Die glagolitische Schrift (auch Glagolica genannt) ist die älteste slawische Schrift, ein von dem byzantinischen Gelehrten Kyrill eigens für die slawische Sprache entwickeltes Alphabet, das erstmalig 862/63 im Zuge der Missionstätigkeit Kyrills und seines Bruders Methodius in Mähren zum Einsatz kam.
In der Arbeit wird der Frage nachgegangen, was die Verschriftung einer bislang nur mündlich benutzten Sprache - und die Art und Weise, in der sie geschah - für das Missionswerk bedeutete, welche Funktion dem glagolitischen Alphabet zukam und welche Auswirkungen die eigens für die Slawen geschaffene Schrift auf die Einbeziehung der slawischen Völker in das entstehende christliche Europa hatte.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Historischer Hintergrund
II.1. Byzanz um die Mitte des 9. Jahrhunderts
II.2. Das Verhältnis zwischen Ostkirche und Westkirche
II.3. Kurzbiographie Kyrillos und Methodios
III. Das glagolitische Alphabet
III.1. Hintergründe der Entstehung
III.2. Technik der Verschriftung
III.3. Weitere Entwicklung der Glagolica
IV. Schriftlichkeit und Slawenmission
V. Fazit
Anhang
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
I. Einleitung
Die glagolitische Schrift (auch Glagolica genannt) ist die älteste slawische Schrift, ein von dem byzantinischen Gelehrten Kyrill eigens für die slawische Sprache entwickeltes Alphabet, das erstmalig 862/863 im Zuge der Missionstätigkeit Kyrills und seines Bruders Methodius[1] in Mähren zum Einsatz kam. Das Brüderpaar hielt die Predigt in der slawischen Sprache, das glagolitische Alphabet diente dabei der schriftlichen Fixierung der aus dem Griechischen ins Slawische übersetzten Liturgie und Evangelientexte.
Um dem Themenschwerpunkt “Schriftlichkeit” Rechnung zu tragen, soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, was die Verschriftung einer bislang nur mündlich benutzten Sprache - und die Art und Weise, in der sie geschah - für das Missionswerk der Brüder bedeutete. Von dieser zentralen Fragestellung ausgehend, ergibt sich folgende Vorgehensweise:
Einführend sollen im historischen Hintergrund zwei für die Missionierung der Slawen nicht unbedeutende Aspekte thematisiert werden: zum einen die kulturellen Rahmenbedingungen im Byzanz der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, zum anderen die zunehmenden religiös-politischen Differenzen zwischen der Westkirche (Rom) und der Ostkirche (Byzanz). Eine Kurzbiographie der Brüder soll das Augenmerk insbesondere auf Voraussetzungen und Anstöße im Zusammenhang mit der Schaffung des glagolitischen Alphabets legen.
Im anschließenden Hauptteil soll das glagolitische Alphabet näher betrachtet werden, hier interessiert vor allem die Technik der Verschriftung: wie und mit welchem Ziel mag Kyrill vorgegangen sein? Ob Kyrills Schöpfung im Verlauf der Zeit Erfolg beschieden war, soll der letzte Abschnitt des Kapitels schildern.
Ferner soll versucht werden, die Missionierung der Slawen und die dafür neu erschaffene Schrift in einen Zusammenhang zu bringen: welche Funktion kam dem glagolitischen Alphabet zu, bekam die Christianisierung der Slawen dadurch eine andere, neue Qualität? Warum erschuf Kyrill eine gänzlich neue Schrift, und welche Auswirkungen hatte dies auf die Einbeziehung der Slawen in das entstehende christliche Europa?
Einer Annäherung an diese Fragen sollen, wo immer möglich, die Lebensbeschreibungen der Brüder dienen, die jeweils kurz nach ihrem Tod entstandenen ‚Vitae Constantini bzw. Methodii’[2], da diese Schriften - trotz aller Stilisierung - durch ihre zeitliche Nähe und die Vielzahl belegter geschichtlicher Sachverhalte eine “mannigfach zuverlässige Dokumentierung ihres [=Kyrills und Methods] Wirkens und somit ein Zeugnis der zeitgenössischen Geschichtsschreibung im 9. Jahrhundert“[3] repräsentieren.
