscheint sein Artikel „Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?“33 im „Spiegel“. Durch die Veröffentlichung die- ses Artikels, in dem Böll die Methoden der Springer-Presse kritisiert, erreichte die Kontroverse zwischen ihm und der Springer-Presse ihren Hö- hepunkt.
Bereits im ersten Satz formuliert er das für ihn Entscheidende: „Wo die Po- lizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist „Bild“ schon bedeutend weiter: „Bild“ weiß.“34 Er greift die Verfälschung der journalistischen Infor- mations- und Aufsichtspflicht als „Demagogie“ und „Aufforderung zur Lynchjustiz“ an.35 „Ich kann nicht begreifen, dass irgendein Politiker einem solchen Blatt noch ein Interview gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck.“36 Die Verwendung des Begriffs „Faschismus“ provoziert eine von Böll wohl nicht erwartete Reaktion. Nicht nur durch die Agierenden des Springer-Konzerns, sondern auch durch eine breite Masse sieht er sich einer Flut von Kritik, Beschimpfung und Diffamierung ausgesetzt.37 Der Text wird als Eintreten für Ulrike Meinhof verstanden. Sogar als ein Sym- pathisant der RAF wird Böll bezeichnet und öffentlich verleumdet.38 Be- sonders tun sich die Medien „Bild“, „Die Welt“, „Quik“, „Bayern-Kurier“ und das „ZDF-Magazin“ bei der Diffamierung des Autors hervor.39 In einem Interview im „Bücherjournal“ antwortet er auf die Frage, was er in seinem Werk darstellen wollte, mit, „ […] was im Zusammenhang mir der Baader-Meinhof-Auseinandersetzung die schreckliche Rolle des Professor Brücker war, […] der in Berührung gekommen ist mit den Baader-Meinhof- Leuten, der sie beherbergt hat, […] und auf eine Weise zerstört worden ist […].“40 Der Psychologieprofessor Peter Brückner hatte Terroristen oder zumindest des Terrors Verdächtige bei sich übernachten lassen und ist deshalb von der Presse verfolgt und gehetzt worden. Durch seine Aussa- ge in diesem Interview unterstreicht Böll seine Absicht, den Menschen mit
seiner Erzählung die Situation dieser Personen bewusster zu machen. 1979 nennt der Autor in einem Interview diese Erzählung "ein ganz präzi- se entworfenes Pamphlet".41 Ein als „Erzählung verkleidetes Pamphlet“42, das gegen die Zeitung gedacht, geplant und ausgeführt wurde. „Böll hat eine bundesdeutsche Wirklichkeit aufgegriffen, den Journalismus, der durch Verstellungen, Unterstellungen, Verdrehungen und Diffamierungen Menschen zerstört und kaputt macht“, so beschreibt der Journalist Hans Fröhlich die Absicht Bölls.43
Die Handlungen der RAF bezeichnet Böll als „Kriegserklärung von ver- zweifelten Theoretikern,“ als einen Krieg von „sechs gegen 60 Millionen“. Er stellt sich damit klar als Gegner der RAF dar und als Teil der bedrohten Bevölkerung.44
Über den Angriff auf die Bild-Zeitung hinaus geht es Böll darum, die Hintergründe des gesellschaftlichen Phänomens Terrorismus darzustellen.45 Er stellt grundsätzlich, und vielleicht zu früh, die Reaktionsweise der Gesellschaft auf das Phänomen terroristischer Gewalttaten in Frage und zur Diskussion. In einem Interview mit der „Weltwoche“ gibt er zu: „Und das war vielleicht mein Fehler, dass ich so etwas als einzelner gewagt habe, ohne mich vorher nach Verbündeten umzusehen. […]“46 Vogt stellt heraus, dass aus diesem „aufmerksam machen“ eine Diskussion hätte entstehen können, die jedoch unterblieb, weil Kritiker Bölls Botschaft aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachteten.47
Jürgen P. Wallmann betrachtet die Reaktionen auf den Artikel von Böll in einem Text, der den Titel „Der Schuss auf den Revolverjournalisten“ trägt.
