Um die Jahrhundertwende steht im Zentrum des Interesses der 'modernen Klassiker' wie Durkheim, Simmel und Weber eine spezifisch soziologische Entwicklungstheorie mit unterschiedlicher Akzentuierung - Arbeitsteilung / Individualisierung / Rationalisierung -, durch die die im Zuge der Auseinandersetzung mit Spencers und Darwins Evolutionstheorien bewusst gewordene Eigengesetzlichkeit und -funktionalität sozialer Entwicklung auf den Begriff gebracht wurde.
Dabei bestimmt nicht mehr der Fortschrittsglauben, sondern Differenzierung als Strukturmerkmal und Resultat sozialer Entwicklung die Sicht der Geschichte und Gegenwart.
Die besondere Leistung Georg Simmels besteht darin, dass er die moderne Individualität gesellschaftstheoretisch herleitet und damit wohl der einzige 'Gründungsvater' der modernen Soziologie ist, bei dem das Individualitätsproblem in zunehmend komplexer werdender Gesellschaft in Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht.
Die relativistische Sichtweise teilt Luhmann mit Simmel, und noch radikaler stehen die Begriffe 'Differenz' und 'Differenzierung' in mehrfacher Hinsicht im Zentrum des Luhmannschen Theorieunternehmens. Für ihn hängt das Komplexitätsniveau, das eine Gesellschaft erreichen kann, ab von der Form seiner Differenzierung. Die Arbeit zeichnet weiterhin nach, dass in Luhmanns historisch-semantischer Analyse der Individuation schnittpunktartig die wesentlichen Stränge seiner Theorie zusammen laufen. Systemtheoretisch fasst er Individuen nicht als Teile der Gesellschaft auf, sondern verortet sie in der Umwelt des sozialen Systems. Historisch-differenzierungstheoretisch versteht er die moderne Auffassung von Individualität als Korrelat evolutionärer gesellschaftsstruktureller Veränderungen und bewertet daher philosophisch-individualistische Selbststeigerungs- und Selbstbestimmungsthesen als Begleitsemantik des ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Wandels.
Die Schriften Georg Simmels bilden einen geeigneten 'Abstützungspunkt' außerhalb des spezifisch Luhmannschen Theorie- und Begriffssystems. Von ihnen ausgehend ist zu beurteilen, wie weit einerseits die Erkenntniskapazität der in der Sprache von 'Individuum und Gesellschaft' geschriebenen Soziologie Simmels reicht und in welchem Umfang andererseits durch Luhmanns weitreichende Abstraktionen traditionelles Theoriegut der Soziologie übernommen, reformuliert oder aufgegeben werden muss und was dabei eventuell verloren geht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der gesellschaftstheoretische Ansatz Georg Simmels
2.1 Wechselwirkung
2.2 Soziale Differenzierung
2.3 Geld und Individualisierung
2.4 Vergesellschaftete Subjekte
2.5 Die Tragödie der Kultur
2.6 Qualitativer und quantitativer Individualismus
3. Zur Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns
3.1 Systemdifferenzierung
3.2 Differenzierungsformen
3.3 Evolution und Transformation
3.4 Individuation
3.4.1 Inklusion und Exklusion
3.4.2 Die Überleitungssemantik
3.4.3 Vollendete Exklusion: Das Subjekt und sein Reflexionszirkel
3.4.4 Die Gegenwart: Karriere und Anspruchsindividualismus
4. Simmel und Luhmann - wie wird Gesellschaftstheorie möglich?
4.1 Luhmanns Exkurs über Simmels Exkurs
4.2 Die Differenzierungskonzepte
4.3 Individualisierung und Individuation
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
"Whether it be in the development of the Earth, in the development of Life upon its surface, in the development of Society, of Government, of manufactures, of Commerce, of Language, Literature, Science, Art, this same evolution of the simple into the complex, through successive differentiations, holds throughout. From the earliest traceable cosmical changes down to the latest results of civilisation, we shall find that the transformation of the homogeneous into the heterogeneous, is that in which Progress essentially consists" (Spencer 1857: 40).
Mit seinem universellen Evolutionsgesetz von der Transformation einer "unzusammenhängenden Homogenität" in eine "zusammenhängende Heterogenität" (vgl. auch Spencer 1971: 92) führte Herbert Spencer "das Kernstück einer spezifisch soziologischen Entwicklungstheorie" (Tyrell 1978: 175) ein - die Theorie sozialer Differenzierung.
Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen evolutionäre Prozesse des Auseinandertretens zuvor "strukturell 'fusionierter'" Funktionsbereiche der Gesellschaft - etwa Religion, Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft -, in deren Folge sich
"tendenziell ein Nebeneinander funktional spezialisierter Teilbereiche ausbildet, das gleichwohl die 'Einheit' des Gesellschaftssystems nicht sprengt. Ausschlaggebendes Kriterium für spezifisch evolutionären gesellschaftlichen Wandel ist nach dieser Auffassung die innere Pluralisierung und damit Komplexitätssteigerung der Gesellschaft" (ebd.).
Am Anfang dieser spezifisch soziologischen Entwicklungstheorie stehen um die Jahrhundertwende die 'modernen Klassiker' wie Durkheim, Simmel und Weber, in deren Soziologie mit unterschiedlicher Akzentuierung - Arbeitsteilung / Individualisierung / Rationalisierung - die im Zuge der Auseinandersetzung mit Spencers und Darwins Evolutionstheorien bewußt gewordene Eigengesetzlichkeit und -funktionalität sozialer Entwicklung auf den Begriff gebracht wurde. Hatte die Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts noch eine Harmonie zwischen individuellen, Handeln und der sozialen Ordnung gesehen, wird nun das Auseinanderfallen beider Ebenen bewußt und in der Soziologie als Strukturproblem und kulturelle Wertkrise der Moderne[1] reflektiert (vgl. Dahme/Rammstedt 1984: 462). Der utopische Glauben an die Zukunft und den Fortschritt, der die Theorien von Comte über Marx bis hin zu Spencer noch leitete, zerbrach am Ende des 19. Jahrhunderts, und Differenzierung als Strukturmerkmal und Resultat sozialer Entwicklung bestimmt die Sicht der Geschichte und Gegenwart (vgl. Luhmann 1990b: 413).
Das heißt, daß die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung von Beginn an sowohl eine Entwicklungstheorie als auch"Strukturtheorie der modernen, nämlich 'hochdifferenzierten' Gesellschaft" (Tyrell 1978: 176) sein wollte.
