Das Hauptseminar, zu dem diese Hausarbeit erstellt wurde, hieß „Text und Subjekt: Sigmund Freuds Traumdeutung“, es argumentierte also auf der Grundlage eines „fachfremden“ Textes, eines nicht literaturtheoretischen, primär psychoanalytischen Werkes (dennoch eines Standardwerkes der Geisteswissenschaften) und untersuchte dieses v. a. auf seine Ähnlichkeit zum literarischen Text hin. Es ging darum, die Mechanismen psychoanalytischen Erzählens zu verstehen, darum, wie Freud sein psychoanalytisches Verstehen erzählt.
Auf die Frage, was ein Text eigentlich ist, will ich hier nicht eingehen, ebenso wenig darauf, dass auch die Traumdeutung von Freud als literarischer Text gelesen werden kann... Vielmehr möchte ich untersuchen: Ist der Traum ein Text und ist der (hier speziell ausgewählte) literarische Text einem Traum ähnlich? Beobachtungen der Wechselwirkungen von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse und die von Literatur und Psychoanalyse (speziell der Traumtheorie) sollen die Basis bilden für den hier vorgelegten Versuch einer Textanalyse.
Die Leitfrage dieser Hausarbeit soll also sein: Bietet der Text „Ein Landarzt“ von Franz Kafka, seine Struktur, Anlässe dafür, ihn wie einen Traum zu lesen und wenn ja, was bedeutet das?
Als zweite Primärquelle neben der Kafka-Erzählung nutze ich die für das Seminar so zentrale „Traumdeutung“ von Sigmund Freud.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. „EIN LANDARZT“: EIN TRAUM?
3. ALLGEMEIN: TEXT UND TRAUM
3.1. FREUDS „TRAUMDEUTUNG“
3.2. DIE PSYCHOANALYTISCHE LITERATURWISSENSCHAFT: GEMEINSAMKEITEN VON TRAUM UND TEXT
3.3. DIE KONTROVERSE BEZIEHUNG VON PSYCHOANALYSE UND LITERATUR
4. KAFKA UND PSYCHOANALYSE
5. REPRISE / DIE LITERATURWISSENSCHAFT ZUM „LANDARZT“
5.1. RÜCKKEHR ZUM LANDARZT
5.2. WAS SAGEN DIE FORSCHER?
6. SCHLUSSTEIL
1. EINLEITUNG
Das Hauptseminar, zu dem diese Hausarbeit erstellt wurde, hieß „Text und Subjekt: Sigmund Freuds Traumdeutung“, es argumentierte also auf der Grundlage eines „fachfremden“ Textes, eines nicht literaturtheoretischen, primär psychoanalytischen Werkes (dennoch eines Standardwerkes der Geisteswissenschaften) und untersuchte dieses v. a. auf seine Ähnlichkeit zum literarischen Text hin. Es ging darum, die Mechanismen psychoanalytischen Erzählens zu verstehen, darum, wie Freud sein psychoanalytisches Verstehen erzählt.
Auf die Frage, was ein Text eigentlich ist, will ich hier nicht eingehen, ebenso wenig darauf, dass auch die Traumdeutung von Freud als literarischer Text gelesen werden kann... Vielmehr möchte ich untersuchen: Ist der Traum ein Text und ist der (hier speziell ausgewählte) literarische Text einem Traum ähnlich? Beobachtungen der Wechselwirkungen von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse und die von Literatur und Psychoanalyse (speziell der Traumtheorie) sollen die Basis bilden für den hier vorgelegten Versuch einer Textanalyse.
Die Leitfrage dieser Hausarbeit soll also sein: Bietet der Text „Ein Landarzt“[1] von Franz Kafka, seine Struktur, Anlässe dafür, ihn wie einen Traum zu lesen und wenn ja, was bedeutet das?
Als zweite Primärquelle neben der Kafka-Erzählung nutze ich die für das Seminar so zentrale „Traumdeutung“ von Sigmund Freud.[2] Methodisch gesehen, setze ich die Kurzgeschichte als bekannt voraus, werde also keine Inhaltsangabe liefern. Ebenso verfahre ich mit der „Traumdeutung“, die zwar in Ansätzen wiedergegeben werden soll, deren ausführliche Diskussion aber hier jeden Rahmen sprengen würde. Daneben gibt es solche „Unmengen“ an Sekundärliteratur zur psychoanalytischen Literaturwissenschaft und – als deren Gegenstand – zu Franz Kafka, dass mein schon umfangreiches Literaturverzeichnis wahrscheinlich noch umfangreicher hätte ausfallen müssen.
