Das Deutsche Gesundheitssystem steckt in einer Krise, sowohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite herrscht Reformbedarf. Vorschläge wie die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft zu gestalten ist, gibt es viele. Jedoch verlangt eine nachhaltige Reform nicht nur die parteipolitische Durchsetzbarkeit, sondern, vor allem in den sozialen Sicherungssystemen, auch ein erhebliches Maß an Gerechtigkeit. Sie ist entscheidend für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz einer sozialpolitischen Maßnahme. In der aktuellen politischen Diskussion stehen vor allem die so genannte „Bürgerversicherung“ und „Kopfprämien-Modelle“.
Darüber hinaus gibt es verschiedenste Modelle, welche die Einführung einer Kapitaldeckung vorsehen. Für alle Systeme gibt es Befürworter und Kritiker, welche dieser Reformoptionen nun nachhaltiger und sozial gerechter ist, liegt oftmals im Ermessen und dem Empfinden des Betrachters, der die anvisierten Maßnahmen unter Einbezug seiner persönlichen zukünftigen Lebenssituation wertet.
Inhaltsverzeichnis
1. Reformbedarf des Gesundheitssystems
2. Legitimation einer Versicherungspflicht
2.1 Versicherung unter dem „Schleier des Nichtwissens“
2.2 Staatliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen
3. Status Quo der Gesetzlichen Krankenversicherung
3.1 Finanzierung
3.2 Demographischer Wandel als primäres Problem
3.3 Lösungsansätze
4. Reformvorschläge
4.1 Bürgerversicherung und Kopfpauschalen-Modelle
4.2 Solidarische Alterungsreserve
5. Fazit
Literatur
1. Reformbedarf des Gesundheitssystems
Das Deutsche Gesundheitssystem steckt in einer Krise, sowohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite herrscht Reformbedarf. Vorschläge wie die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft zu gestalten ist, gibt es viele. Jedoch verlangt eine nachhaltige Reform nicht nur die parteipolitische Durchsetzbarkeit, sondern, vor allem in den sozialen Sicherungssystemen, auch ein erhebliches Maß an Gerechtigkeit. Sie ist entscheidend für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz einer sozialpolitischen Maßnahme. In der aktuellen politischen Diskussion stehen vor allem die so genannte „Bürgerversicherung“ und „Kopfprämien-Modelle“. Darüber hinaus gibt es verschiedenste Modelle, welche die Einführung einer Kapitaldeckung vorsehen. Für alle Systeme gibt es Befürworter und Kritiker, welche dieser Reformoptionen nun nachhaltiger und sozial gerechter ist, liegt oftmals im Ermessen und dem Empfinden des Betrachters, der die anvisierten Maßnahmen unter Einbezug seiner persönlichen zukünftigen Lebenssituation wertet.
Diese Arbeit hat jedoch das Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf einen normativen Prüfstand zu stellen. Dazu bedient sie sich eines simplen, in der Wissenschaft jedoch häufig verwendeten Gerechtigkeitsmodells. Anknüpfend an die Vertragstheorie soll unter dem Rawlsschen „Schleier des Nichtwissens“ eine hypothetische Wahlentscheidung simuliert werden. Dazu wird zunächst erklärt, welche Prämissen bei einer solchen Wahl gelten und der Beweis geliefert, wieso die Bereitstellung einer Versicherungspflicht legitime Aufgabe des Staates ist. Anschließend wird die Reformbedürftigkeit des aktuellen Finanzierungsmodells der Gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere unter Einbezug des demographischen Wandels, aus normativer Sicht aufgezeigt und Lösungsansätze geboten. Darauf hin folgt eine kurze Vorstellung sowie Kritik der gegenwärtig beständigsten Reformvorschläge. Letztendlich wird gezeigt, dass die Ergänzung des derzeit praktizierten Umlageverfahrens um eine zusätzliche „Solidarische Alterungsreserve“ eine Option ist, die sowohl politisch schnell und günstig realisierbar ist als auch den normativen Test unter dem Schleier des Nichtwissens bestehen würde.
2. Legitimation einer Versicherungspflicht
2.1 Versicherung unter dem „Schleier des Nichtwissens“
Um die Finanzierung der GKV in ihrer derzeitigen Form und verschiedene Alternativen unter Gerechtigkeitsaspekten zu untersuchen, muss zunächst geklärt werden, was als gerecht akzeptiert wird und warum der Staat die Grundidee einer Versicherungspflicht verfolgen sollte.