In diesem Übergangsstadium zur modernen Soziologie "mit der Überwindung der alten binären Schematisierung von Individuum und Gesellschaft" (Dahme/ Rammstedt 1984: 467) nimmt Georg Simmel[2] eine besondere Position ein. Denn die alte Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft kehrt auf neue Weise in seine Theorie zurück: bringt doch der Prozeß, sozialer Differenzierung die Individualität der modernen Menschen erst hervor. Simmel leitet die modernen Individualität gesellschaftstheoretisch her und ist damit "wohl der einzige 'Gründungsvater' der modernen Soziologie, bei dem das Individualitätsproblem in zunehmend komplexer werdender Gesellschaft in Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht" (Dahme/kammste(it 1984: 464). In der Soziologie der Individuation und der Philosophie der Individualität laufen die Fäden seines Denkens zusammen[3].
In Simmels erster soziologischer Publikation "Über sociale Differenzierung" (1890), die in einer Phase entstand, in der er von "Pragmatismus, Sozialdarwinismus, Spencerschem Evolutionismus" (Landmann 1976: 3) beeinflußt war, weist er das Soziale des Individuellen nach, d.h. die durch gesellschaftliche Differenzierung bedingte Individualität, indem "das Band, welches eine große Anzahl von Individuen schematisch zusammengefaßt hat, durchgeschnitten wird und statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht." (Simmel 1890: 259 f.).
Hier findet sich auch durch Simmels Bestimmung sozialer Entwicklung als Entstehung "assoziativer Verhältnisse homogener Bestandteile aus heterogenen Kreisen" (ebd.: 237) Spencers Evolutionsgesetz wieder. In enger Beziehung zu seiner Differenzierungsschrift stehen seine geldtheoretischen Arbeiten, die er in den Jahren zwischen 1889 und 1900 vorlegt.
Im Geld sieht er das zentrale Symbol der seit der Neuzeit einsetzenden Funktionalisierung und Entsubstanzialisierung der Gesellschaft und ihrer 'Auflösung' in Beziehungen[4]. Differenzierungs- und Geldtheorie können daher als genuin gesellschaftstheoretischer Beitrag Simmels bewertet werden (vgl. Dahme/Rammstedt 1983: 27; Tenbruck 1958: 592). Simmels 'Große' und 'Kleine Soziologie' (1908, 1917) sind primär weitere Ausarbeitungen früher bereits formulierter Grundgedanken: Die Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Soziologie als Wechselwirkung und Vergesellschaftung von Individuen steht hier im Vordergrund. Seine seit etwa 1905 vollzogene erkenntnistheoretische - kantianische - Wende[5] führt ihn im berühmten Exkurs "Wie ist Gesellschaft möglich" (1908: 42-61) zur Bestimmung soziologischer Aprioris und läßt ihn die Subjektqualität der Individuen in den Fluchtpunkt der Betrachtung rücken.
Er kehrt gleichwohl nicht zu einer Dichotomisierung von 'Individuum und Gesellschaft' zurück, sondern leitet das Soziale weiterhin relational her. Georg Simmels Soziologie steht im Rahmen einer Relativitätstheorie, nach der "die logisch-begriffliche Welt aus lauter Gegensatzpaaren besteht, die als regulative Begriffe 'in der Form der Heuristik' und des Alsob auf einander angewiesen seien: Mittel/ Zweck, Funktion/Substanz, Individualisierung/Verallgemeinerung, Monismus/Pluralismus usw." (Böhringer 1976: 113; vgl. Simmel 1900: 93 ff.).
Dieser Relationismus führt ihn zu einer kontrastierenden, dualistischen Denkweise (vgl. Nedelmann 1980), die gegenläufige und konträre Tendenzen und Gegebenheiten als konstitutiv für gesellschaftliche Wechselwirkung bestimmt: "Eintracht, Harmonie, Zusammenwirksamkeit, die als die schlechthin sozialisierenden Kräfte gelten, müssen von Distanz, Konkurrenz, Repulsion durchbrochen werden, um die wirkliche Konfiguration von Gesellschaft zu ergeben" (Simmel 1908: 391). Im Ergebnis bedeutet dies:
"Das soziologische Konzept steht bei ihm im weiteren Rahmen einer Philosophie, für die, wie für die moderne Systemtheorie, das einzelne Seiende durch Wechselwirkung polarer Kräfte zustande kommt und jedes Gesetz in Relation zum Gegensatz steht." (Landmann 1976: 9).
"Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz" (Luhmann 1984: 112), formuliert Niklas Luhmann daher folgerichtig[6] den Ausgangspunkt nicht nur seiner Theorie, sondern jeder Erkenntnisleistung. Die relativistische Sichtweise teilt Luhmann mit Simmel, und noch radikaler stehen die Begriffe 'Differenz' und 'Differenzierung' in mehrfacher Hinsicht im Zentrum des Luhmannschen Theorieunternehmens.
Die Differenz zwischen System und Umwelt ist als erste, grundlegende Prämisse der Beginn jeder seiner systemtheoretischen Analysen. Systeme konstituieren und reproduzieren sich selbst "durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt" (Luhmann 1984a: 35). Sie 'existieren' nur in der unauflöslichen Bezogenheit und Grenzziehung zur Umwelt, so daß die Umwelt "ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System (erhält)" (ebd.: 36). Für jede Beobachtung - auch Selbstbeobachtung und wissenschaftliche Analyse - bildet die Unterscheidung zwischen System und Umwelt die Basis. Luhmann ersetzt das traditionelle erkenntnistheoretische Modell von der Einheit eines Ganzen, das aus seinen Teilen besteht, in einem weiteren Schritt durch eine Theorie der Systemdifferenzierung: "Systemdifferenzierung ist nichts weiter als Wiederholung der Systembildung in Systemen. Innerhalb von Systemen kann es zur Ausdifferenzierung weiterer System/Umwelt-Differenzen kommen" (ebd.: 37) - d.h. zur Ausbildung von Subsystemen.
An dieser Stelle setzt Luhmanns Theorie sozialer Differenzierung an: Über interne Differenzierung, verstanden als Bildung von Teilsystemen im System selbst, multipliziert dieses sich in vielfache System/Umwelt-Differenzen; bezieht man diese Aussage auf das Gesellschaftssystem, bildet jedes Teilsystem der Gesellschaft zusammen mit seiner internen sozialen Umwelt die ganze Gesellschaft, vom jeweiligen Teilsystem aus gesehen in unterschiedlicher Perspektive. Daraus folgt nicht nur, daß die Einheit der Gesellschaft eine "unitas multiplex" ist (vgl. Luhmann 1990b), sondern durch Systemdifferenzierung wird sie auch komplexer: "In diesem Sinne ist Systemdifferenzierung Promotor von Komplexität und Anstoß für den Aufbau emergenter Ordnungen" (Luhmann 1980: 21). Doch anders als die ältere Soziologie faßt Luhmann den Zusammenhang zwischen Komplexität und Systemdifferenzierung nicht als einen kontinuierlichen, unilinearen Steigerungszusammenhang auf. Für ihn hängt vielmehr das Komplexitätsniveau, das eine Gesellschaft erreichen kann, ab von der "Form seiner Differenzierung. Je nach dem, unter welchem Leitgesichtspunkt die primäre Differenzierung des Gesellschaftssystems, die Bildung einer ersten Schicht von Teilsystemen eingerichtet ist, gibt es innerhalb des Gesellschaftssystems mehr oder weniger Anlaß zu verschiedenartigem Handeln." (ebd.: 22). Luhmann nennt vier Differenzierungsformen der Gesellschaft, die sich evolutionär ausgebildet und bewährt haben: Segmentäre Differenzierung, Differenzierung von Zentrum und Peripherie, stratifikatorische Differenzierung und funktionale Differenzierung (vgl. z.B. Luhmann 1990b: 423).