Ich steige ein mit einem der Illustration dienlichen Analyseteil, der vor der Kenntnisnahme anderer (wissenschaftlicher) Interpretationen erstellt wurde. Im Anschluss wird eine theoretische Auseinandersetzung mit der Fragestellung geschehen, dazu werden zunächst zentrale Kategorien des Traumtheoretikers Sigmund Freud eingeführt, die dann die behaupteten Gemeinsamkeiten zwischen Traum und Text untermauern. Danach gehe ich auf das nicht immer unproblematische Verhältnis von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse ein .[3] Ein 4. Kapitel: „Kafka und die Psychoanalyse“ untersucht, warum sich gerade ein Text von Kafka zum Traumvergleich geeignet ist und was Kafka (gleich einer Wechselwirkung) über die Psychoanalyse dachte.
Um anschließend noch einmal –diesmal mit fundiertem theoretischen Wissen und unter Zuhilfenahme anderer Interpretationen – zum Text „Ein Landarzt“ und der Ausgangfrage zurückzukehren, was die festgestellten Ähnlichkeiten für Konsequenzen nach sich ziehen.
Diese Reprise soll v. a. bezwecken, dass die vorher eingeführten Freudschen Kategorien, psychoanalytisch-literaturwissenschaftlichen Sichtweisen und Informationen zum Autor Kafka den Text noch eingehender beleuchten.
Was also ist an der Geschichte dem Traum und seinen Strukturen und Inhalten verwandt?
Das Vorhaben meiner im Anschluss, in Kapitel 2 folgenden Textanalyse ist es, allgemeine, von der Alltagsbeobachtung und nicht von Freud herstammende Strukturmerkmale des Traums in der Geschichte herauszuarbeiten, da ich die Erzählung unter diesem Aspekt in der Forschung bisher nicht behandelt gesehen habe. Wenn von den Literaturwissenschaftlern eine Traumanalogie festgestellt wird, so immer nur in Bezug auf die Freudschen Kategorien. Bei meiner einleitenden Analyse will ich mich weder auf linguistische Phänomene stützen (z. B. Tropen untersuchen) noch eine Interpretation, was die einzelnen Inhalte bedeuten könnten, liefern. Vielmehr möchte ich im Ansatz eine Strukturanalyse vorlegen, die sich allein auf mein eignes Wissen um Träume und meine Erfahrung mit Träumen beruft, und die, in ihrer Naivität, am Ende der Hausarbeit diesmal wissenschaftlich fundiert, aufs Neue betrachtet werden kann.
2. „EIN LANDARZT“: EIN TRAUM?
Nur knapp, ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich hier eine Analyse der Kafkaschen Kurzgeschichte „Ein Landarzt“ versuchen, mit einer in erster Linie nicht interpretierenden, sondern Analogien zwischen Traum und Text suchende Vorgehensweise.
Beim Zitieren der Textstellen beziehe ich mich im Folgenden immer nur auf die im Reclamband abgedruckte Erzählung: Franz Kafka: Ein Landarzt und andere Prosa. Hrsg. von Michael Müller. Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 1995.
Die Geschichte „Ein Landarzt“ setzt abrupt und unmittelbar ein, dabei steht die Beschreibung eines negativen Gefühls an erster Stelle. Der Protagonist der Erzählung ist ein Ich-Erzähler, auch der Titel der Kurzgeschichte bezeichnet die Hauptfigur. Somit ist einer der wichtigsten Voraussetzungen für eine Traum-Analogie gegeben: Das erlebende Ich, die Subjektivität des Erlebten ist für den Traum unabdingbar.
Aus eigener Erfahrung typisch für den Traum, bzw. den Rest, an den man sich zu erinnern vermag, ist der am Beginn stehende, mulmige, nervöse, gleichsam negative Eindruck von irgendetwas. So verhält es sich zumindest bei Angstträumen.[4]
Der unmittelbare, nicht als einleitend funktionierende, Einsatz der Erzählung findet des Weiteren hierin eine Ähnlichkeit: Das Traum-‚Ich’ befindet sich mit einem Mal in einer Situation, die auf unangenehme Weise Tatkräftigkeit, den Zwang zur Handlung, zur Reaktion abverlangt.