Darin mahnt er, dass Böll darin keineswegs „um Sympathie für den klei- nen Haufen verwilderter Anarchisten“48 warb, sondern nur um Fairness und Gnade bat. Wallmann weist darauf hin, „dass die von einem Teil der Presse entfesselten Emotionen in Pogromstimmung umschlugen und zu Treibjagd und Lynchjustiz zu werden begannen.“ Weiter sagt er, dass „seine Warnung vor der Menschenjäger-Mentalität, seine Bitte um Gerech- tigkeit“ nicht verstanden wurden. Seine Äußerungen wurden bewusst falsch gedeutet: „Und nachdem die „Bild-Zeitung" einen Tag nach dem Er- scheinen des Artikels das Startsignal gegeben, von Bölls Stellungnahme in bewusster Fehldeutung als von einem „Plädoyer für Gewalttäter" ge- schrieben und die Sprache des Schriftstellers mit der des SED- Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler und des Nazi- Propagandaministers Josef Goebbels auf eine Stufe gestellt hatte, da wurde Böll selbst zum Opfer einer konzentrierten Hetze.“49
Bis Ende Februar des gleichen Jahres füllen die publizistischen Angriffe auf Böll bereits ein Buch. Als die Terroristen Baader, Meins und Raspe am 1.6.1972 in Frankfurt gefasst werden, wird auch das Wohnhaus von Böll in der Eiffel umstellt.50 Er erfährt also nicht nur Gewalt durch die Presse, sondern auch durch den Staat. Mit den Worten „Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung ge- wisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der „Bild“-Zeitung ergeben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“51 verweist er zu Beginn des Werkes „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum“ geradezu auf diese Vorkomm- nisse, ohne dass man ihn der Verleumdung bezichtigen kann. Am 9. Feb- ruar 1972 wird er in einem Interview mit der Zürcher „Weltwoche" von Markus M. Ronner gefragt, ob er seinen Vorstoß im „Spiegel" als „Kampfansage gegen den Großverleger Axel Springer verstanden habe", was Böll bejaht. Auf die Frage hin, ob er die Vorgänge eines Tages selbst niederschreiben wird, antwortet Böll: „Nein. Allerdings könnte es sein, dass das eine oder andere in verwandelter Form zur Rache verwendet wird. Auch ein Schriftsteller möchte sich gelegentlich mal rächen.“52 Damit gibt er die Vorlage für die Vorwürfe, die ihm später gemacht werden, dass sein Werk eine persönliche Abrechnung, eine Rache an der Boulevard- presse sei.
Sogar Marcel Reich-Ranicki, einstweilen Bölls schärfster Kritiker, äußert sich erklärend: „So unzweifelhaft dieser direkte biographische Anlass, so sehr würde man Böll verkennen, wollte man die Geschichte der Katharina Blum verkennen, wollte man die Geschichte der Katharina Blum vor allem oder gar ausschließlich als Reaktion auf diese Presse-Attacke verstehen. Zunächst einmal geht es um das Individuum als Opfer der Massenmedien überhaupt, das Extreme […] dient hier zur Verdeutlichung des Exemplari- schen. Zum anderen ist Bölls Kritik weniger gegen die „Bild“-Zeitung ge- richtet als gegen die Gesellschaft, die ein Phänomen wie die „Bild“-Zeitung duldet, ermöglicht und offenbar benötigt.“53
Die Erzählung erscheint 1974 in vier Folgen im „Spiegel“, dem Medium, das ihm schon einmal als Sprachrohr diente. Bereits sechs Wochen nach dem Erscheinen in Buchform hat sie eine Auflage von 150.000 erreicht.54 Diese hohe Auflage ist wohl auch aus der Popularität des Autors zu erklä- ren. Am 10. Dezember 1972 erhält Heinrich Böll den Nobelpreis für Litera- tur in Stockholm und gilt seither als gefragter Autor. Die „Bild“-Zeitung ver- sucht, das Buch totzuschweigen. Da es in den Bestseller-Listen erscheint, verzichtet die „Bild“ sogar ganz auf diese Listen, um das Buch nicht nen- nen zu müssen.55 Von allen Böll-Texten scheint „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ derjenige zu sein, der die größte Resonanz gefunden hat. Bölls Bekanntheit, die Auseinandersetzung mit der Springer-Presse und die von ihm geschaffene Frauengestalt, der überall Sympathie und Anerkennung zuteil wurde, sind Auslöser für diese Entwicklung. Auch die ein- drucksvolle Verfilmung des Werkes durch Volker Schlöndorff und Marga- rete von Trotta 1975 hat dazu beigetragen, dass dieses Werk so erfolg- reich wurde. Doch die Debatte, die das Buch ausgelöst hat, kann nicht als eine Auseinandersetzung zwischen um Objektivität bemühten Literaturkri- tikern verstanden werden, sondern als ein im hohen Grad von politischen Motiven bestimmten Streit.56
5. Allgemeine Definition von Grenzen und Grenzüber- schreitung
Um über Grenzüberschreitung sprechen zu können, muss zunächst einmal definiert werden, was Grenzen sind, wo und wie sie entstehen und woher sie ihre Gültigkeit beziehen.
Die bedeutendsten menschlichen Grenzen sind die Begrenzungen des Lebens von der Geburt bis zum Tod. Eine Grenze trennt das Bisherige vom Kommenden und ist ein Einschnitt in ein Leben. „Grenzen beruhen auf weltanschaulichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnis- sen, beruhen auf Geboten und Gesetzen, beruhen auf dem, was Eltern- haus, Schule und Kirche an erzieherischen Werten den kommenden Ge- schlechtern weitergeben, beruhen auf Tradition und Autorität, auf beson- deren Idealen und Leitbildern, auf einem geistig und seelisch geprägten Leben […].“57 Damit beschreibt Papert Grenzen als die Richt- und Orien- tierungslinien für das menschliche Leben. Sie werden sowohl anerzogen, also von anderen Menschen bestimmt, als auch vom Menschen selber entworfen, um das Leben untereinander und das seelische Gleichgewicht des Einzelnen zu erhalten. Sie entwachsen aus Gehorsam, aus Traditio- nen oder der eigenen Vorstellung. Sie basieren demnach auf Normen und Sitten, die der Mensch kennen lernt. Auch das Zusammenleben der Men-
schen wird von Grenzen geregelt. Gesetze und Moralvorstellungen etwa sind notwendige Grenzen einer sozialen Gemeinschaft, damit in ihr jeder Mensch in Freiheit und Sicherheit leben kann.