Die konstitutionelle Ökonomik geht von einem Naturzustand aus, der durch Abstimmungen mit anschließender Regelbindung, überwunden werden kann. Kollektive Entscheidungen führen demnach zu einem Gesellschaftsvertrag, der alle Beteiligten besser stellt. In einem hypothetischen Gedankenmodell geht man regelmäßig von einer Gefangenendilemma-Situation aus. In diesem Zustand besteht für alle Individuen ein Anreiz, sich nicht kooperativ im Sinne der Allgemeinheit zu verhalten, sondern seinen individuellen Willen durchzusetzen. Individuell rationales Verhalten führt aber nicht nur dazu, dass die Allgemeinheit geschädigt wird, auch der einzelne stellt sich schlechter als bei einer kooperativen Strategie.[1] Durch einen Gesellschaftsvertrag, der mit Regeln und bestimmten Sanktionierungen aufwartet, ist eine Voraussetzung zur Einhaltung der gesellschaftsfreundlichen, kooperativen Handlungsalternative durch alle Individuen gegeben. Jedoch ist es in der Realität oftmals so, dass kollektive Entscheidungen selten einstimmig getroffen werden. Vielmehr sind sie Entscheidungen auf Basis von Kompromissen und Absprachen und daher mit Kosten der Entscheidungsfindung verbunden. Dabei ist es unerlässlich, dass Individuen, die durch eine Entscheidung Kosten tragen müssen, dafür entschädigt werden. Wäre dies nicht der Fall, könnte ein einzelnes Individuum von seinem Veto-Recht gebrauch machen und seine Zustimmung zu einer kollektiven Entscheidung verweigern. In einer hypothetischen Verfassungswahl im Naturzustand entscheiden rationale Individuen für einen Gesellschaftsvertrag, um dem Gefangenendilemma zu entkommen und eine Verbesserung nach dem Pareto-Kriterium zu erreichen. Um die Einhaltung einer solchen Vertragsabsprache auch im Nachhinein individuell zu wünschen, also ein konstitutionelles Interesse zu äußern, bedarf es der Gewissheit, dass diese auch von allen anderen Individuen eingehalten wird. Die Gewährleistung der Einhaltung und der Schutz des Vertrages ist demnach eine legitime Aufgabe des Staates.
Aufgegriffen wurde die Idee des Naturzustands wie er in der Vertragstheorie Anwendung findet von Rawls, der sich von dieser jedoch klar abgrenzt und alle entscheidenden Individuen unter einen „Schleier des Nichtwissens“ stellt. Er stellt den Naturzustand nicht als primitives Stadium der Kultur dar, sondern als ursprüngliche Situation der Gleichheit.[2] Der Schleier des Nichtwissens entzieht den Individuen das Wissen über alle Eigenschaftsmerkmale wie Alter, Geschlecht, Gesundheit oder materiellen Status in einer postkonstitutionellen Gesellschaft, allerdings sind sich die Entscheidungsträger über das Gesellschaftsbild einer solchen Situation im klaren. Risikoaverse Individuen würden im Falle einer Abstimmungsentscheidung nach dem Maximin-Prinzip die Alternative wählen, bei der sie im schlechtesten Fall möglichst gut gestellt sind.[3] Unter diesen Voraussetzungen führt eine Abstimmung unter Berücksichtigung eines Schleiers des Nichtwissens zu einer Wahl, bei der alle beteiligten die gleichen Grundsätze verfolgen und demnach einstimmig entscheiden.
Eine Begründung für einen Wunsch zur Absicherung gegen Krankheitsrisiken kann nun abgeleitet werden. Da sich die Individuen unter dem Schleier des Nichtwissens darüber im Unklaren sind, ob sie in Zukunft zu starken oder geringen Nachfragern des Gutes Gesundheit gehören, werden sie sich für eine Versicherung zur medizinischen Grundversorgung entschließen. Die Gefahr, dass sie ex post zu den „schlechten Risiken“ gehören, lässt sie ex ante eine Versicherung befürworten.
2.2 Staatliche Bereitstellung von Versicherungsleistungen
Für die Begründung einer staatlichen Bereitstellung von Krankenversicherungsleistungen gibt es mehrere Ansätze. Zunächst soll jedoch die Eigenschaft der Gesundheitssicherung als Kollektivgut betrachtet werden.