Ein weitere Analogie ist die Darstellung der Situation nicht angemessener, weil übertriebener Emotionen („zerstreut, gequält“ S. 10, Z. 18) oder unangebrachter Gefühle („…und wir beide lachten“ S. 10, Z. 29).
Für eine (übertrieben) starke Emotionalität des erzählenden Ichs spricht auch seine Beschreibung des Angegriffenseins durch die Bewohner seiner Gegend: „So sind sie, die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen.“ (S. 14, Z. 19 u. 20).
Schon wieder sieht sich der Arzt einem von außen auf ihn ausgeübten Druck ausgeliefert, die Parallelen zur Struktur eines unangenehmen Traumes sind hier offensichtlich.
Das erste skurrile Moment der Erzählung passiert, als der Landarzt den im Stall zusammengekauerten (noch unbekannten) Knecht entdeckt, welcher sogleich fragt, ob er „anspannen“ soll, um dann auf allen Vieren aus dem kleinen Verschlag hervor zu kriechen. Diese Situation entbehrt jeglichen Realitätsbezugs. Warum ist dieser sofort zum Dienen bereite Knecht dem Landarzt, seinem Herren nicht bekannt? „Man weiß nicht, was für Dinge man im eigene Hause vorrätig hat“ (S. 10, Z. 27 u. 28), kommentiert das Dienstmädchen (zu diesem Zeitpunkt noch namenlos), was sich wie eine Reminiszenz an Freuds Ausspruch, dass „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“[5], lesen lässt, ist der Knecht doch Teil seines, des Landarztes eigenen Hauses, so wie er mit dem engen Schweinestall, aus dem er hervor kriecht, „verschmolzen“ zu sein scheint, und auch die beiden Pferde, die sich im Anschluss daran auf surreale Art und Weise aus dem engen Türloch herauswinden, scheinen so zu der dem Freudschen Ausspruch zugrunde liegenden Metapher „Haus“ für „das Unbewusste“ zu gehören.
Das Tempus wechselt relativ schnell vom (epischen) Präteritum ins Präsens (mit Beginn der 2. Seite: S. 11, Z. 3), verantwortlich dafür scheint eine „Actionszene“. Wie im Traum ist hier die Zeitlogik außer Kraft gesetzt, wenn auch hier nur die grammatikalische.
Durch den turbulenten sexuellen Übergriff des Pferdeknechts auf das Dienstmädchen (eine Tat, der im Übrigen eine klare Motivation und eine kausale Verknüpfung zum Vorangegangenen fehlt) wird dessen Namen „Rosa“ zum ersten Mal, und dann gleich gehäuft, erwähnt, die Libido des Landarztes ist mit einem Mal geweckt.
Er muss zu dem Patienten, während Rosa und der Pferdeknecht im Haus zurückbleiben, eine Vergewaltigung kann nur vermutet werden.
Nicht zuletzt in Freuds Traumtheorie erfährt man, dass die Grundlage der Träume oft ein sexueller, verdrängter Gegenstand ist. Doch dazu mehr in Kapitel 5.
Die bildhaften Darstellungen eines Schreckensszenarios, Angst evozierender Orte, Landschaften, Hintergründe im Text kommen einem Alptraum gleich: Die Rede ist von einem starken „Schneegestöber,“ das den „weiten Raum“ (S.10, Z. 4 u. 5) zwischen dem Arzt und seinem Patienten füllt, von einem „endlosen Winter“ (S. 13, Z. 8 u. 9); zudem ist es Nacht, als sich die verwirrenden und surrealen Ereignisse zutragen. Das letzte räumliche Bild, das in der Geschichte „gezeichnet“ wird (danach liest man nur noch einen „stream of consciousness“, also Bewusstseinsstrom des Landarztes) ist das einer „Schneewüste“ (S. 16, Z. 3).
Generell fällt an der Kurzgeschichte eine häufige Beschreibung von Gefühlszuständen wie Verwunderung, Verlegenheit, Zerstreuung, Qual, Verwirrung auf.
Die Wunderung des Landarztes über den Knecht: „Als wisse er von meinen Gedanken“ (S. 11, Z. 9 u. 10) – Im Traum (wie in surrealer Literatur) ist eine solche Telepathie als real (vor-) gegebener Zustand möglich.