Luhmanns Theorie der Systemdifferenzierung steht im Rahmen einer von Darwin ausgehenden Evolutionstheorie, die jedoch soziokulturelle Evolution nicht als Kausalprozeß begreift, sondern als Strukturänderung von Systemen, die wiederum als Differenzierung aufzufassen ist und "darin besteht, daß Funktionen der Variation, der Selektion und der Stabilisierung differenziert, das heißt durch verschiedene Mechanismen wahrgenommen, und dann wieder kombiniert werden" (Luhmann 1975a: 151). Die jeweilige primäre Differenzierungsform der Gesellschaft ist dabei als Stabilisierungsmechanismus zu sehen[7], auf den sich Variationen stützen.
Je nach primärer Differenzierungsform unterscheidet Luhmann Globaltypen bzw. Epochen gesellschaftlicher Entwicklung und beobachtet die Transformation eines Gesellschaftstyps in einen anderen als Geschichte. Die Basis seiner historisch-semantischen Untersuchungen bildet daher die These, daß der entscheidende "Zug zur Moderne nicht einfach in zunehmender Differenzierung, sondern in einem Wandel der primären Form gesellschaftlicher Differenzierung, im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung" (Luhmann 1989: 155) zu sehen ist. Davon ausgehend, sieht er eine wichtige Folge der seit der Neuzeit einsetzenden funktionalen Differenzierung in einer Neufassung der Individualität: "Der Einzelne kann seine 'Identität' (so formuliert man seit dem 18. Jahrhundert) nicht mehr aus der Angabe seines Geburtsstandes gewinnen, er muß sie erwerben" (Luhmann 1987b: 125).
In einer stratifizierten Gesellschaft gibt die Sozialstruktur selbst die Individualität der einzelnen durch Inklusion der ganzen Person in einen gesellschaftlichen Kontext vor. In einer primär funktional differenzierten Gesellschaft kann jedoch niemand mehr nur einem Teilsystem angehören - die Inklusion in die Gesellschaft wird zum Problem. Die Gesellschaft wird zur Umwelt der Individuen, so daß diese nur noch durch Exklusion definiert werden können: "Das ist der strukturelle Grund für die neuartige (post-naturrechtliche) Dramatik von 'Individuum und Gesellschaft'" (Luhmann 1989: 158).
In Luhmanns historisch-semantischer Analyse der Individuation laufen schnittpunktartig die wesentlichen Stränge seiner Theorie zusammen. Systemtheoretisch faßt er Individuen nicht als Teile der Gesellschaft auf, sondern verortet sie in der Umwelt des sozialen Systems. Historisch-differenzierungstheoretisch versteht er die moderne Auffassung von Individualität als Korrelat evolutionärer gesellschaftsstruktureller Veränderungen und bewertet daher philosophisch-individualistische Selbststeigerungs- und Selbstbestimmungsthesen als Begleitsemantik des ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Wandels.
Auf eine transzendentalphilosophisch oder anthropologisch begründete Subjekt-Auffassung von Individuen verzichtet er und erklärt statt dessen sowohl die Individualität psychischer Systeme als auch die 'Eigenrationalität' sozialer Systeme mit dem Konzept der Autopoiesis. Seine Theorie autopoietischer Systeme führt Luhmann "zwingend zu erkenntnistheoretischen Positionen, die heute unter dem Titel 'Konstruktivismus' erörtert werden" (Luhmann 1987c: 311).
Das legt die Frage nahe, ob von dieser Position aus überhaupt noch eine Verbindungslinie zum 'Klassiker' Georg Simmel gezogen werden kann. Luhmann selbst erspart sich in seiner Intention, eine fachuniversale Theorie mit einem neuen Begriffssystem zu konstituieren, lange Auseinandersetzungen mit soziologischen Fachtraditionen, und das "verschafft ihm enorme Beweglichkeit und Originalitätsgewinne" (Reese-Schäfer 1992: 174). Diese Gewinne könnten aber - gerade bei einem für die Gesellschaftstheorie so zentralen und konstitutiven Thema wie der sozialen Differenzierung - in einer Gegenüberstellung mit einem klassischen Autor umso deutlicher hervorteten. Umgekehrt kann die Gegenüberstellung der vor 80 bis 100 Jahren entstandenen Arbeiten Georg Simmels, die in vielem eben doch nicht so weit von dem "gegenwärtig höchsten und interessantesten philosophischen Reflexionsniveau"(ebd.: 175) entfernt sind, Simmels hohe sozialwissenschaftliche Sensibilität und Gründungsleistung verdeutlichen.
Die Schriften Georg Simmels bilden einen geeigneten 'Abstützungspunkt'[8] außerhalb des spezifisch Luhmannschen Theorie- und Begriffssystems. Von ihnen ausgehend ist zu beurteilen, wie weit einerseits die Erkenntniskapazität der "in der Sprache von 'Individuum und Gesellschaft'" (Luhmann 1981a: 252) geschriebenen Soziologie Simmels reicht und in welchem Umfang andererseits durch Luhmanns weitreichende Abstraktionen "traditionelles Theoriegut der Soziologie übernommen, reformuliert oder aufgegeben werden muß und was dabei eventuell verloren geht" (Luhmann 1987c: 309).
In den folgenden Kapiteln werde ich daher zunächst auf Georg Simmels Konzeption der Wechselwirkung, der sozialen Differenzierung und Individuation eingehen und auch seine kulturphilosophischen Ausführungen zum Problem der Entfremdung einbeziehen. Danach werde ich Luhmanns Theorie der Systemdifferenzierung und soziokulturellen Evolution nachvollziehen und dabei seine historisch-semantische Aufarbeitung der Individuation sowie seine Überlegungen zum Identitätsproblem des modernen Individuums berücksichtigen.
