Die Arbeit verfolgt und analysiert die politische Orientierung der Juden im deutschen Kaiserreich. Dabei wird vor allem nach Möglichkeiten und Grenzen der Ausbildung individueller politischer Präferenzen gefragt vor dem Hintergrund des in Milieus und Lager fragmentierten Parteiensystems, der sozioökonomischen Interessenlage der Juden und der Ausbreitung des Antisemitismus.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
I. Einleitung: Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation und die Rolle der Juden
II. Demographische und soziale Situation der jüdischen Bevölkerungsgruppe
III. Wahlverhalten und politische Präferenzen der jüdischen Bevölkerung
a) Die “Weggemeinschaft” mit den Liberalen
b) Die konservativen Parteien
c) Das Zentrum
d) Die sozialistische Alternative
IV. Interessenverbände und die organisierte Abwehr des Antisemitismus
V. Juden als Politiker: Differenzen und Gemeinsamkeiten
VI. Abschlussbemerkung
Literaturverzeichnis
a) Quellen
b) Sekundärliteratur
Tabellenverzeichnis
Tab.1: Anzahl jüdischer Abgeordneter in deutschen Parlamenten 1867- 1916
Tab.2: Politische Orientierung der jüdischen Wahlberechtigten in %
Tab.3: Jüdische Reichstagsabgeordnete
I. Einleitung: Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation und die Rolle der Juden
In den Augen seiner liberalen Kritiker war das deutsche Kaiserreich ein “bürokratischer Obrigkeitsstaat mit Scheinparlamentarismus”.[1] Betrachtet man die Reichsverfassung von 1871, stellt man zunächst fest, dass es ein nach freiem, gleichem und geheimem Männerwahlrecht zusammengestelltes Parlament gibt. Die verfassungsmäßige und reale politische Macht des Reichstags stand aber in keinem Verhältnis zu diesem Wahlrecht. Außer dem Budgetrecht besaß der Reichstag kaum nennenswerte Einflussmöglichkeiten. Er konnte weder den Reichskanzler ernennen und entlassen, noch dessen Regierung effektiv kontrollieren. Ebenso fehlte ihm die Kontrolle über das Militär. Die Beschlüsse des Reichstags konnten über das Veto- und Auflösungsrecht des Bundesrates, wo eine konservative Mehrheit stets gesichert war, unwirksam gemacht werden. Über die ungleichen Wahlgesetze in den Ländern (insbesondere das preußische Dreiklassenwahlrecht) wirkte der Föderalismus noch zusätzlich als Demokratisierungsbremse.[2]
Ungeachtet der begrenzten Kompetenzen des Reichstags, stieg die Wahlbeteiligung von der ersten Reichstagswahl 1871 von 50,7%, über ein “Zwischenhoch” 1887 von 77,2%, bis zur letzten Wahl 1912 auf 84,5% an.[3] Wie ist dieser Umstand zu erklären, wenn die Wähler ihre Stimme doch für ein Parlament mit nur sehr geringen Vollmachten abgaben?
Eine plausible Erklärung führt dies darauf zurück, dass die Wähler über ihre politische Entscheidung ihren schicht- und religionsspezifischen Loyalitäten, ihrer Zugehörigkeit zu einem sozialmoralischen Milieu, Ausdruck verliehen haben. Nach Mario R. Lepsius gab es im Kaiserreich vier sozialmoralische Milieus, die von einer oder einer Gruppe von Parteien bedient wurden: das katholische Milieu (= Zentrum), das städtisch- protestantische Milieu (= Liberale), das agrarisch- protestantische Milieu (= Konservative), die protestantische Arbeiterschaft (= Sozialdemokraten). Nach Karl Rohe, der den Verfall des Liberalismus und den Bedeutungsgewinn des Nationalismus stärker gewichtet, sammelte sich das bürgerlich- protestantische Milieu in einem heterogenen „nationalen Lager“.[4]
Die deutschen Juden lassen sich kaum in dieses Schema einordnen. Es gab keine Partei, die spezifisch jüdische Interessen vertrat. Aus der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung, Religion und Kultur entwickelten sich bei ihnen keine politischen Loyalitäten. Der übergroße Teil der jüdischen Bevölkerung bemühte sich um Integration und Assimilation. Ihr Ideal war der “deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens”, dessen politische Entscheidungen auf der Abwägung individueller ökonomischer und sozialer Interessenlagen beruhten. Dies widersprach nicht der Bewahrung einer ethnisch- religiösen Gruppenidentität, die allerdings für den privaten Bereich und nicht für politische Loyalitäten maßgebend sein sollte.[5] Es ergibt sich die Frage, in wie fern dieses Selbstbild individueller politischer Entscheidungsfreiheit unter den Bedingungen des in Milieus fragmentierten Parteiensystems und angesichts des sich in der politischen Kultur ausbreitenden Antisemitismus von jüdischen Wählern und Politikern tatsächlich in Anspruch genommen werden konnte.