5.1. Entstehung von Grenzen aufgrund von Moralvorstellungen
Um verstehen zu können, woher Grenzen ihre Gültigkeit beziehen, ist ein kurzer Exkurs in die Begrifflichkeit der Ethik nötig. Denn Grenzen basieren auf Moralvorstellungen und Normen. Eine Grenze „begrenzt“ die Möglichkeiten zu handeln gemäß einer bestimmten Vorstellung von richtigem und falschem Verhalten. Die grundlegende Frage ist: Welches Verhalten ist gut und welches ist schlecht oder richtig und falsch?
Wir sind zugleich Sender und Empfänger von ethischen Bewertungen.58 Und dennoch fällt es uns schwer, uns bei bestimmten Themen zu orientieren und Dinge ethisch zu begründen. Warum dies so ist und dass dieser Aspekt für Grenzüberschreitung so relevant ist, soll in den folgenden Abschnitten geklärt werden.
5.2. Ethik - eine Definition
Was als Gut oder Schlecht, als moralisch oder unmoralisch angesehen werden kann und in welchen Zusammenhang, das ist ein zentrales Thema der Ethik.
Die Ethik versteht sich als die Wissenschaft vom moralischen Handeln.59 Sie hat vorrangig mit moralischen Handlungen zu tun, also Handlungen, die als gut oder schlecht eingeschätzt werden müssen. Dabei darf sie we- der moralisieren, noch ideologisieren oder weltanschauliche Überzeugun- gen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkünden, da sie zu
argumentativ begründeten Ergebnissen gelangen will.60 Stattdessen bietet sie Hilfe für eine ethische Unterscheidung an.
Ethik bildet also die Grundlage für das Verstehen von Grenzen, die sich an Moral orientieren.
5.2.1. Ebenen der philosophischen Ethik
Die Theorie der philosophischen Ethik lässt sich grob in zwei Gebiete unterteilen: die „Allgemeine Ethik“ und die „Angewandte Ethik“. Innerhalb der Allgemeinen Ethik finden sich drei Methoden für eine Bereitstellung eines Begriffs- und Methodeninstrumentariums: die „deskriptive Ethik“, die „normative Ethik“ und die „Metaethik“.61
Die deskriptive Methode beinhaltet ein beschreibendes Vorgehen. Dabei werden faktische Handlungs- und Verhaltensweisen daraufhin untersucht, welche Wertvorstellungen in ihnen wirksam sind.62 Diese für das Handeln ausschlaggebenden Verhaltensweisen bilden die in der Gesellschaft vorhandenen Moralvorstellungen ab.
Die normative Methode ist ein vorschreibendes Verfahren, bei dem beschrieben wird, was gelten soll. Sie birgt, stärker als die beschreibende Methode, die Gefahr der Ideologisierung. In der Ethik sind diese Methoden nur als kritische Methoden zulässig.63
Die Metaethik bezieht, wie auch die deskriptive Ethik, keine Stellung. Sie umfasst die Analyse der grundlegenden Begriffe wie „gut“, „Norm“ und „sollte“.64 Auch die vernünftige Begründung ethischer Urteile fällt unter den Begriff der Metaethik.
Von angewandter Ethik ist die Rede, wenn Ethik in unterschiedlichen Pra- xiskontexten wie etwa in der Medizin, Wissenschaft oder Wirtschaft nor- mative Orientierung bietet.65 Wenn Ethik Lösungsvorschläge oder Ent- scheidungshilfen anbietet, bestimmte Richtlinien vorgibt, die dem Men- schen eine eigene Bewertung erleichtern und diese lenken. Die ange- wandte Ethik ist damit als Grundlage für die Bewertung von Grenzüber- schreitung zu sehen. Man spricht hier von so genannten „Bereichsethi- ken“.66
5.2.2. Moral als Grundlage der Ethik
„Moral als ein beschreibend gebrauchter Begriff bezeichnet summarisch alle von einem Menschen oder einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten Normen und Ideale des guten und richtigen Sichverhaltens […] plus der mehr oder weniger vernünftigen Überzeugung, die es ermög- lichen, diesen Normen und Idealen einen ernst zu nehmenden Sinn zu geben […].“67 Moral stellt den normativen Grundrahmen für das Verhalten der Menschen untereinander dar und beschränkt sich dabei nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, auf Fragen der Sexualität.68 Oft wird Mo- ral als „normative Institution“ oder „Handlungsorientierungssystem“ beti- telt.69 Sie wird nicht allein in persönlichen Überzeugungen und Verhal- tensweisen sichtbar, sondern auch in der gelebten wirtschaftlichen, sozia- len, politischen und kulturellen Ordnung.70
