Um die Jahrhundertwende steht im Zentrum des Interesses der 'modernen Klassiker' wie Durkheim, Simmel und Weber eine spezifisch soziologische Entwicklungstheorie mit unterschiedlicher Akzentuierung - Arbeitsteilung / Individualisierung / Rationalisierung -, durch die die im Zuge der Auseinandersetzung mit Spencers und Darwins Evolutionstheorien bewusst gewordene Eigengesetzlichkeit und -funktionalität sozialer Entwicklung auf den Begriff gebracht wurde.
Dabei bestimmt nicht mehr der Fortschrittsglauben, sondern Differenzierung als Strukturmerkmal und Resultat sozialer Entwicklung die Sicht der Geschichte und Gegenwart.
Die besondere Leistung Georg Simmels besteht darin, dass er die moderne Individualität gesellschaftstheoretisch herleitet und damit wohl der einzige 'Gründungsvater' der modernen Soziologie ist, bei dem das Individualitätsproblem in zunehmend komplexer werdender Gesellschaft in Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht.
Die relativistische Sichtweise teilt Luhmann mit Simmel, und noch radikaler stehen die Begriffe 'Differenz' und 'Differenzierung' in mehrfacher Hinsicht im Zentrum des Luhmannschen Theorieunternehmens. Für ihn hängt das Komplexitätsniveau, das eine Gesellschaft erreichen kann, ab von der Form seiner Differenzierung. Die Arbeit zeichnet weiterhin nach, dass in Luhmanns historisch-semantischer Analyse der Individuation schnittpunktartig die wesentlichen Stränge seiner Theorie zusammen laufen. Systemtheoretisch fasst er Individuen nicht als Teile der Gesellschaft auf, sondern verortet sie in der Umwelt des sozialen Systems. Historisch-differenzierungstheoretisch versteht er die moderne Auffassung von Individualität als Korrelat evolutionärer gesellschaftsstruktureller Veränderungen und bewertet daher philosophisch-individualistische Selbststeigerungs- und Selbstbestimmungsthesen als Begleitsemantik des ohnehin stattfindenden gesellschaftlichen Wandels.
Die Schriften Georg Simmels bilden einen geeigneten 'Abstützungspunkt' außerhalb des spezifisch Luhmannschen Theorie- und Begriffssystems. Von ihnen ausgehend ist zu beurteilen, wie weit einerseits die Erkenntniskapazität der in der Sprache von 'Individuum und Gesellschaft' geschriebenen Soziologie Simmels reicht und in welchem Umfang andererseits durch Luhmanns weitreichende Abstraktionen traditionelles Theoriegut der Soziologie übernommen, reformuliert oder aufgegeben werden muss und was dabei eventuell verloren geht.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der gesellschaftstheoretische Ansatz Georg Simmels
- Wechselwirkung
- Soziale Differenzierung
- Geld und Individualisierung
- Vergesellschaftete Subjekte
- Die Tragödie der Kultur
- Qualitativer und quantitativer Individualismus
- Zur Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns
- Systemdifferenzierung
- Differenzierungsformen
- Evolution und Transformation
- Individuation
- Inklusion und Exklusion
- Die Überleitungssemantik
- Vollendete Exklusion: Das Subjekt und sein Reflexionszirkel
- Die Gegenwart: Karriere und Anspruchsindividualismus
- Simmel und Luhmann - wie wird Gesellschaftstheorie möglich?
- Luhmanns Exkurs über Simmels Exkurs
- Die Differenzierungskonzepte
- Individualisierung und Individuation
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem Konzept der sozialen Differenzierung und der Individualisierung in den Gesellschaftstheorien von Georg Simmel und Niklas Luhmann. Ziel ist es, die jeweiligen Ansätze beider Autoren darzustellen und die Parallelen und Unterschiede in ihrer Analyse der modernen Gesellschaft herauszuarbeiten.
- Soziale Differenzierung und ihre Folgen für das Individuum
- Die Rolle des Geldes und der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft
- Die Entwicklung des Individualismus in der Moderne
- Systemtheorie und die Differenzierung von Gesellschaftssystemen
- Inklusion und Exklusion in der modernen Gesellschaft
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung
Diese Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und präsentiert die zentralen Theorien von Herbert Spencer und deren Einfluss auf die moderne Soziologie. Sie stellt die Bedeutung der sozialen Differenzierung als Kernstück der soziologischen Entwicklungstheorie dar und erläutert die Herausforderungen, die die Moderne für die traditionelle Dichotomie von Individuum und Gesellschaft mit sich bringt. - Kapitel 2: Der gesellschaftstheoretische Ansatz Georg Simmels
Dieses Kapitel widmet sich Simmels Gesellschaftstheorie und untersucht seine Konzepte von Wechselwirkung, sozialer Differenzierung und Individualisierung. Es beleuchtet Simmels Theorie der "Tragödie der Kultur" und analysiert seine Ausführungen zu qualitativem und quantitativem Individualismus. - Kapitel 3: Zur Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns
Dieses Kapitel präsentiert die zentralen Elemente der Systemtheorie Niklas Luhmanns, insbesondere die Konzepte der Systemdifferenzierung und der Evolution von Gesellschaftssystemen. Es analysiert Luhmanns Theorie der Individuation, die Inklusion und Exklusion als zentrale Elemente der modernen Gesellschaft betrachtet. - Kapitel 4: Simmel und Luhmann - wie wird Gesellschaftstheorie möglich?
Dieses Kapitel vergleicht die Ansätze von Simmel und Luhmann und untersucht ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Analyse der modernen Gesellschaft. Es betrachtet die Bedeutung der Differenzierungskonzepte und die Frage nach der Rolle der Individualisierung und Individuation in der Gesellschaft.
Schlüsselwörter
Diese Arbeit beschäftigt sich mit zentralen Begriffen der Soziologie wie soziale Differenzierung, Individualisierung, Systemtheorie, Inklusion, Exklusion, Wechselwirkung, Geld, Kultur und Individuum. Sie analysiert die Werke von Georg Simmel und Niklas Luhmann und stellt deren Beiträge zur modernen Gesellschaftstheorie dar.
- Quote paper
- Heike Obermanns (Author), 1993, Soziale Differenzierung und Individuation in den Gesellschaftstheorien Georg Simmels und Niklas Luhmanns, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78614