Mit der nächsten offen geäußerten Verwunderung: „denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof des Kranken, bin ich schon dort; ruhig stehen die Pferde; der Schneefall hat aufgehört“ (S. 11, Z. 31-33), offenbart sich ein neues Moment der Analogie von Traum und Text. Die Struktur ist hier sehr traumhaft: Die raum-zeitliche Ordnung wird entkräftet, die Verknüpfung fehlt, die Ellipse wirkt erschreckend und surreal. Dieses Strukturmerkmal erinnert auch an die magische Logik eines Märchens.
Auch auf Seite 12 gibt es eine Textstelle, in der der Landarzt sich über merkwürdige (etwa „höhern Orts angeordnet[e]“? siehe S. 13, Z. 35) Vorgänge wundert: „Diese Pferde, die jetzt die Riemen irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie, von außen aufstoßen; jedes durch ein Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt durch den Aufschrei der Familie, den Kranken betrachten [Hervorhebungen durch K. E.].“ Das „Ich“ bemerkt die rätselhaften Momente der Geschichte selber. Ein derartiges Verhalten kennen wir von uns selbst, während wir träumen. Wir sind zwar in die (erlebte, gefühlte) Geschichte involviert, können sie aber gelegentlich auch mit einem gewissen Abstand, wie von außen betrachten, als wundersam neutrale Observateure unseres eigenen Schicksals.[6]
Des Landarztes Gedankengänge sind stark assoziativ. Von dem panischen Gedanken an Rosa, sein weit entferntes, dem Knecht ausgeliefertes und somit von ihm vernachlässigtes Dienstmädchen – „Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein; was tue ich, wie rette ich sie, wie ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare Pferde vor meinem Wagen“ (S. 12, Z. 17-20) – schwingen seine Gedanken zu Verwunderung über die Pferde um (siehe oben, das Zitat zu den merkwürdigen Vorgängen), um wieder bei dem Vorsatz, bald zu fahren und Rosa zu retten, zu landen. Doch sofort wird der Arzt wieder von neuen Begebenheiten abgelenkt, die alle unmittelbar aufeinander folgend, der Hektik und Panik eines Fiebertraums ähneln, das innere Bild eines sich hin und her wälzenden, von marternder Selbstbefragung panischen und von der Reizüberflutung überforderten Fieberträumers heraufbeschwören.
Auf S. 13 schiebt sich der zentrale (Verlust-, Schuld-)Gedanke „Rosa“ immer wieder in die sprunghaften Gedankenketten des Arztes (Z. 7, 19 u. 24), die zudem von seltsamen Gefühlen, sowie von mangelnden Kausalzusammenhängen geprägt sind. „Als ich aber meine Handtasche schließe […] bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist. Ich gehe zu ihm, er lächelt mir entgegen, als brächte ich ihm etwa die allerstärkste Suppe – ach, jetzt wiehern beide Pferde; der Lärm soll wohl, höhern Orts angeordnet, die Untersuchung erleichtern – und nun finde ich: ja der Junge ist krank.“
Der Hinweis auf das Wirken einer höheren Macht kommt schon auf S. 12, wenn das erzählende Ich, also der Landarzt, etwas dem Wesen nach Schicksalhaftes feststellt: „’Ja’, denke ich lästernd, ‚in solchen Fällen helfen die Götter, schicken das fehlende Pferd, fügen der Eile wegen noch ein zweites hinzu, spenden zum Übermaß noch den Pferdeknecht –‚“. (S. 12, Z. 13-16). Auch zum Schluss ist noch einmal die Rede von Übernatürlichkeit; der Landarzt bezeichnet hier seine Pferde als „unirdisch“ (S. 16, Z. 12/13). Dieses, wenn auch scherzhafte, Berufen auf eine höhere Instanz („höhern Orts angeordnet“, siehe S. 13, Z. 35) könnte – unbewusst – eventuell das Unbewusstsein meinen, dass sich gottgleich in den Träumen über alle Hürden hinweg Bahn bricht, und dabei oft die Logik außer Kraft setzt, um gewisse Aspekte zu verarbeiten. Auf die Geschichte des Landarztes übertragen: der Arzt soll sich mit dem kranken Jungen, seiner Heilung, der großen Wunde an seiner Seite auseinandersetzen, und erkennt dies mehr oder weniger bewusst.