Die Ethik untersucht die menschliche Praxis im Hinblick auf die Bedingun- gen ihrer Moralität.71 Mit Moralität ist dabei jene Qualität gemeint, „die es erlaubt eine Handlung als eine moralische, als eine sittlich gute Handlung zu bezeichnen.“72 Man kann sie auch als Sittlichkeit übersetzen. Sie be- zeichnet nach Otfried Höffe „die uneingeschränkte Verbindlichkeit, unter der der Mensch in seinem Verhalten zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst steht.“73
Aber woher sollen wir einschätzen können, welche Handlung sittlich gut oder schlecht ist? Also moralisch oder unmoralisch? Dieser Frage geht David Hume in seinem Werk „Traktat über die menschliche Natur“ nach.74 Er führt darin aus, dass die Vernunft uns zu tugendhaftem Handeln bringt, da Menschen durch ihr Pflichtgefühl terminiert sind. Dieser Meinung ist auch Immanuel Kant, der dem Menschen in seinem Werk „Kritik der prak- tischen Vernunft“ einen so ausgeprägten Sinn für vernünftiges Handeln zuschreibt, dass er die Vernunft als einzigen Bestimmungsgrund des Menschen bezeichnet.75 Dennoch vertritt Hume die Ansicht, dass die Ver- nunft alleine nicht in der Lage sein kann, unsere Entscheidungen zu be- gründen, da die Sittlichkeit Affekte erzeugt, für die die Vernunft zu schwach ist. Seiner Meinung ist der Geist immer durch Perzeption bewegt, durch Hören, Sehen, Riechen und Schmecken. Niemand kann sich dieser Perzeption entziehen und dadurch werden auch die sittlichen Entschei- dungen durch diese Perzeptionen mitbestimmt. Somit ist für Hume erwie- sen, dass nicht die Vernunft, sondern allein der Mensch mit all seinen Sin- nen die Entscheidung der Sittlichkeit trifft.76 Ob Moral der Vernunft des Menschen oder seinem Fühlen entspringt, ist nicht belegbar. Wahrschein- lich ist, dass ein Zusammenspiel aus Erfahrung, Erziehung, Vernunft und Sinneseindrücken die moralische Vorstellung eines Menschen prägt. Die Person KB kann dafür als Beispiel dienen: Ihre Moralvorstellungen bezieht sie zu einem großen Teil aus persönlicher Erfahrung. Nach einer unglück- lichen Ehe lebt sie enthaltsam und hält sich von Männern weitestgehend fern. Ihren Fleiß und ihre Strebsamkeit sowie die Sparsamkeit, die sie eine eigene Wohnung besitzen lassen, lässt sich als Reaktion auf die Armut in der Kindheit erklären.
Von früh an lernt der Mensch, dass es innerhalb einer Gemeinschaft Re- geln, Verbote und Gebote gibt, die es zu befolgen gilt, damit die Gemein- schaft funktionieren kann. Die eigentlich moralische Einsicht besteht nach Pieper allerdings darin, die Verbote nicht als von außen auferlegten Zwang anzusehen, sondern als Garanten für die größtmögliche Freiheit aller Mitglieder der Gemeinschaft. Nur eine Regel, die dies gewährleitstet, kann als moralische Regel gewertet werden.77 Damit sind dem Handeln, also der Freiheit des Menschen, Grenzen gesetzt. Niemand kann willkür- lich machen, was ihm gefällt. Das Handeln muss vielmehr bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt werden. Es hat seine Grenzen an den be- rechtigten Ansprüchen der Mitmenschen.78 Werden die berechtigten An- sprüche des Mitmenschen beschnitten, so kann man von Grenzüber- schreitung sprechen.
5.3. Grenzen als Sicherheit
Die durch Normen und erlernte Werte entwickelten Grenzen eines Menschen bilden einen Raum, seinen Lebensraum. Darin bewegt er sich in relativer Sicherheit, geschützt vor Angriffen von außen. Solche „Sicherungsgrenzen“ werden von Gesetzen, Moralvorstellungen, von Weltpolitik oder auch der eigenen Gesundheit oder körperlichen Verfassung gezogen. Sie signalisieren dem Menschen, innerhalb welchen Rahmens er handeln kann, ohne einem anderen Menschen zu schaden.
Allerdings kann es vorkommen, dass der Mensch bestimmte Grenzen ü- berschreiten muss. Meist sind es äußere Einflüsse (z.B. Katastrophen), die in den gesicherten Lebensraum des Menschen eintreten und damit seine Sicherheit bedrohen. In dieser Situation kann er nicht nicht reagie- ren und ist damit gezwungen, die eigenen Grenzen zu übertreten.79 (Vgl. Kap. 9.3., S. 74) Ein Reagieren innerhalb der Grenzen ist unmöglich.
Diese, von außen auf den Menschen einbrechenden Angriffe, die den Menschen unverschuldet Grenzen überschreiten lassen, sollen hier unter dem Begriff „Krise“ zusammengefasst und im Weiteren als solche geführt werden.