Einige wichtige Grundüberlegungen beider Autoren habe ich in dieser Einleitung bereits skizziert. Sie sollen den Leitfaden für den Hauptteil der Arbeit darstellen; leiten wird mich aber auch das "alte Verstehensprinzip, eine Theorie nicht an ihren Schwachstellen zu zerpflücken, sondern sich gerade auf ihre Vorzüge und ihre Leistungsfähigkeit zu konzentrieren (und dennoch die Fehler zu benennen)", das Reese-Schäfer (1992: 13) für Luhmann einfordert und das auch für Simmel einzuklagen ist - denn seinem vielseitigen Denken wurde und wird mit ähnlichen Vorurteilen[9] begegnet, wie sie heute gegenüber Luhmanns Soziologie oft anzutreffen sind.
2. Der gesellschaftstheoretische Ansatz Georg Simmels
2.1 Wechselwirkung
Als "Dialektik ohne Versöhnung" bezeichnet Landmann (1987: 16) die fundamentale Denkweise Georg Simmels, die nicht mit einer metaphysischen Einheit beginnt, "sondern er macht Ernst mit dem 'pluralistischen Universum'. Am Anfang steht das Einzelne, und höhere Ganzheiten kommen - Leibnizisch - erst zustande durch die Beziehungen des Einzelnen aufeinander" (ebd.: 16f.). Anders als "frühe Denkweisen", die von einem absoluten Schöpfungsgedanken ausgehen, so erklärt Simmel sein relativistisches Weltbild in der "Philosophie des Geldes",
"kann man es als eine Grundrichtung der modernen Wissenschaft bezeichnen, daß sie die Erscheinungen nicht mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen versteht, deren Träger gleichsam immer weiter und weiter ins Eigenschaftslose abrücken; daß sie die den Dingen anhängenden Qualitäten als quantitative, als relative Bestimmungen auszudrücken sucht; daß sie statt der absoluten Stabilität organischer, psychischer, ethischer, sozialer Formationen eine rastlose Entwicklung lehrt, in der jedes Element eine begrenzte, nur durch das Verhältnis zu seinem Vorher und Nachher festzulegende Stelle einnimmt; daß sie auf das an sich seiende Wesen der Dinge verzichtet und sich mit der Feststellung der Beziehungen begnügt, die sich zwischen den Dingen und unserem Geiste, von dem Standpunkte dieses aus gesehen, ergeben." (1900: 95).
Seinen erkenntnistheoretischen Relativismus formuliert Simmel soziologisch als Kategorie der Wechselwirkung, die Forschungsgegenstand der neuen Wissenschaft von der Gesellschaft sein soll: "Soll es nun eine Soziologie als besondere Wissenschaft geben, so muß demnach der Begriff der Gesellschaft als solcher ( ...)die gesellschaftlich-geschichtlichen Gegebenheiten einer neuen Abstraktion und Zusammenordnung unterwerfen" (Simmel 1908: 17).
Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt der Gesellschaft bestimmt er ihre Form so, daß sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten" (ebd.).
Inhalte sind den Individuen innewohnende Triebe, Zwecke, Interessen, Neigungen, psychische Zustände und Bewegungen, die "noch nicht sozialen Wesens" (ebd.: 18) sind: "vielmehr, sie bilden diese erst, indem sie das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung gehören" (ebd.: 19).
Der Begriff der Wechselwirkung soll zwar die "Beziehungen zwischen Personen" (1890: 133) umfassen, doch sind für Simmel weder die konkreten Individuen noch eine metaphysische Letzteinheit 'Gesellschaft' erkenntnistheoretischer Gegenstandsbereich der Soziologie, sondern sie kann nur "diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung untersuchen wollen" (1908: 19).
Indem Simmel die Gesellschaft in Beziehungen auflöst, scheinen Rollentheorie und Meadsche Intersubjektivität (vgl. Tenbruck 1958) und auch Handlungstheorie (vgl. Dahme/Rammstedt 1984) vorweggenommen und vorbereitet, aber Simmel scheint Abstrakteres zu meinen. Denn "die Grenze des eigentlichen sozialen Wesens" kristallisiert sich für ihn da heraus, "wo die Wechselwirkung der Personen untereinander nicht nur in einem subjektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Unabhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persönlichkeiten besitzt" (1890: 133). Überall da ist für ihn Gesellschaft, wo "die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet" (ebd.).
Der Begriff der Wechselwirkung scheint zunächst auf bloße Austauschbeziehungen von Akteuren hinzudeuten. Simmel hat mit ihm jedoch physikalische Erkenntnisse für die Soziologie zu nutzen versucht, um Gesellschaft als raumzeitlich strukturierte, dynamische Form zu bestimmen (vgl. Dahme 1981: 470).
Simmel selbst deutet dies an, wenn er erklärt, daß es auch für die physikalischen und chemische Analyse von Atomen darauf ankäme, ob diese als Einheit wirkten, und nicht, ob sie theoretisch noch weiter zerlegbar seien (vgl. 1890: 131). Trotz der Dynamik, die der Begriff der Wechselwirkung impliziert, kann er Simmel daher zur Analyse der Einheit 'Gesellschaft' dienen: "Denn Einheit im empirischen Sinn ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen." (1908: 18). So wie die Zustände wechselwirkender Moleküle in der Thermodynamik untersucht werden, soll auch die Soziologie Substanzen in Bewegungen auflösen und Qualitäten als relative Beziehungen quantifizieren. Wechselwirkung als Prozeß der Vergesellschaftung wird dann "die unmittelbarste Veranschaulichung der Relativität an dem Material der Menschheit" (Simmel 1900: 91), und die Gesellschaft verläuft nicht entweder an "bloßen Individuen oder in abstrakten Allgemeinheiten", sondern sie "ist das übersinguläre Gebilde, das doch nicht abstrakt ist" (ebd.). Gesellschaft ist damit für Simmel die Sphäre, die sich zwischen die "großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt" (1917a: 13), und die Motive der einzelnen Individuen schiebt - denn auch jene großen Systeme sind nur "Verfestigungen - zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen" (ebd.).
Die Gesellschaft wird dadurch einerseits zu einer funktionellen Einheit (vgl. Hübner-Funk 1982: 74ff.); sie ist kein feststehender, "sondern ein gradueller Begriff" (Simmel 1890: 131) für Verknüpfungen zwischen Personen. Andererseits wird sie zur ideellen Sphäre eines "tiefgründigen Zirkels", in dem sich "die Verhältnisse auf der Basis eines gegenseitigen Wissens voneinander und dieses Wissen auf der Basis der tatsächlichen Verhältnisse" (Simmel 1900: 385) entwickeln. Die Wechselwirkung erweist sich so als ein Punkt, "an dem das Sein und das Vorstellen ihre geheimnisvolle Einheit empirisch fühlbar machen" (ebd.).
Georg Simmel leitet seine explizit soziologischen Arbeiten (1890, 1908, 1917a) jeweils mit einem erkenntnistheoretischen Kapitel ein, in dessen Mittelpunkt der Begriff Wechselwirkung steht. Dabei oszilliert der Begriff zwischen einer theoretischrelativistischen, physikalischen Grundlegung der Soziologie und einer konkreten, alltagssoziologischen Ausrichtung: Vom gegenseitigen Anblicken, vom gemeinsamen Mittagessen bis zur Sympathie und Antipathie "liegen die Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen" (Simmel 1917a: 13)[10].