Auf den Seiten 14 und 15 wiederholen sich die bereits erwähnten Strukturen: Verwunderliche, plötzliche Zustände durch eine Entkräftung der raum-zeitlichen Ordnung, surreale Momente, starke Emotionen. So ist z. B. ist die plötzliche Entkleidung des Arztes ist nicht nachvollziehbar: „Und sie kommen, die Familie und die Dorfältesten, und entkleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer an der Spitze steht vor dem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf den Text:
‚Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt.’“ (S. 14, Z. 27 – 33)
Doch schämt sich der Arzt seiner Nacktheit nicht[7], er fühlt sich gar „allen überlegen“ (S. 15, Z. 1), auch als sie ihn neben seinen Patienten ins Bett legen.
Als semantisch bedeutsam wird mit Beginn der S. 14 (der 5. der sechseinhalb Seiten starken Erzählung) jedoch auch der „Wundenkomplex“ eingeführt, der beispielhaft für die oft extrem rätselhaften (Haupt-)Inhalte eines Traums stehen könnte. Der Arzt entdeckt auf einmal an der Seite des Patienten, in seiner Hüftgegend eine große Wunde, ihrer Beschreibung nach ziemlich eklig und monströs. Ein Ekel wird aber nicht empfunden, zumindest nicht in der Wiedergabe der Erlebnisse geäußert.
Die Wunde wird sogar als schön beschrieben, indem ihr die Metapher der Blume zur Seite gestellt wird: „an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.“ (S. 14, Z. 12 u. 13), und: „Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine ganz Ausstattung.“ (S. 15, Z. 16 u. 17). Durch die Verwendung der (an erster Stelle stehenden) Beschreibung der Wunde als „Rosa“-farben (S. 14, Z. 2) und die Wortwahl „rosig“ (S. 14, Z. 8) für die Würmer, die in ihr wachsen, passiert eine Gleichsetzung der (rosa) Wunde mit (der schönen) Rosa, seiner Hausangestellten, die offenbar im Landarzt eine große Wunde der Schuld zurückgelassen hat.
Nach der bereits beschriebenen Entkleidung geschieht durch das Legen des Arztes zu dem Kranken ins Bett eine Gleichsetzung der beiden. Nicht nur die entblößte, intime Stellung, die beide nun innehaben, eint sie, denn: Beide haben nicht zuletzt eine „rosa Wunde“, bzw. „Wunde Rosa“ gemein. Der Arzt liegt nun nackt (und damit auch seelisch, innerlich entblößt) neben der rosa Wunde, die sich in der Hüftgegend des Patienten befindet und begehrt in seinen Gedanken seine Magd Rosa.
Auch der Pferdeknecht, als „Teil des eigenen Hauses“ kann wie schon erwähnt als ein anderes Ich des Landarztes angesehen werden. Eine Reprise dieser Beziehung geschieht auf S. 16:
„‚Munter!’ sagte ich, aber munter ging’s nicht“ (S. 16, Z. 2), so der Landarzt auf dem Heimweg durch die „Schneewüste“ zu sich selbst und zu den ihn ziehenden Pferden. Zu Beginn der Erzählung hatte der Knecht im Hinblick auf die Pferde dasselbe gesagt: „Munter!“(S. 11, Z. 25). Dieser Teil seiner Persönlichkeit – der animalische, triebhafte, das „Vieh“ (S. 11, Z. 6) aus dem Schweinestall – vernachlässigt ihn in dieser Notsituation von Kälte und Dunkelheit, denn: „munter ging’s nicht“.
Der letzte Satz der Kurzgeschichte, der nach einer Folge aneinander gereihter, panisch-intensiver Gefühle steht[8], in der sich der Landarzt für seine Zukunft, seine nur erhoffte, aber nicht geglaubte, Wiederkehr Szenarien des Schreckens ausmalt, beendet die Geschichte folgendermaßen: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ Dieser Satz ist wie eine Einsicht, dass die (schmerzvolle) Verarbeitung des durch die Geschichte (den Traum) an die Oberfläche des Bewusstseins geschwemmten Unbewussten nicht gelingen wird.