Der Mensch, der sein Leben führen muss, bewegt sich zwischen der Ne- gativität und der Positivität.80 Die Welt begegnet ihm nicht nur und nicht primär als sichere Heimat, sondern auch als bedrängend und Schaden bringend. Der Mensch ist sich bewusst, dass eine dauernde Sicherheit nicht möglich ist. „In der Gefährlichkeit seiner Grenzsituation sieht der Mensch ein, dass er Anteil an beiden Linien diesseits und jenseits der Grenze, an beiden Seiten Anteil haben muss, um einen Durchgang durch die Zeit zu bekommen.“81 Denn, so fasst Parpert hier zusammen, der Mensch kann nicht im Stillstand seines sicheren Lebensraumes verweilen. Die Entwicklung des Menschen kann nicht ohne Einflüsse von außen ge- schehen. Nicht nur äußere Umstände (Krisen) zwingen den Menschen dazu, Grenzen zu übertreten. Auch das ständige Streben nach Lebens- steigerung bedingt Grenzüberschreitungen. „Zu keiner Zeit, von der wir wissen, gaben sich Menschen mit ihrem „Hier und Jetzt“ allein zufrieden; sie erwarten (erhoffen und befürchten) Steigerungen. Kein Mensch hält es ohne Unterbrechung im „Hier und Jetzt“ aus; ein solcher Fall ist jedenfalls nie dokumentiert worden. […] Überall lässt sich ein energisches Streben nach Lebenssteigerung beobachten, überall zeigen sich einfache oder aufwendige Versuche, sich aus dem „Hier und Jetzt“ wegzuträumen.“82 Bernd Scheffer nennt die Mediennutzung als ein Mittel zur Lebenssteige- rung. Aber Lebenssteigerung kann auch auf andere Weise bewirkt wer- den. Um sein Leben zu steigern, muss der Mensch die sichernden Gren- zen seines Lebens übertreten, weil eine Steigerung nicht innerhalb der gesetzten Grenzen entstehen kann. Innerhalb der sicheren Grenzen herrscht die Normalität, eine Steigerung des Lebens gelingt nur durch den Kontakt mit Impulsen, die außerhalb der sicheren Grenzen liegen. Der Ausbruch aus dem „Hier und Jetzt“ beding also eine Grenzüberschreitung. Nach Ansicht Paperts ist die Grenzsicherung das eigentliche Ziel des Menschen.83 Die Sicherung des eigenen Lebens ist ein angeborenes Streben jedes Menschen.
Im Werk „Die verlorenen Ehre der Katharina Blum“ wird dies deutlich, wenn die betroffenen Personen versuchen, wieder zurück in ihr altes Le- ben zu finden. Dr. Blorna gelingt dies jedoch genauso wenig wie KB, die daran verzweifelt, dass die Grenzen ihres Lebens aufgehoben wurden. Sie fühlen sich ohne die schützenden Grenzen ihres alten Lebens bedroht und zerbrechen daran.
Nach Parpert bedingt die Grenzüberschreitung in einem Gebiet auch die in anderen Gebieten, da sie sich gegenseitig auslösen. Gemäß dieser Vorstellung ist es unmöglich, dass auf eine Grenzüberschreitung keine weitere folgt. „Nachbarliche Beeinflussung dehnen Grenzüberschreitungen aus, so dass man von einer Epoche der Grenzüberschreitungen sprechen kann.“84 In Bölls Werk „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wird diese Theorie bestätigt, wenn man davon ausgeht, dass die finale Grenzüber- schreitung der KB, der Mord an dem Journalisten, eine Folge vieler Grenzüberschreitungen seitens der Presse ist. (Vgl. Kap. 9.2.5, S.71) Schon innerhalb der Berichterstattung löst ein Bericht weitere Grenzüber- schreitungen aus.
Im Werk stellt das anfängliche Leben der KB den sicheren Lebensraum dar. Sie lebt innerhalb dieses Raumes nach festen moralischen Grundsät- zen, ist dabei sehr diszipliniert und versucht damit, keine Grenzen zu ü- bertreten. Sie befindet sich in einem Zustand der Bewegungslosigkeit, ihr Leben findet ohne große Veränderung statt. Sie fühlt sich sicher innerhalb der eigenen Grenzen und versucht durch ihre Lebensweise, diese Gren- zen nicht zu überschreiten. Doch dann treten zwei Dinge in ihr Leben, die ihre sicheren Grenzen sprengen: Durch die Berichterstattung der Presse ist sie gezwungen zu reagieren und ihre Grenzen zu übertreten. Hier muss sie auf eine Krise reagieren. Zudem übertritt sie auch selbst aktiv eine Grenze, wenn sie sich in einen Mann verliebt, körperliche Nähe zulässt und ihm zur Flucht verhilft. Hier verändert sie ihr Leben minimal und findet sich in einem Zustand der Veränderung wieder, der gleichermaßen eine Grenzüberschreitung ist.
5.4. Beispiele für positive Grenzüberschreitung
Neben der Literatur können die Wissenschaft und Forschung sowie die Reise als Beispiele für positive Grenzüberschreitung gelten. Positiv meint in diesem Zusammenhang nützlich für die Menschheit, ohne das Leben des Einzelnen zu bedrohen.