Er hat mit diesem Konzept versucht, eine spezifisch soziologische Sichtweise zu entwickeln und damit das Forschungsprogramm einer Disziplin vorzugeben, die zu seiner Zeit noch zu konstituieren war.
Eine konsistente Theorie der Gesellschaft hat Simmel jedoch nicht vorgelegt. Daran hinderte ihn zum einen gerade sein 'pluralistisches Universum': "Aus dem richtigen Satz, daß nur Formen, aber keine Form an sich existiere, hat er fälschlich gefolgert, daß es keine Theorie der Form geben kann" (Tenbruck 1958: 604).
Zum anderen dürfte dem auch Simmels Hinwendung zur Lebensphilosophie entgegengestanden haben, die seine Aufmerksamkeit von funktionalen Aspekten der Gesellschaft zum Idealismus und dem 'nicht-vergesellschafteten' individuellen Bewußtsein lenkte.
Simmels relativistisches Weltbild allein verbunden mit seinem sensiblen analytischen Potential haben jedoch dazu geführt, daß er nahezu alle Begriffe und Konzepte, die für die spätere Soziologie wichtig werden sollten, eingeführt oder zumindest berührt hat - darunter ein Konzept, das den Mittelpunkt einer Gesellschaftstheorie hätte bilden können: die soziale Differenzierung.
2.2 Soziale Differenzierung
Nach seinem Kapitel zur 'Wechselwirkung' beginnt Georg Simmel die inhaltliche Ausarbeitung des Themas 'soziale Differenzierung' (1890: 139-291) mit einem Abschnitt zur "Kollektivverantwortlichkeit", um an diesem Aspekt den Unterschied zwischen "roheren Epochen" mit deren "primitiver Gruppe" (139) und einem "höheren, ausgebildeteren und feineren Gebilde"(142) zu verdeutlichen: in jener 'primitiven Gruppe' verschmilzt das Individuum mit der Gesamtheit: "Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger er außerhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz findet, desto mehr muß er mit ihr verschmelzen"(140).
Unvollkommen ist in der kleinen Gruppe "die Differenzierung auch der individuellen Kräfte und Tätigkeiten" (144), und darüber hinaus nutzt auch das "subjektive Urteil" (145) Differenzierungsmöglichkeiten nicht, vielmehr sei bezeichnend für ein unausgebildetes Bewußtsein, daß dieses "ganz besonders von der Association durch äußere Gleichheit beherrscht wird" (147) - mit der Folge, daß eine Tat nicht dem einzelnen Individuum, sondern einer ganzen Gruppe oder Familie zugerechnet wird.
Das höhere Gebilde, der "Kulturstaat" (143) dagegen scheint "von einer ihm eigentümlichen, nur dem Ganzen als Ganzem geltenden Kraft dirigiert zu werden" (142). Das 'vielgliedrige', also differenzierte Ganze würde durch eine solche Fülle von Beziehungen gebildet, daß es selbst, aber auch jedes Element, unabhängiger und selbständiger werde. Je höher und differenzierter die "innerliche Verknüpftheit", desto mehr wird das Ganze "selbständiger den Teilen gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich dem Ganzen hinzugeben brauchen" (143). Das ist die erste ganz allgemeine "Norm" (ebd.), die Simmel für soziale Differenzierung feststellt: das Auseinandertreten individueller und sozialer Entwicklung.
Das geschieht durch die "Ausdehnung der Gruppe", und ihr folgt "die Ausbildung der Individualität", womit sich sein folgendes Kapitel befaßt.
Der Grad der Ausbildung von Individualität ist für Simmel gleichzusetzen mit der Erweiterung des Kreises sozialer Interessen (vgl. 169). Die Entwicklung jeder homogenen Gruppe sei von "steigender Differenzierung" (ebd.) gekennzeichnet; die Unterschiede zwischen den Individuen, so stellt Simmel in etwas naiver Anwendung des Darwinismus fest, "verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus"(ebd.).
Dieser Differenzierungsprozeß sei von der wachsenden Nötigung und Neigung der sozialen Gruppe gekennzeichnet, "über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu anderen Gruppen zu setzen" (170). Dies ist das zweite Prinzip, das Simmel für soziale Evolution feststellt: "die individualisierende Differenzierung" wird begleitet durch "die an die Ferne anknüpfende Ausbreitung" (171).
Stehen sich in "roheren Zeiten" gesamte Stämme fremd und feindlich gegenüber, so steigt bei wachsender Individualisierung "mit fortschreitender Kultur" (173) die Annäherung an bisher Fremde.
In diesem Kapitel wird sehr deutlich, daß Simmel soziale Differenzierung primär als Kultivierungs- und Individualisierungsprozeß auffaßt: löst doch die Ausbildung der Individualität den einzelnen aus provinzieller "Hingabe an eine engbegrenzte sociale Gruppe" und führt statt dessen zu "kosmopolitischer Gesinnung" (178; vgl. dazu auch Helle 1988: 49ff.), wofür er die italienische Renaissance als Beispiel anführt, deren Lebensformen "von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben" (178f.).
Ethisch gesehen bewirkt für Simmel die Individualisierung die Förderung des Gleichheitsideals der Menschheit, denn "je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloß als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muß die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt" (181).
Da auch umgekehrt eine (erzwungene) Vereinheitlichung sozialer Gruppen durch "gegenseitige Reibung der Elemente" (194) - Simmels physikalische Analogie wird hier deutlich - die Individualisierung fördere, kann Simmel sein zweites Evolutionsprinzip noch allgemeiner fassen: Er sieht ein "Reziprozitätsverhältnis zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung" (ebd.).
Eines der hervorragendsten Beispiele für das Eintreten dieses Prinzips in das wissenschaftliche Denken ist für Simmel "die Umwandlung der Artenlehre in die Descendenztheorie" (195). Diese "neuere Erkenntnis" - d.h. die darwinistische - liefere eine Verallgemeinerung durch den Gedanken der allgemeinen Einheit alles Lebenden und komme der "Differenzierung und Spezification" dadurch entgegen, daß jedes Individuum als besondere Stufe der Entwicklung aufgefaßt werde; im Ergebnis "faßt sie das Allgemeine allgemeiner und das Individuelle individueller, als die frühere Theorie es konnte. Und dies eben ist das Komplementärverhältnis, das sich auch in den realen socialen Entwicklungen geltend macht" (196).
Im Denken wirken also für Simmel dieselben Entwicklungsprinzipien wie im empirischen sozialen Leben.