II. Historischer Hintergrund
II.1. Byzanz um die Mitte des 9. Jahrhunderts
Während der Regierungszeit Kaiser Michaels III. [4] (842 - 867) wurden innere und äußere Faktoren, die Byzanz und seine kulturelle Entwicklung über zwei Jahrhunderte[5] gelähmt hatten, endgültig überwunden: die religiöse Auseinandersetzung um die Bilderverehrung wurde auf der Synode in Konstantinopel 843 definitiv beigelegt, die Sanierung der Staatsfinanzen gelang in auffallend kurzer Zeit, und mit dem byzantinischen Sieg in der Schlacht von Porson 863 war der Expansion der Araber nach Norden ein Riegel vorgeschoben - Byzanz „erlangte nun allmählich ein militärisches Übergewicht und wurde in der Region für lange Zeit die Vormacht“.[6]
Der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen folgte eine kulturelle Aufbruchsstimmung, die ‚ Makedonische Renaissance’, die vor allem die Bildung betraf: mit der Einrichtung der ‚Magnaura-Universität’ im Kaiserpalast entstand eine Ausbildungsstätte, die zu einem Anziehungspunkt großer Gelehrter[7] wurde. Auch die in den eineinhalb Jahrhunderten zuvor zum Erliegen gekommene literarische Produktion blühte wieder auf.
Die ‚Makedonische Renaissance’ nahm allerdings eine bedeutsame Richtung: kulturell entstand nichts viel Neues, da die Kulturschaffenden ihre Tätigkeit auf die Pflege und Bewahrung des klassischen Griechentums fokussierten[8]. Kyrills und Methods Wirken fiel somit in eine Zeit, die einen kulturellen Aufschwung erfuhr, der sich jedoch stark an der hellenistischen Vergangenheit orientierte und sich „neuen Strömungen und Ideen von außen“[9] eher verschloss. Diese Einseitigkeit vergrößerte die Kluft zur Entwicklung des lateinischen Europas[10] und führte Byzanz in eine kulturelle Isolation, die nach Kompensation, z. B. in Form einer religiösen Expansion, verlangte.
II.2. Das Verhältnis zwischen Ostkirche und Westkirche
Anfang des 4. Jahrhunderts machte die Christianisierung unter Kaiser Konstantin, der nach 324 Byzantium (Konstantinopel) zur neuen kaiserlichen Residenz ausbaute, im spätantiken römischen Reich erhebliche Fortschritte.
Bis zum Fall des weströmischen Reiches im Jahre 476 war es der christlichen Kirche, inzwischen im gesamten Mittelmeerbecken verbreitet, halbwegs gelungen, ihre Einheit zu bewahren, wenn es auch bereits im Verlauf des 4. Jahrhunderts zu ersten Spannungen gekommen war: die byzantinische Ostkirche errichtete 381 das Patriarchentum[11] und definierte sich als „aus vier regionalen Jurisdiktionsbezirken bestehend, von denen jeder einen Patriarchensitz [Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem][12] hatte“[13], die Westkirche erhielt das Patriarchat Rom. Zwar fanden bis 787 ökumenische Konzile statt , doch Ost- und Westkirche entfernten sich fortan voneinander, immer wieder kennzeichneten theologische Auseinandersetzungen das Verhältnis der beiden Kirchen, und „die kulturellen Unterschiede - der Gebrauch des Lateinischen im Westen, des Griechischen im Osten - wurden bald durch politisch-religiöse Gegensätze abgelöst”[14], die ihren Höhepunkt 800 mit der Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. erreichten.
Nun „existierten in Europa, im Westen und im Osten, zwei Kaiserreiche mit ökumenischen Ansprüchen und fast den gleichen Zielsetzungen und Weltanschauungen: Die Verbreitung der christlichen Lehre und die Einheit der christlichen Ökumene unter einer einheitlichen kaiserlichen Gewalt“[15].