Der Bereich allerdings, der ohne eine systematische Überschreitung fest- gelegter Grenzen, bis hin zur Pietätlosigkeit, kaum auskommen kann, ist die Kunst. Malerei, Theater und Tanz leben von einer die bekannten Grenzen sprengenden Kreativität. Auch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist ein Beispiel für ein durch Grenzüberschreitung geprägtes (Kunst-) Werk, das dadurch großen Erfolg hatte. Grenzüberschreitung als ein Mittel zur Kritik, zum „Aufrütteln“ von Menschen (in der Kunst) kann damit als ein positives Beispiel gelten. Auch innerhalb des Werkes ist Kunst Synonym für positive Grenzüberschreitung. Der als Kunstwerk de- klarierte Plan des Wohnhauses, in dem KB lebt, verhilft ihr dazu, ihrem Geliebten den Fluchtweg zu zeigen. Kunst ist damit Ausweg und positiv im Sinne der Wunscherfüllung der KB. Die Kunst überschreitet eine Grenze, indem sie den Fluchtplan bereitstellt.
6. Die Institution der Presse: Sensationsjournalismus - In- vestigativer Journalismus
Im vorliegenden Werk von Heinrich Böll wird die Institution der Presse stark kritisiert. Bölls Kritik richtet sich gezielt gegen die so genannte Bou- levardpresse. Dies kann als Schwerpunktthema des Werkes bezeichnet werden. Deshalb soll im folgenden Theorieteil der Begriff „Sensationsjour- nalismus“ erklärt, die Rolle und Methoden dieser Journalisten erläutert und die Instrumentarien des Skandals näher betrachtet werden. In der folgen- den Analyse werden die herausgearbeiteten Fakten schließlich am Text belegt. (Vgl. Kap. 9.4.5., S. 100)
Sensationsjournalismus kann als diskursive Strategie definiert werden, die sich thematisch auf die Bereiche „Sex“, „Crime“ und „Tragedy“ fixiert. Sie betreibt Sensationalismus, womit eine spezifische formal-gestalterische, syntaktische und semantische Aufbereitung eines Beitrags gemeint ist.85 Im Gegensatz zum Sensationsjournalismus wird dem Investigativen Journalismus eine hohe Wertschätzung entgegengebracht, da dieser seine Relevanz vorrangig aus seiner politischen Bedeutung und seiner Funktion als Kontrollmedium der Medien bezieht.86
6.1. Investigativer Journalismus
Auf der Suche nach einer Definition für „Investigativen Journalismus“ stößt man immer wieder auf die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Oder wird der Begriff nicht vielmehr als Deckmantel für publizistisch-politische Kampagnen gebraucht? Janisch fragt sogar, ob der Begriff investigativer Journalismus als moralischer Schutzschild für selbstgerechte Sensations- reporter gilt, die damit womöglich rechtswidrige Methoden rechtfertigen wollen.87 Es ist doch Aufgabe der Journalisten, Missstände aufzudecken. Kann man das schon als „investigativ“ bezeichnen? Vielleicht ist letztend- lich mit investigativ auch nur eine gute und intensive Recherche gemeint, die auch ungewöhnliche Tatsachen ans Licht bringt. Das Adjektiv investi- gativ kann als „ermittelnd“ oder „enthüllend“ übersetzt werden. Es ist also ein aufdeckender Journalismus gemeint. Aber auch „nachforschend“ kann eine mögliche Übersetzung darstellen. Zusammenfassend lassen sich aus dieser Wortherleitung zwei Umschreibungen für „Investigativen Journalis- mus“ finden: einmal die aufdeckende Recherche, zum anderen das An- prangern von Verstößen gegen die öffentliche Moral.88 Nach Dulinski ist der investigative Journalismus durch drei Hauptmerkmale gekennzeichnet: die aktive Reporterrolle, durch Rechercheaktivitäten, die sich oft nur ge- gen Widerstände betreiben lassen und die thematische Relevanz.89
Thema des investigativen Journalismus sind meist so genannte politische Skandale. Oft spricht man in Deutschland bei den Schaffenden innerhalb des investigativen Journalismus, von „Enthüllungsjournalisten“.90 Damit wird schon impliziert, dass die Tatsachen, die sie ans Licht bringen, nor- malerweise nicht offen liegen. Sie nehmen sich skandalöses Verhalten oder Tatsachen als Aufhänger für ihre Beiträge. Dadurch wird eine wichti- ge Funktion bei der Kontrolle der Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne in modernen Demokratien erfüllt.
6.2. Sensationsjournalismus
Andererseits spricht man in Deutschland aber auch von „Sensationsjour- nalismus“. Diese Art des Journalismus steht im behandelten Werk im Mit- telpunkt der Betrachtung. Die Unterscheidung der beiden Journalismen beruht auf der thematischen Ausrichtung. Beim Sensationsjournalismus werden nicht mehr nur skandalöse Vorfälle enthüllt, sondern soweit auf- gebauscht, dass sich eine Story entwickelt, die die Leser in ihren Bann zieht und die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen lässt. Doch hier han- delt es sich meist nicht um politische Themen, sondern eher private. Nach Krüger können Themen der Boulevard- und Sensationspresse folgender- maßen definiert werden: „Beiträge, die sich mit außergewöhnlichen Ereig- nissen befassen, die in der Regel auf der Ebene des Privaten angesiedelt sind und die Abweichung von der Norm […] darstellen. Hierzu gehören Guiness-Rekorde, Kriminalität/Verbrechen, Unfälle/Katastrophen, sexuelle Abnormitäten, Drogensucht, Skurrilitäten […].“91 Oft werden dabei journa- listische Grundsätze vernachlässigt zu Gunsten der Auflage. In den jour- nalistischen Arbeitsweisen allerdings ähneln sich die Journalismen.