Rosa (als Hausangestellte gleichsam Teil seines eigenen Hauses) ist seine seelische Wunde, der Knecht (als ebensolcher) sein anderes (bisher verdrängtes, da unbekanntes) Ich; ein Ich, das aus dem schmutzigsten Teil des Hauses, dem Schweinestall hervor kriecht; der kranke Patient als ebenso „anderes Ich“ liefert Hinweise auf eine – psychische (?) – Krankheit des Landarztes. Der Landarzt sehnt sich zärtlich nach Rosa; wenn auch erst seit kurzem, davor blieb sie unbemerkt; seine Libido wird erst geweckt, als der Pferdeknecht sie sexuell belästigt. Der eine will zerstören, der andere retten…
Diese Persönlichkeitsspaltungen, und auch das zwischen Leben- und Sterbenwollen hin und her gerissene Verhalten des kranken Patienten sprechen für die ambivalente Situation des Ich zwischen Lebensbejahung, Heilungs-, bzw. Erkenntniswillen seines Problems/seiner Wunde/seiner Krankheit und einer totalen Ablehnung demgegenüber. Wie man sieht, verbirgt diese Geschichte hinter einer wirren, surrealen Handlung zahlreiche, interpretationsbedürftige Inhalte, die sich symbolhaft in den Personen und Gegenständen der Geschichte verdichten. Und damit ist ihr – im besonderen Maße – eine ähnliche Struktur wie die des Traumes zueigen!
3. ALLGEMEIN: TRAUM UND TEXT
Geben also die strukturellen Eigenheiten des Kafka-Textes „Ein Landarzt“ Anlässe dazu, ihn wie einen Traum zu lesen? Ja, so meine These, weil es eben ein Text ist; und Texte Träumen vom Wesen her IMMER ähnlich sind. Im Folgenden möchte ich jene allgemeinen Ähnlichkeiten und Analogien von Traum und Text aufzeigen, die diese Behauptung unterstützen, um ein wenig später auf den Landarzt im Speziellen und am Ende auf die Frage: Was bedeutet die Möglichkeit, den Text wie einen Traum zu lesen? zurückzukommen.
Zunächst möchte ich einige, für die Argumentation dieser Hausarbeit wesentliche Aspekte des Werkes „Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud, ein grundlegendes, zentrales Werk der Theoriegeschichte, knapp zusammenfassen, um darauf folgend einen Abriss der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zu skizzieren. Hier sollen auch die beiden „Fachrichtungen“ vereint, die Gemeinsamkeiten von Traum und Text, von Literatur und Psychoanalyse herausgearbeitet werden. Anschließend soll das Für und Wider der verschiedenen Ausrichtungen der psychoanalytischen Literaturinterpretation diskutiert werden, wobei ich mich zahlreicher Sekundärliteratur bedienen kann, handelt es sich doch um eine kontroverse Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen des gegenseitigen (Gebrauchs-)Verhältnisses von Psychoanalyse und Literatur(-Wissenschaft).
3.1. FREUDS „TRAUMDEUTUNG“
Die Psychoanalyse, besonders eines ihrer großen Werke, „Die Traumdeutung“, hat nachhaltig auf Literatur, Malerei und Film des 20. Jahrhunderts eingewirkt: „Die Autoren entdeckten die unbewußte Dimension ihrer selbst und ihrer Gestalten; ihr Publikum lernte im gleichen Maße, künstlerisch gestaltete Produktionen des Unbewußten ästhetisch zu würdigen, wie sie selbst sich der schöpferischen ‚Regression im Dienste des Ichs’ bewußt zu bedienen lernten.“[9]
Freud zufolge setzt sich der Traum aus den „Tagesresten“ (all dem, was vom Tageserleben übrig geblieben ist, nicht zu Ende gedacht/gebracht wurde), die als Traumanlass fungieren und dem Verdrängten, also dem, womit der Träumer in seinem Leben nicht fertig geworden ist (z. B. unbefriedigten Begierden der Kindheit, Trieben, die im Unbewussten erhalten bleiben[10] ) zusammen.[11]
Freuds erste und zentrale These seines (zudem als Jahrhundertbuch[12] ) zur Jahrhundertwende 1900 erschienenen Werkes lautet: „Der Traum ist eine Wunscherfüllung“[13]. „Wo die Wunscherfüllung unkenntlich, verkleidet ist“, da stellt Freud „eine Tendenz zur Abwehr gegen diesen Wunsch“[14] fest. Die Unklarheit der erinnerten Träume[15] (des „manifesten Trauminhalts“), begreift er als psychologisch erforderlich, als Produkt von notwendiger Zensur, Fälschung und Stilisierung. Denn nicht jeder unbewusste Wunsch ist angenehm, gar „rechtens“:
„Wir dürfen als die Urheber der Traumgestaltung zwei psychische Mächte […] annehmen, von denen die eine den durch den Traum zum Ausdruck gebrachten Wunsch bildet, während die andere eine Zensur an diesem Traumwunsch übt und durch diese Zensur eine Entstellung seiner Äußerung erzwingt.“[16] Aus diesem Gegensatz von Triebwunsch und Zensur ergibt sich nun die eigentümliche Struktur des Traumes. Der Traum ist ergo „die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches“.[17]
[...]