Der Gedanke der Gleichheit führt Simmel auch im folgenden Kapitel, das sich mit dem "socialen Niveau" beschäftigt, unter anderen Vorzeichen zu einer dritten 'Formel' für soziale Entwicklung. Hatte er vorher festgestellt, daß die Wertschätzung und Ausbildung der Individualität die Idee der allgemeinen Gleichheit fördere - "gerade wenn jeder etwas Besonderes ist, ist er insoweit jedem anderen gleich" (183) - so bringt er jetzt "die aufsteigende Entwicklung" in die Formel, "daß der Umfang der socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit abnimmt zu gunsten des socialen Niveaus im Sinne des Kollektivbesitzes" (226f.).
Hier meint er mit Gleichheit die Homogenität der Gruppe und, bezogen auf das soziale Niveau, den gleich verteilten geistigen Besitz der einzelnen Personen oder Gruppen. Als Kollektivbesitz definiert er dagegen denjenigen, "der keinem Einzelnen als solchem eigen ist" (226). Die Vergrößerung dieses Kollektivbesitzes, d.h. die Zunahme sozialer Institutionen und Kenntnisse, die nicht mehr an konkrete Personen gebunden sind, kennzeichnet Simmel als funktionale Differenzierung des sozialen Niveaus: denn mit der Ausbildung des Kollektivbesitzes muß "seine Einheitlichkeit im strengeren Sinne leiden und sich in vielspältige Teile zerlegen, deren Einheit statt der substantiellen mehr und mehr eine bloß dynamische wird, d.h. sich nur noch in einem funktionellen Ineinandergreifen von inhaltlich sehr getrennten Bestandteilen zerlegt, welche nun auch entsprechend verschiedenartigen Individualitäten die Teilnahme an dem gemeinsamen öffentlichen Besitz ermöglichen" (227).
Simmels Betrachtungen zur sozialen Differenzierung erreichen im vorletzten Kapitel "Über die Kreuzung socialer Kreise" einen ersten Höhepunkt, indem er die bisher gewonnenen Prinzipien der sozialen Entwicklung zu einer Gesetzmäßigkeit zusammenfaßt. Wie sich für ihn das vorgeschrittene vom "roheren Denken" dadurch unterscheide, daß es aus den verschiedenartigsten Wirklichkeiten durch "höhere Begriffsbildung", die über das aktuell und zufällig Wahrnehmbare hinausgreift, Zusammenhänge herstellt, so stellt sich die soziale Entwicklung analog dar:
"Der einzelne sieht sich zunächst in einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat; und zwar bedeutet dies zunächst die Anfangszustände phylogenetischer wie ontogenetischer Entwicklung.
Der Fortgang derselben aber zielt nun auf associative Verhältnisse homogener Bestandteile aus heterogenen Kreisen" (237).
Hier geht Simmel auf Spencers Evolutionsgesetz zurück: Die Anfangszustände phylo- und ontogenetischer Entwicklung sind durch 'unzusammenhängende Homogenität' gekennzeichnet, die alles Verschiedene umfaßt, während die Weiterentwicklung aus unterschiedlichen Gruppen und Individuen eine 'zusammenhängende Heterogenität' konstituiert - einen neuen Zusammenschluß nach inhaltlichen Kriterien.
Dies ist für Simmel der Kulturfortschritt, der die äußere Zusammenfassung der einzelnen in nur eine Gruppe ersetzt durch verschiedene "Berührungskreise" (238), die ihren Zusammenhalt durch sachlich übereinstimmende Beziehungen erhalten, und: "die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur" (239).
Er gewinnt aus Spencers Evolutionstheorie einerseits die Erklärung für die Ausbildung von Individualität. Denn die verschiedenen Gruppen, denen ein Individuum angehört, sieht er als Koordinatensystem, aus dem jede neue Gruppe die Person genauer definiert, "so daß jedes Ding, platonisch zu reden, an so vielen Ideen teil hat, wie es vielerlei Qualitäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit erlangt. Gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber den Kreisen, denen sie angehört" (240). Andererseits erhält Spencers Prinzip bei Simmel eine kantianische Ergänzung: Die 'Association homogener Bestandteile aus heterogenen Kreisen' sei das durch beständige Wiederholung subjektiver Eindrücke synthetisierte Objektive, dessen erneute Synthese wiederum die Individualität hervorbringt:
"Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives - wie die Persönlichkeit sich an den socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert, um dann durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen" (241).
Simmels viertes Individuations-Prinzip der sozialen Entwicklung enthält in dieser idealistischen Fassung ein Motiv "des Außersichgeratens zum Zwecke der bereicherten Rückkehr" (Böhringer 1976: 113), dessen Uneinlösbarkeit in Simmels späterer Kulturphilosophie eine tragische Interpretation erfahren wird. In seiner Schrift von 1890 sieht Simmel in der Herstellung inhaltlich integrierter Kreise und Genossenschaften dagegen positiv einen Ausgleich "jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zustände hervorgeht" (245). Die Differenzierung unterschiedlicher sozialer Kreise, an denen teilzuhaben den Individuen freigestellt ist, löse vielmehr "die Aufgabe der Socialisierung in viel vollkommenerer Weise"(246) als die frühere Vereinigung, die die Individualität nicht kannte. Denn "Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäßiger, wenn die Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persönlichkeit in einen Kreis zu zwingen, vielmehr die Möglichkeit gewährt, daß das Homogene aus heterogenen Kreisen sich zusammenschließt" (247).
Ihre endgültige teleologische Abrundung erhält die soziale Differenzierung im letzten Kapitel der Abhandlung, und zwar durch das "Prinzip der Kraftersparnis".
In der Physik ist es schon lange bekannt: Durch Reibung entstehen Energieverluste, die bei dem Versuch, Energie in Arbeit umzusetzen, berücksichtigt werden müssen. Simmel betrachtet soziale Wechselwirkung auch als Prozeß, in dem Energie eingesetzt wird und bewertet sie als umso effizienter, je weniger Energie dabei verlorengeht, je mehr Kraft also gespart wird[11].
Sowohl "alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Organismen" sieht er "beherrscht von der Tendenz zur Kraftersparnis" (258) als auch die Kultur gehe dahin, alle Zwecke "auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen" (ebd.). Kraftersparnis ist für Simmel das Telos der Evolution, und Differenzierung ist das beste Mittel, um dieses Ziel durchzusetzen: "Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läßt sich nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Richtungen deuten" (259).