6.3. Veränderung des Journalismus
Die Presse ist mit besonderer Freiheit ausgestatten, um über Verletzun- gen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens zu wachen und Missstände aufdecken zu können. Journalisten gelten oft als unantastbar, damit ihre Freiheit nicht beschränkt wird. Die Pressefreiheit setzt auf zwei Ebenen Freiheit voraus: „Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Zensurver- bot und die Freiheit von jeglicher Besteuerung oder andern rechtlich vor- gegebenen ökonomischen Zwängen.“92 Oft wird diese Freiheit allerdings missbraucht, um Belanglosigkeiten zu einer Sensation aufzublasen. Theo Sommer stellt am Beispiel der USA fest, dass gerade der Journalismus, der unter dem Stichwort investigativ zusammengefasst werden kann, nicht frei ist von der Banalisierung seiner Inhalte zu Gunsten von Sensationen: „Die neue Welle des investigatven Journalismus rollt. Es geht nicht mehr um Probleme des Gemeinwesens, nicht mehr um politische Unregelmä- ßigkeiten und Skandale. Es geht um „character reporting“.
[...]
1 Vogt, J. (1978), „Heinrich Böll“, Arnold, H. L. und Wieckenberg, E.-P. (Hrsg.), Verlag C.H.Beck und edition text + kritik, München, S.118
2 Böll, H. (1972), „Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?“, in: DER SPIEGEL, 10. 1. 72, S. 54 - 57
3 Vgl. Sowinski, B. (1993), „Heinrich Böll. Sammlung Metzler. Realien zur Literatur“, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, S. 1
4 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 13
5 Vgl. Heinrich Böll, (1978), „Aufsätze - Kritiken - Reden. Band I“, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, S. 99 - 102
6 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 13 und Vgl. Heinrich Böll, (1978), S. 215 ff.
7 Vgl. Heinrich Böll, (1978), S. 231 ff.
8 Heinrich Böll, (1978), S. 231
9 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 13
10 Vgl. Sowinski, B. (1994), „Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ Olden- burg Interpretationen mit Unterrichtshilfen, R. Oldenburg Verlag GmbH, München, S. 8
11 Vgl. Sowinski, B. (1994), S. 9
12 Vgl. Sowinski, B. (1994), S. 9
13 Vgl. Sowinski, B. (1994), S. 9
14 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 16
15 Vogt, J. (1978), S. 118 / 119
16 Vgl. Heinrich Böll, (1978), S. 191 ff.
17 Vgl. Heinrich Böll, (1978), S. 197
18 http://www.ammermann.de/katharina%20Absicht.htm gesichtet am 20.12.2006
19 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 18
20 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 19
21 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/PEN, gesichtet am 15.03.207
22 Vgl. www.internationalpen.org.uk
23 Vgl. Sowinski, B. (1993), S 20
24 Pflieger, K. (2004), „Die Rote Armee Fraktion - RAF“, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 11
25 Vgl. Butz, P. (1993), „RAF. Terrorismus in Deutschland“, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, S. 47
26 Vgl. Pflieger, K. (2004), S. 21
27 Vgl. Pflieger, K. (2004), S. 22
28 Vgl. Pflieger, K. (2004), S. 186
29 Pflieger, K. (2004), S. 15
30 Vgl. Sowinski, B. (1993), S. 20
31 Vgl. Pflieger, K. (2004), S. 11
32 Vgl. Aust, S. (1989), „Der Baader-Mainhof-Komplex“, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, S. 212 und Vgl. Jeziorkowski, K. (2000), „ Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“, in: Bellmann, W. (Hrsg.), „Heinrich Böll. Romane und Erzählungen“, Philipp Reclam jun., Stuttgart, S. 254
33 In: DER SPIEGEL, 10. 1. 72, S. 54 - 57
34 In: DER SPIEGEL, 10. 1. 72, S. 54 - 57
35 Vogt, J. (1978), S. 119
36 Vogt, J. (1978), S. 119
37 Vogt, J. (1978), S. 119
38 Sowinski, B. (1993), S. 20/21
39 Vgl. Jeziorkowski, K. (2000), S. 254/255
40 Beth, Hanno „Rufmord und Mord: die publizistische Dimension der Gewalt“ in: Beth, H. (Hrsg.) (1980), „Heinrich Böll. Eine Einführung in das Gesamtwerk in Einzelinterpretatio- nen“, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Scriptor Verlag, Königstein/Ts., S. 71
41 http://de.wikipedia.org/wiki/Die_verlorene_Ehre_der_Katharina_Blum gesichtet am 08.02.07
42 Böll, H. (2005), „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“, 42. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, S. 140
43 Fröhlich, H. (1974), „Was man mit Journalismus anrichten kann“, in: Stuttgarter Nachrichten, 14.09.1974 zitiert nach Graf, G. (1984), S. 36
44 Vgl. Aust, S. (1989), S. 173 und 212
45 Vogt, J. (1978), S. 120
46 Ronner, M.(1972), "Man kann nicht sehr weit gehen...", Interview Markus M. Ronner mit Böll, H. in: Die Weltwoche, Zürich, 9.2.1972
47 Vogt, J. (1978), S. 121