II. Demographische und soziale Situation der jüdischen Bevölkerungsgruppe
Erste wichtige Hinweise auf politische Orientierung und Wahlverhalten der Juden im Kaiserreich kann man durch eine Untersuchung ihrer Sozialstruktur gewinnen. Die Juden waren eine sehr kleine Minderheit, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ab 1880 stetig sank. Machten sie 1880 noch 1,24% der Gesamtbevölkerung des Reiches aus, so waren es 1905 noch 1% und 1910 0,95%.[6]
Eine Untersuchung der Sozialstruktur der deutschen Juden deckt drei Hauptunterschiede zur nichtjüdischen Bevölkerung auf. Erstens schritt der Prozess der Urbanisierung beim jüdischen Bevölkerungsteil im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wesentlich schneller voran. Lebten in den ländlichen Provinzen Ost-, Westpreußen, Pommern und Posen im Jahre 1871 noch 22,67% aller im Reich ansässigen Juden, so waren es 1900 nur noch 13,35%. Insgesamt betrachtet lebten, wenn man Statistiken von 1885 zu Rate zieht, 43% aller deutschen Juden in Großstädten, aber nur 16% der Gesamtbevölkerung. Zweitens gab es erhebliche Unterschiede in der Gewerbe- und Sozialstruktur. Die jüdische Bevölkerungsgruppe war durch eine breite Mittelschicht gekennzeichnet. Im Zuge der Industrialisierung stieg zwar der Prozentsatz der in der Industrie beschäftigten Juden stetig an (1882: 20,8%, 1907: 23,7% der erwerbstätigen jüdischen Bevölkerung), der Handel blieb aber das Hauptberufsgebiet, in dem 1895 gut 3/4, 1907 fast 3/4 aller jüdischen Erwerbstätigen beschäftigt waren. Außerdem war die Zahl der Selbständigen und leitenden Angestellten überdurchschnittlich hoch. Um 1900 zählten etwa drei Fünftel (Nipperdey) bis vier Fünftel (Zmarzlik) der jüdischen Bevölkerung zum oberen oder mittleren Bürgertum und ca. 50% aller waren selbständig oder in leitenden Positionen beschäftigt.[7]
Deutlich überrepräsentiert waren die Juden in leitenden Positionen in Teilbereichen des Bankenwesens, des Handels- und Kleinhandwerks, in einigen wenigen Bereichen der industriellen Produktion, sowie unter nichtstaatlichen “Bildungsberufen” (Ärzte, Anwälte, Journalisten etc). Von Führungspositionen in Bürokratie und Militär blieben die Juden dagegen auch nach ihrer formalrechtlichen Gleichstellung 1871 weitgehend ausgeschlossen. Hier konnte nur die christliche “Taufe als Entrebillet” (Heinrich Heine) weiterhelfen.[8]
Drittens verfügten die Juden über einen Bildungsvorsprung gegenüber den Nichtjuden. 1887 waren 25% aller Berliner Gymnasiasten Juden, bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil der Stadt von ca. 5%. Auch an den Universitäten und Technischen Hochschulen waren Juden als Studenten überdurchschnittlich vertreten. Im Studienjahr 1887/88 waren 9,3% aller an preußischen Universitäten eingeschriebenen Studierenden jüdischen Glaubens.[9]
Daraus, dass die Juden eine vorwiegend städtische, mittelständische Bevölkerungsgruppe mit einem hohen Bildungsniveau waren, lässt sich entnehmen, dass sie ein klassisches Wählerpotential für den politischen Liberalismus darstellten.
[...]
[1] Max Weber, Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen (3.Aufl.) 1971, S. 291.
[2] Text der Reichsverfassung von 1871 in: Ferdinand Siebert, Von Frankfurt nach Bonn. 100 Jahre deutsche Verfassungen 1849-1949, Frankfurt a.M. (12.Aufl.) 1978, S. 37ff. Zum Reichstag: Vgl. Hans- Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.3: Von der “Deutschen Doppelrevolution” bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1848-1914, München 1995, S. 864-873, 1038-1063. Zum Bundesrat: Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt a.M. 1997, S. 31ff.
[3] Gerd Hohhorst/ Jürgen Kocka/ Gerhard A. Ritter (Hg.), Statistisches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914, München 1975, S. 173-176.
[4] Vgl. Mario R. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80; Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992.
[5] Vgl. Till van Rahden, Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Olaf Blaschke/ Frank-Michael Kaufmann (Hg.), Religion im Kaiserreich, Gütersloh 1996, S. 409-434.
[6] Werner Habel, Deutsch- jüdische Geschichte am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte der Innerjüdischen Sammlungsbewegung im Deutschen Reich 1880-1900, Kastellaun 1977, S. 78. Angaben in absoluten Zahlen in: Hohorst u.a. (Hg.), Statistisches Arbeitsbuch, S. 53-55. Ebenso: Monika Reicharz, Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, in: Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch- jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.3: Umstrittene Integration 1871-1918, München 1997, S. 28.
[7] Vgl. Hans- Günter Zmarzlik, Antisemitismus im deutschen Kaiserreich 1871-1918, in: Bernd Martin/ Ernst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981, S. 250-252; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd.1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 396ff. Gewerbestruktur der deutschen Juden: Vgl. Monika Reicharz, Berufliche und soziale Struktur, in: Meyer (Hg.), Deutsch- jüdische Geschichte, S. 41; Hans Martin Klinkenberg, Zwischen Liberalismus und Nationalismus im 2.Kaiserreich, in: Konrad Schilling (Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Köln 1963, S. 365ff.
[8] Vgl. Habel, Deutsch- jüdische Geschichte, S. 81-85. Genauere statistische Angaben in: Werner Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Ders. (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Tübingen 1976, S. 57-115; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 396-413; Klinkenberg, Zwischen Liberalismus und Nationalismus, S. 371ff.
[9] Vgl. George L. Mosse, Das deutsch- jüdische Bildungsbürgertum, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 2. Teil, Stuttgart 1990, S. 168-180.
- Citation du texte
- Thomas Gräfe (Auteur), 2000, Die politische Orientierung der Juden im deutschen Kaiserreich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78808
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