Als Rechtsnachfolger des byzantinischen Kaisers im Westen erhielt Karl der Große auch förmlich die Hoheit über den Kirchenstaat Rom und versuchte, durch theologische Argumente[16] die Unterordnung der Ostkirche aufzuzeigen, um die Christenheit vollends auf den Mittelpunkt Rom auszurichten. Byzanz versagte sich dieser römischen Suprematie, die Spaltung in römisch-katholische Papstkirche und byzantinisch-orthodoxe Kaiserkirche nahm ihren Verlauf. Um eine von Rom unabhängige Entwicklung nehmen zu können, musste die orthodoxe Kirche ihren Aktionsradius erweitern: so kam es zu verstärkter byzantinischer Missionstätigkeit. Auf dem Balkan traf diese auf die Missionsbestrebungen Roms, ein ‚Kampf um slawische Seelen’ entbrannte.
II.3. Kurzbiographie Kyrillos und Methodios
Kyrillos und Methodios wurden in Thessaloniki als Söhne einer angesehenen byzantinischen Familie geboren, Methodios um das Jahr 815, Kyrillos gegen 826/27.
843 ging Kyrill nach Konstantinopel und studierte dort an der berühmten Universität im ‚Magnaurapalast’. Mit außergewöhnlichem Fleiß eignete er sich eine hohe philosophisch-theologische Bildung[17] an, seine große Gelehrsamkeit brachte ihm den Beinamen ‚der Philosoph’ und eine Professur an der Philosophischen Fakultät ein. Dort, und als Berater des kaiserlichen Hofes in religiösen Fragen, konnte er seine ausgezeichneten rhetorischen und diplomatischen Fähigkeiten praktizieren. Seine Vita betont neben der außergewöhnlichen philologischen Begabung auch stets seinen festen Glauben an das orthodoxe, byzantinisch geprägte Christentum.
Method, hoch gebildet - wenn vielleicht auch nicht so brillant wie Kyrill - hatte zunächst eine weltliche Laufbahn eingeschlagen und Jurisprudenz studiert. Die Vita Methodii berichtet, dass er mit der Verwaltung eines ‚slawischen Fürstentums’[18] betraut worden war, so konnte der spätere Lehrer und erste Erzbischof der Slawen „die ganze slawische Gesittung studieren (…) und sich allmählich daran gewöhne(n).“[19] Um 840 legte Method das Mönchsgelübde ab und zog sich ins Kloster auf dem Olympos in Bithynien zurück, wohin ihm sein Bruder Kyrill nach dem endgültigen Ende des Bilderstreits folgte. Dort erreichte Kyrill um 860 der kaiserliche Ruf, eine Mission in das Land der Chasaren durchzuführen[20].
Auf dieser gemeinsam mit Methodios unternommenen Reise beschäftigte sich Kyrill ausgiebig mit Sprachen, so soll er in Cherson Hebräisch gelernt und eine hebräische Grammatik in acht Teilen übersetzt haben, er studierte samaritanische und syrische Bücher und Texte[21]. Vielleicht hatte er dabei die „schriftliche Fixierung der Türksprache Chazarisch“[22] im Auge. Die chasarische Oberschicht hing bereits unerschütterlich dem jüdischen Glauben an, folglich zeitigte die Mission im großen und ganzen nicht den erhofften Erfolg - ebenso wenig wie eine auf dem Rückweg vor dem Volk von Phullai gehaltene Missionspredigt. Kyrill „mit seinem Geist, seinem missionarischen Eifer und seinem ungewöhnlichen Gespür für Sprache und Sprachen“[23] hatte bislang nichts Essentielles bewirkt.[24] Dass unzulängliche Sprachkenntnisse zum Misserfolg der Unternehmung beigetragen hatten, wird dem Philologen Kyrill sicher nicht verborgen geblieben sein.
[...]
[1] Kyrill(os) und Method(ios) sind die geistlichen Namen des Brüderpaares, welche aus Gründen der Übersichtlichkeit im folgenden durchgängig benutzt werden. Kyrils profaner Name lautete Konstantin, Methodios hieß Michael.
[2] Beide Vitae sind in einer deutschen Übersetzung erschienen in: Die Lehrer der Slawen Kyrill und Method: die Lebensbeschreibungen zweier Missionare / aus dem Altkirchenslawischen übertragen und herausgegeben von Joseph Schütz, St. Ottilien 1985.