48 Wallmann, Jürgen P. (1974) „Der Schuss auf den Revolverjournalisten“, in: Der Tagesspiegel, 4. 8. 1974 nach: Graf, G. (1984), „Literaturkritik. Eine Einführung am Beispiel von Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum““, Text- und Arbeitsbuch, in: Literatur und Methode, Hirschgraben Verlag, Frankfurt am Main, S. 29
49 Wallmann, Jürgen P. (1974)
50 Sowinski, B. (1993), S. 21
51 Böll, H. (2005), Vorwort
52 Nordbruch, C. (1994), „Heinrich Böll: Seine Staats- und Gesellschaftskritik im Prosawerk der sechziger und siebziger Jahre. Eine kritische Auseinandersetzung“, R.G. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, S. 118
53 Reich-Ranicki, M. zitiert nach Vogt, J. (1978), S. 123
54 Vgl. Sowinski, B. (1993), 21
55 Vgl. Petersen, A. (1980) „Die Rezeption von Bölls "Katharina Blum" in den Massenmedien der Bundesrepublik Deutschland „, Wilhelm Fink Verlag, Kopenhagen, München, S. 75
56 Vgl. Petersen, A. (1980), S. 83
57 Parpert, F. (1963), „Grenze und Grenzüberschreitung“, Ernst Reinhardt Verlag München/Basel, S. 12
58 Vgl. Quante, M. (2003), „Einführung in die Allgemeine Ethik“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 10
59 Vgl. Pieper, A. (2003), „Einführung in die Ethik“, 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, A. Franck Verlag, Tübingen und Basel, S. 17
60 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 11
61 Vgl. Ott, K. (2001), „Moralbegründungen zur Einführung“, Junius Verlag GmbH, Ham- burg S. 27ff und Quante, M. (2003), S. 16ff und Pieper, A. (2003), S. 72ff und Andersen, S. (2000), „Einführung in die Ethik“, Walter de Gruyter GmbH und Co. KG, Berlin und New York, S. 8ff
62 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 12
63 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 12
64 Andersen, S. (2000), S. 7
65 Vgl. Ott, K. (2001), S. 27
66 Pieper, A., Thurnherr, U. (Hrsg.) (1998), „Angewandte Ethik. Eine Einführung“, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München, S. 9
67 Düwell, M., Hübenthal, C., Werner, M. (Hrsg.), (2006), „Handbuch Ethik“, Zweite, ak- tualisierte und erweiterte Auflage, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar, S. 426
68 Vgl. Höffe, O. (Hrsg.) (1980), „Lexikon der Ethik“, zweite, neubearbeitete Auflage, Verlag C. H. Beck, München, S. 168
69 Vgl. Düwell, M., Hübenthal, C., Werner, M. (Hrsg.), (2006), S. 426
70 Vgl. Höffe, O. (Hrsg.) (1980), S. 168
71 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 17
72 Pieper, A. (2003), S. 17
73 Höffe, O. (Hrsg.) (1980), S. 222
74 Vgl. Hume, D. (2004), „Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen. 1. bis 3. Buch“, XENOMOS Verlag, Berlin, S. 456
75 Vgl. Kant, I. (2003), „Kritik der praktischen Vernunft“, Felix Meiner Verlag, Hamburg, S. 67 / 68
76 Vgl. Hume, D. (2004), S. 455 - 457
77 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 20
78 Vgl. Pieper, A. (2003), S. 21
7979 Vgl. Scheffer, B. (…), „Das Zusammenspiel von Fiktion und Realität. Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods“, Medienobservationen, unter: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kino/septlang.doc , gesichtet am 24.02.2007 →Dieser Aspekt soll zu einem späteren Zeitpunkt im Kapitel „Unmöglichkeit des Nichtreagierens“ ausführlicher behandelt werden.
80 Vgl. Schulz, W. (1989), „ Grundprobleme der Ethik“, Verlag Günther Neske, Pfullingen,
81 Parpert F. (1963), S. 14
82 Scheffer, B. (2004), Medien als Passion“, Medienobservationen: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/theorie/scheffer_medienpassion.html ge- sichtet am 14.02.2007
83 Vgl. Parper F. (1963), S. 26
84 Parper F. (1963), S. 38
85 Vgl. Dulinski, U. (2003), „Sensationsjournalismus in Deutschland“, UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz, S. 233
86 Vg. Dulinski, U. (2003), S. 90
87 Vgl. Janisch Dr., W. (1998), „Investigativer Journalismus und Pressefreiheit. Ein Ver- gleich des deutschen und amerikanischen Rechts“, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden- Baden, S. 15
88 Vgl. Janisch Dr., W. (1998), S. 16
89 Vg. Dulinski, U. (2003), S. 90
90 http://de.wikipedia.org/wiki/Investigativer_Journalismus, 11.01.2007
91 Krüger, U.M. (1996), „Boulevardisierung der Information im Privatfernsehen“, Media Perspektiven, Heft 2, S. 367, zitiert nach: Dulinski, U. (2003), S. 237
92 Dulinski, U. (2003), S. 183
- Citar trabajo
- Friederike Wittmaack (Autor), 2007, Grenzüberschreitungen in Heinrich Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80016
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