Die Kraftersparnis - "zunächst im Sinne der Reibungsminderung" (267) - ist das Prinzip, das das organische und kulturelle Geschehen zur aufsteigenden Entwicklung bringt; diesem "höchsten Ziele" (271) sei die Differenzierung unterzuordnen: Entelechie also. Aber durch die Funktionalisierung der gesellschaftlichen und individuellen Existenz auf dieses höchste Ziel hin scheint sich ein "fundamentaler Widerspruch" (283) zu ziehen: "Die Differenzierung der socialen Gruppe steht nämlich offenbar zu der des Individuums in direktem Gegensatz" (ebd.). Denn die Differenzierung der sozialen Gruppe fordere die Einseitigkeit des Individuums; "so bannt der Zwang der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein Leben lang in die einförmigste Arbeit" (284). Die soziale Differenzierung setzt Individualität frei, die jedoch nicht zu den "gesonderten" gesellschaftlichen Funktionsbereichen paßt:
"Dem gegenüber bedeutet die Differenzierung des Individuums gerade das Aufheben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens- und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in diesem Falle seine Rolle als Teil derselben. Die Mannichfaltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt, ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen" (284).
Die Evolution der Ontogenese produziert so statt schöpferischer Individualität typische "problematische Naturen" (286) der Moderne.
Bei fortschreitender Differenzierung wird "schließlich jeder Einzelne eine Reihe unerfüllbarer Forderungen in sich fühlen" (ebd.). Der "sociale Makrokosmos" droht, seinen "Mikrokosmos" (ebd.) aufzureiben. Es bleibt nur eine zweifelnde Hoffnung auf den zu künftigen Kulturfortschritt, dessen Aufgabe es sei, "die socialen wie die individuellen Aufgaben immer mehr so zu gestalten, daß der gleiche Grad von Differenzierung für beide erforderlich ist" (285).
In der Gegenwart "muß uns Simmel derweil symbolisch trösten" (Böhringer 1976: 114). Denn im Geld scheint bereits jene Balance und Gleichzeitigkeit der Differenzierungen in einem Symbol verwirklicht:
"In sich vollkommen einheitlichen Charakters, weil als bloßes Tauschmittel vollkommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannichfaltigkeit alles Handelns und Genießens aus, und, in der Form der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farbenreichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos erscheinende Weiß alle Farben des Spektrums in sich enthält; es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen.(...) Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander der Differenzierungen im Sinne der Potentialität" (Simmel 1890: 291f.).
Das Geld wird somit für Simmel nicht nur Medium für eine symbolische Vermittlung im Konflikt zwischen individueller und sozialer Differenzierung, sondern es ist vor allem das Signum der Gegenwart, es ist Ausdruck der Dynamik der Moderne und Wechselwirkung schlechthin - es ist "Weltformel" (Simmel 1900: 93) der geistigen und sozialen Kultur der Neuzeit.
2.3 Geld und Individualisierung
In welch engem Zusammenhang Simmels Geldtheorie mit seinem Konzept der sozialen Differenzierung steht, wird zu Beginn seines Aufsatzes "Das Geld in der modernen Kultur" (1896) deutlich, in dem er die soziale Differenzierung im Unterschied zwischen Mittelalter und Neuzeit charakterisiert, um dann die Moderne vom Geld her auf den Begriff zu bringen:
"Im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Korporation; seine Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder soziale Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstört. Sie hat einerseits die Persönlichkeit auf sich selbst gestellt und ihr eine unvergleichliche innere und äußere Bewegungsfreiheit gegeben; sie hat dafür andererseits den sachlichen Lebensinhalten eine ebenso unvergleichliche Objektivität verliehen (...). So hat die Neuzeit Subjekt und Objekt gegeneinander verselbständigt, damit jedes die ihm eigene Entwicklung reiner und voller fände. Wie beide Seiten dieses DifferenzierungsProzesses von der Geldwirtschaft getroffen werden, haben wir darzustellen" (Simmel 1896: 78).
Simmels erklärte Absicht ist es, mit seiner Analyse der Geldwirtschaft den historischen Materialismus zu überwinden[12], ihm "ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden" (1900: 13). Diese tieferliegenden Strömungen sind geprägt von einer kulturellen Entwicklung, "die auf jedem Gebiet und in jedem Sinn das Substanzielle in freischwebende Prozesse aufzulösen strebt" (ebd.: 199), deren Bestandteil und Symbol das Geld für ihn zugleich ist[13].
Die Entwicklung der Geldwirtschaft ist für Simmel Ausdruck des teleologischen Prozesses der Reibungsverminderung in der aufsteigenden Kultur. Durch das 'farblose' Tauschmittel werden die Dinge "abgeschliffen und geglättet" und in eine beschleunigte Zirkulation, "in seinen rastlosen Fluß hinabgezogen (...). Derselbe Übergang der Stabilität zur Labilität, der das gesamte moderne Weltbild charakterisiert, hat mit der Geldwirtschaft auch den ökonomischen Kosmos ergriffen, dessen Schicksale, wie sie einen Teil jener Bewegung bilden, zugleich ein Symbol und Spiegel der ganzen sind" (1896: 93). Die Moderne, die einerseits nach "Nivellierung" strebe, indem sie immer umfassendere soziale Kreise herstellt, andererseits hingeht auf die "Herausarbeitung des Individuellsten" (ebd.: 83), habe das Geld als Vermittlungsinstanz dieser entgegengesetzten 'Ströme der Kultur' geschaffen: "Beide Richtungen werden durch die Geldwirtschaft getragen, die einerseits ein ganz allgemeines, überall gleichmäßig wirksames Interesse, Verknüpfungs- und Verständigungsmittel, andererseits der Persönlichkeit die gesteigertste Reserviertheit, Individualisierung und Freiheit ermöglicht" (ebd.).
Das "ideale Bindemittel" (ebd.: 81) Geld stellt damit für Simmel eine Lösung für den Konflikt zwischen sozialer und individueller Differenzierung dar - zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet.
Die Geldwirtschaft habe einerseits die Loslösung der Person von dinglichem und lokalem Besitz ermöglicht, andererseits durch die Notwendigkeit, das Geld wieder in dingliche Werte umzusetzen, "eine äußerst starke Bindung zwischen den Mitgliedern desselben Wirtschaftskreises" (ebd.) geschaffen. Dieses sollten nach Simmels Auffassung diejenigen bedenken, die die "trennende und entfremdende Wirkung" (1896: 81) des Geldes beklagten. Als allen gemeinsames Wertmaß, durch seine "Unpersönlichkeit und Farblosigkeit" (ebd.: 80) rufe es gemeinsame Aktionen von solchen Individuen und Gruppen hervor, "die ihre Getrenntheit und Reserviertheit in allen sonstigen Punkten scharf betonen"(ebd.), denn es hat z.B. den Zweckverband entwickelt. Die Geldwirtschaft fördere darüber hinaus die Arbeitsteilung, weil nur die einseitige, objektive, von der Persönlichkeit gelöste Leistung mit dem "abstrakten Äquivalent" des Geldes entlohnt wird:
"so ist es schließlich das Geld, das unvergleichlich mehr Verknüpfungen zwischen den Menschen stiftet, als sie je in den von den Assoziations-Romantikern gerühmtesten Zeiten des Feudalverbandes oder der gewillkürten Einung bestanden" (ebd.: 82).