[3] Schütz, S. 8.
[4] Kursiv Gedrucktes wird im Anhang befindlichen Glossar erläutert.
Die genannten Verbesserungen der Lebensumstände fallen zwar in die Regierungszeit Michaels III., gehen aber nicht direkt auf seine Initiative zurück, da er bei seiner Thronbesteigung zwei Jahre zählte und während seiner gesamten Regierungszeit unter dem Einfluss verschiedener Mitregenten stand.
[5] Diese waren gekennzeichnet durch ständige Kriege mit Persien, die Abwehr der arabischen Gefahr, große Territorialverluste an diese Gegner sowie die Wirren des Bilderstreits.
[6] Lilie, S. 204
[7] wie z. B. Johannes Grammatikos oder die Lehrer Kyrills, Photios – der spätere Patriarch – und Leon der Mathematiker
[8] Die Epoche des Enzyklopädismus begann: „Man beschäftigte sich damit, die herausragenden Werke der Vergangenheit zu sammeln, zu exzerpieren und in eigenen Sammlungen zu ordnen.“ – Lilie, S. 205
[9] Lilie, S. 206
[10] Hier ist die kulturelle Kluft (des griechisch geprägten Ostroms zum lateinisch geprägten Europa) gemeint – zur religiös-politischen Kluft siehe Kapitel II.2.
[11] Das Patriarchentum ist eine hierarchische Stufe der Ostkirche, die über den Bischöfen steht.
[12] Die Diözesen der Patriarchate von Jerusalem, Antiochien und Alexandrien wurden durch islamische Araber im 7. Jahrhundert jedoch besetzt, dadurch wurde das Patriarchat Konstantinopels zum Mittelpunkt der Ostkirche.
[13] Eliade, S. 62
[14] Sartorius: Die orthodoxe Kirche, S. 26/27
[15] Leben und Werk der byzantinischen Slawenapostel, S. 13
[16] Die Libri Carolini, auf Karls Beschluss verfasst, heben die Beschlüsse des Konzils von Nikaia 787 hinsichtlich der Billigung der Bilderverehrung auf und rufen den Streit um die ‚Filioque-Frage’ hervor, der östliches und westliches Christentum immer mehr entzweit.
[17] Die Vita Constantini benennt die studierten Fächer: Grammatik, Homer, Geometrie, Dialektik, alle philosophischen Disziplinen, Rhetorik, Arithmetik, Astronomie, Musik und alle übrigen hellenischen Künste. – Siehe Schütz, S. 29
[18] Schütz hält dieses legendenhaft wirkende slawische Fürstentum bestenfalls für einen byzantinischen Verwaltungsbezirk (Schütz, S. 135), vielleicht für eine slawische Provinz an der bulgarischen Grenze – so in: Leben und Werk der byzantinischen Slavenapostel (…), S. 8
[19] Vita Methodii, Schütz S. 90
[20] Die Vita Constantini berichtet, die Chasaren hätten sich folgendermaßen an Kaiser Michael III. gewandt: „Wir fragen um euren Rat und erbitten einen gelehrten Mann von euch, auf dass wir euren Glauben annehmen, so er die Juden und Sarazenen widerlegt.“ – Schütz, S. 41
[21] Vita Constantini, Schütz, S. 41/42
[22] Dies vermutet Schramm: Schramm, S. 91
[23] Schramm, S. 88
[24] Ganz davon abgesehen entdeckten Kyrill und Method in Cherson die Reliquien des heiligen Märtyrer Clemens. – „Durch die Übertragung dieser Reliquien nach Rom konnten unsere Slawenlehrer später die Gunst des Papstes Hadrian II. (867 – 872) für ihr Missionswerk in Mähren und Pannonien gewinnen.“ – Leben und Werk der byzantinischen Slavenapostel (…), S. 11
- Arbeit zitieren
- Claudia Scheel (Autor:in), 2005, Methodios und Kyrillos: Zur Entstehung, Entwicklung und Wirkung des glagolitischen Alphabets, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/79316
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