[1] Franz Kafka: Ein Landarzt und andere Prosa. Hrsg. von Michael Müller. Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 1995.
[2] Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Hrsg. von Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler. S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1982. (=Klassiker des modernen Denkens)
[3] Ein die auf die (scheinbaren) häufig von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft festgestellten Analogien von den Tropen Metapher und Metonymie zu den Freudschen Traumarbeits-Mechanismen Verschiebung und Verdichtung eingehender Teil hatte hier leider keinen Platz mehr. Obzwar schon fast fertig geschrieben, , will diese Arbeit doch nicht den angemessenen Rahmen sprengen, in dem sie dem dritten Kapitel, wie eigentlich vorgesehen einen Exkurs zu den zentralen Begriffen Metapher und Metonymie anhängt.
[4] Einen Hinweis auf einen Fiebertraum, eine fiebrige Vorstellung von etwas; bietet folgender Ausspruch des Patienten nach einem wirren Dialog mit dem Landarzt: „Ist es wirklich so oder täuschest du mich im Fieber?“ (S. 15, Z. 24 u. 25). Vielleicht adressiert das „Ich“ diese Frage im Bezug auf sein Erleben auch an sich selber, der Schlafende realisiert in manchen Momenten seine akute Fiebersituation während des Träumens, in dem er sich selbst als träumendes Subjekt zu analysieren fähig ist.
[5] Zitiert nach der Einleitung von F.-W. Eickhoff in: Freud 1997, S. 17. Ursprüngliche Quelle: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 10. Imago Publishing Co. London 1946. S. 194
[6] So z. B. als der Landarzt nach seiner Entkleidung allein bildhafte Feststellungen macht, indem er nicht reagiert, sondern nur beschreibt: „Dann bin ich entkleidet und sehe, die Finger im Barte, mit geneigtem Kopf die Leute ruhig an. Ich bin durchaus gefaßt und allen überlegen und bleibe es auch, trotzdem es mir nichts hilft, denn jetzt nehmen sie mich beim Kopf und bei den Füßen und tragen mich ins Bett.“ Siehe S. 14, Z. 34 – S. 15, Z. 3.
[7] Für Freud spielen indessen nur Träume als „typische Träume“ eine Rolle, in denen der Nackte sich seiner Nacktheit schämt! Vgl. das Kapitel V.D.a) „Typische Träume“ – „Der Verlegenheitstraum der Nacktheit“ Freud 1982, S. 245-251.
[8] Z. B.: „Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher.“ S. 16 Z. 11-13
[9] Kindler 2000, CD-ROM
[10] Vgl. Bartels 1981, S. 12: „Als Kinder haben wir die asozialen Triebwünsche aufgegeben und haben sie ins Unbewusste verbannt Im Schlaf lockerst sich die Abwehr gegen sie, jedoch wirkt auch hier immer noch die Instanz der Zensur, die Traumzensur.“
[11] Siehe das Kapitel V der „Traumdeutung“: „Das Traummaterial und die Traumquellen“ (Freud 1982, S. 173ff), vgl. ins Besondere die Seiten 173-175.
[12] Vgl.: Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. Hrsg. von Walter Erhart und Herbert Jaumann. 2. Aufl. Verlag C. H. Beck. München 2002. Darin: Renate Schlesier: Hermeneutik auf dem Königsweg zum Unbewußten. Freuds Traumdeutung (1900).
[13] Vgl. die Überschrift des dritten Kapitels. Freud 1982, S. 133
[14] Beides: Freud 1982, S. 152
[15] Im Erwachen sind „nur wenige Bruchstücke einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten, in Bilderschrift abgefassten, phantastischen Geschichte zu erraffen / erahnen“! Siehe Kindler 2000, CD-ROM
[16] Freud 1982, S. 154
[17] Ebd., S. 170
- Quote paper
- Anna Katharina Eißel (Author), 2005, Analogien von Traum und Text am Beispiel von Kafkas 'Ein Landarzt', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79426
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