Aber die Erhöhung der Verknüpfungen ist rein quantitativer Natur. Das Geld, das "Vehikel jener Erweiterung der Wirtschaft, jenes Hineinbeziehens unbegrenzt vieler Kontrahenten durch das Hin und Her des Tausches" (1900: 474), wehrt sich eben "gegen gewisse kollektivistische Verfügungen, die sich innerhalb der Naturalwirtschaft von selbst ergeben" (ebd.). Zwischen "Mobilisierung des Besitzes und Individualisierung" (ebd.: 479) und "Naturalwirtschaft und Kollektivität" sieht Simmel jeweils eine historische Korrelation. Die Menschen "jener früheren Wirtschaftsepochen" (1896: 82f.) waren von wenigen Menschen abhängig, die bleibend und persönlich bestimmt waren. Die Abhängigkeit des modernen Menschen von einer Vielzahl von Dienstleistungen und Lieferanten ist demgegenüber größer. Der entscheidende Unterschied liegt für Simmel in den Möglichkeiten der wechselnden und unpersönlichen Beziehungen:
"wir sind von jedem bestimmten sehr viel unabhängiger. Gerade ein solches Verhältnis muß einen starken Individualismus erzeugen, denn nicht die Isolierung anderen gegenüber, sondern die Beziehung zu ihnen, aber ohne Rücksicht darauf, wer es gerade ist, ihre Anonymität, die Gleichgültigkeit gegen ihre Individualität - das ist es, was die Menschen gegeneinander entfremdet und jeden auf sich selbst zurückweist"(1896: 83).
Durch die in der Neuzeit wirkende soziale Differenzierung geschieht "eine reinliche Scheidung zwischen dem objektiven ökonomischen Tun des Menschen und seiner individuellen Färbung, seinem eigentlichen Ich, das jetzt ganz aus jenen Beziehungen zurücktritt und sich aus ihnen mehr als je gleichsam auf seine innersten Schichten zurückziehen kann"(ebd.).
Es gibt kein Zurück zum Kollektiv der Naturalwirtschaft, zur Verschmelzung zwischen Individuum und Gruppe der Sippen- oder Ständegesellschaft.
Das Geld ermöglicht es den Individuen, trotz der 'reinlichen Scheidung der individuellen Färbung' vom objektiven Bereich soziale Verknüpfungen herzustellen; der fundamentale Gegensatz in Schema einer Doppelstellung des Individuums aber ist unaufhebbar:
"Es stammt daher, daß das Individuum einerseits ein bloßes Element und Glied der sozialen Einheit ist, andrerseits aber doch selbst ein Ganzes, dessen Elemente eine relativ geschlossene Einheit bilden"(1900: 475).
Diese Feststellung bleibt die Schlüsselaussage für Simmels gesamtes soziologisches Werk. Sie legte es ihm nahe, nach den in den Individuen liegenden prinzipiellen Voraussetzungen der Gesellschaft zu fragen, danach, wie Gesellschaft überhaupt "als eine objektive Form subjektiver Seelen" (1908: 41) möglich ist.
2.4 Vergesellschaftete Subjekte
Simmels "Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?" in seiner 'Großen Soziologie' (1908: 42 - 61) kann als sein am meisten beachtetes Theorieteil angesehen werden (vgl. Dahme 1981: 446). Er legt damit seine wohl abstrakteste und dichteste sozialontologische Argumentation vor. Interessant ist der Exkurs vor allem durch seine Verbindung von erkenntnistheoretischen und empirisch-soziologischen Analysen. Dabei gerät ihm allerdings seine Theorie der sozialen Differenzierung gegenüber den Bewußtseinsvorgängen des Individuums aus dem Blick.
Nutzte er die soziale Differenzierung noch als Ausgangspunkt und Erklärung für die Entwicklung und Auswirkungen der Geldwirtschaft, so werden seine Betrachtungen hier geradezu unhistorisch und 'unevolutionistisch'. Denn jetzt geht es ihm um einen "Typus philosophischer Probleme, die (...) nach den Voraussetzungen der Gesellschaft selbst fragen - nicht in dem historischen Sinne, als sollte das Zustandekommen irgend einer einzelnen Gesellschaft oder die physikalischen und anthropologischen Bedingungen, auf Grund deren Gesellschaft entstehen kann, beschrieben werden"(1908: 41).
In Simmels Schrift zur sozialen Differenzierung waren dagegen gerade physikalische Bedingungen - Reibungsverminderung und Kraftersparnis - Ziel und Motor der Individuation gewesen. Sein Erkenntisinteresse kehrt sich nun um, und er fragt metaphysisch nach den a priori wirkenden Voraussetzungen des subjektiven "Bewußtseins, ein Gesellschaftswesen zu sein"(ebd.) - bei offenbar bereits vollendeter Individuation. Der Positivismus seiner frühen Schriften weicht nun einer Besinnung auf existentielle Kategorien, denn er fragt danach, "welche spezifische Kategorien der Mensch gleichsam mitbringen muß, damit dieses Bewußtsein entstehe, und welches deshalb die Formen sind, die das entstandene Bewußtsein - die Gesellschaft als eine Wissenstatsache - tragen muß" (47).
Simmel gewinnt seine Problemstellung auf der Grundlage von Kants philosophischer Ausgangsfrage: Wie ist Natur möglich? Kants Antwort auf diese Frage war die Leistung des subjektiven Bewußtseins, das durch Synthese der räumlichen Erscheinungen Objekte herstellt. Simmel folgert daraus: da die Gesellschaft selbst aus den zu dieser Leistung fähigen Subjekten bestehe, könne ihre Erkenntnis nicht nach demselben Prinzip des Objektivierens stattfinden. Das Zustandekommen der Gesellschaft bedürfe keines außerhalb ihrer stehenden Betrachters; dagegen liegt die Verbindung zwischen den 'Dingen' nach Kant nicht in ihnen selbst, sondern kann nur vom Subjekt vorgenommen werden. Für die Gesellschaft konstatiert Simmel daher: "Das Bewußtsein, mit den anderen eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit" (43).
Die Gesellschaft kann also nicht nach Kant durch 'Vorstellung' konstituiert werden. Sie existiert ausschließlich als bereits realisierte Synthese. Ein "beobachtender Dritter" könne zwar zwischen den Personen eine eigene, nur von ihm begründete Synthese vollziehen, "die Gesellschaft aber ist die objektive, des in ihr nicht mitbegriffenen Beschauers unbedürftige Einheit" (44).
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- Citation du texte
- Heike Obermanns (Auteur), 1993, Soziale Differenzierung und Individuation in den Gesellschaftstheorien Georg Simmels und Niklas Luhmanns, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78614
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