Um unter dem Schleier des Nichtwissens einer staatlichen Bereitstellung von Versicherungsleistungen zuzustimmen, muss diese den Charakter eines Kollektivguts besitzen. Kollektivgüter besitzen die Eigenschaften, dass ihre Nutzer nicht um den Konsum des Gutes rivalisieren und auch einzelne nicht vom Konsum des Gutes ausgeschlossen werden können, auch dann nicht, wenn der einzelne keinen Beitrag zur Bereitstellung des Gutes geleistet hat. Dies führt regelmäßig zu einer bereits erwähnten Gefangenen-Dilemma-Situation und damit verbunden zum Free-Rider-Problem.[4] Da also immer ein Anreiz besteht, nicht zur Finanzierung öffentlicher Güter beizutragen, würden rational entscheidende Individuen in einer Wahlentscheidung für die staatliche Bereitstellung und solidarische Finanzierung des Kollektivguts stimmen. Zunächst erscheint eine Krankenversicherung als rein privates Gut, da sie zunächst nur dem Betroffenen selbst nützt. Unter Berücksichtigung des Solidaritätsprinzips, wie es in der Deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung findet, kann sie jedoch unter dem Schleier des Nichtwissens als reines Kollektivgut betrachtet werden.[5] Wie bereits unter 2.1 erwähnt, kann kein Individuum vor einer Wahl wissen, ob es anschließend zu den schlechten Risiken gehören wird und ein hohes Maß an Versicherungsleistungen beanspruchen wird. Selbst individuell eigennutz-orientierte Menschen verhalten sich vor dem Schleier des Nichtwissens zum Teil altruistisch.[6] Die Solidarität bedeutet in diesem Falle auch ein hypothetisches Hilfeversprechen, was dazu führt, dass alle rationalen Individuen zumindest einem Basis-Versicherungsschutz gegen die Kosten medizinischer Versorgung zustimmen würden.[7] Die Solidarität spiegelt sich insbesondere in der Frage der Generationengerechtigkeit wieder. So ist anzunehmen, dass ein Individuum vor allem einem Solidarausgleich zwischen Alt und Jung sowie einem Solidarausgleich zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen zustimmen würde.[8]
Nicht nur die Eigenschaft der Gesetzlichen Krankenversicherung als Kollektivgut liefert eine Rechtfertigung zum staatlichen Angebot von Versicherungsleistungen, auch Informationsasymmetrien in Form von adverser Selektion bieten einen Marktversagenstatbestand in Bezug auf den Krankenversicherungsmarkt. Adverse Selektion beschreibt eine Situation vorvertraglicher Informationsasymmetrien, bei der eine Marktseite einen Informationsvorsprung genießt. Für den Versicherungsmarkt bedeutet dies konkret, dass ein Anbieter von Versicherungsleistungen als Prinzipal vor einem Vertragsabschluss keine ausreichenden Informationen bezüglich der Risikoklassifizierung der Versicherungsnehmer als Agenten besitzt. Demnach wird er die unterschiedlichen Risiken der Versicherer nicht unterscheiden können und daher nur eine durchschnittliche Prämie kalkulieren.[9] Der Versicherer zieht jene Kunden an, die aus ihrer Sicht bei ihm das beste Preis-Leistungs-Verhältnis vorfinden.[10] In einer solchen Situation werden sich die guten Risiken nicht für den Abschluss einer Versicherung entschließen, die schlechten Risiken diese allerdings vermehrt nachfragen und somit auch die Schadenssumme erhöhen, welche allerdings mit einer kalkulierten Durchschnittsprämie nicht gedeckt werden kann. Ein privater Versicherungsmarkt ohne konkrete Einstufung der Risiken wird demnach scheitern. Da eine Risikoeinstufung unter dem Schleier des Nichtwissens wohl keine Zustimmung finden würde, eine Grundsicherung für Gesundheitsleistungen jedoch gesamtgesellschaftlich erwünscht ist, sollte der Staat eingreifen und eine Versicherung anbieten
[...]
[1] Vgl. Cassel, D. (2003), S. 182
[2] Vgl. Rawls (1994), S. 28f.
[3] Vgl. Ott (2003), S. 497
[4] Vgl. Donges, J. / Freytag, A. (2004), S. 162f.
[5] Vgl. Cassel, D. / Müller, C. / Sundmacher, T. (2006), S. 294
[6] Vgl. Arnold, R. (2006), S. 13
[7] Vgl. Breyer, F. (2002), S. 18
[8] Vgl. Cassel, D. / Müller, C. / Sundmacher, T. (2006), S. 294
[9] Vgl. Ott (2003), S. 505
[10] Vgl. Donges, J. / Freytag, A. (2004), S. 191
- Quote paper
- Christian Sonntag (Author), 2007, Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf dem normativen Prüfstand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78771
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