Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sich mit den Aspekten Zeit und Raum im Roman Fuir von Jean-Philipp Toussaint auseinanderzusetzen.
Die Analyse des Protagonisten bzw. seiner körperlichen und geistigen Wahrnehmung von Zeit und Raum sollen dabei im Mittelpunkt stehen. Die subjektive Perzeption der Welt, in der er sich bewegt, seiner Mitmenschen und der verschiedenen Kulturen (China, Frankreich, Elba) fließen dabei ebenso mit ein wie die Analyse des schwindenen Gefühls der Liebe zu einer Frau und der Umgang mit neuartiger Technologie – dem Handy -, beides Phänomene mit Schlüsselfunktion welche die Wahrnehmung von Zeit und Raum verändern können. Vorrausgehend stehen einige kurze Anmerkungen zum besseren Gesamtverständnis über den Autor selbst. Abschließend soll der Versuch unternommen werden, einen verallgemeinernden Schluss aus Toussaints tief psychologischem und philosophischem Werk zu ziehen und den Realitätsbezug sowie das Identifikationspotential des Lesers herauszuarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG
1. Das Thema dieser Arbeit
2. Jean-Philipp Toussaint – un auteur contemporain
II. HAUPTTEIL
1. Les lieux: Szenerie und Rahmen der Handlung
2. Fuir – Flucht durch Zeit und Raum?
III. Distanz und Nähe auf körperlicher und geistiger Ebene
1 Wahrnehmung der Welt aus Sicht des Protagonisten
2 Verhältnis des Protagonisten zu Li Qi und Marie
3 Le mouvement: Bedeutung der Bewegung in der heutigen Welt
4 Le portable: Brücke über Zeit und Raum
IV. ABSCHLUSSBETRACHTUNG
V. LITERATURVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG
1. Das Thema dieser Arbeit
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sich mit den Aspekten Zeit und Raum im Roman Fuir von Jean-Philipp Toussaint auseinanderzusetzen.
Die Analyse des Protagonisten bzw. seiner körperlichen und geistigen Wahrnehmung von Zeit und Raum sollen dabei im Mittelpunkt stehen. Die subjektive Perzeption der Welt, in der er sich bewegt, seiner Mitmenschen und der verschiedenen Kulturen (China, Frankreich, Elba) fließen dabei ebenso mit ein wie die Analyse des schwindenen Gefühls der Liebe zu einer Frau und der Umgang mit neuartiger Technologie – dem Handy -, beides Phänomene mit Schlüsselfunktion welche die Wahrnehmung von Zeit und Raum verändern können. Vorrausgehend stehen einige kurze Anmerkungen zum besseren Gesamtverständnis über den Autor selbst. Abschließend soll der Versuch unternommen werden, einen verallgemeinernden Schluss aus Toussaints tief psychologischem und philosophischem Werk zu ziehen und den Realitätsbezug sowie das Identifikationspotential des Lesers herauszuarbeiten.
2. Jean-Philipp Toussaint – un auteur contemporain
Der am 29.11.1957 geborene Jean-Philippe Toussaint bezeichnet sich selbst als auteur contemporain, als zeitgenössischen Autor. Als Sohn eines Journalisten und einer Buchhändlerin kam er schon früh mit der Literatur in Kontakt, studierte jedoch zunächst bis 1978 Politik und Neuere Geschichte in Paris. Sein erster Roman La salle de bain (1985) wurde zunächst von sechs Verlagen abgelehnt – und schließlich doch (und durch Zufall) vom Verleger Jérôme Lindon der Éditions de Minuit publiziert. Toussaint selbst schrieb den Verlag nicht an, da er ihn als franchement trop intellectuelle[1] empfand. In den folgenden Jahren erschienen seine Romane Monsieur (1986), L’appareil-photo (1989), La Réticence (1991) und nach einer längeren Pause dann La télévision (1997), Autoportrait à l’étranger (2000) und Faire l’amour (2002). Toussaint ist dem Verlag Minuit bis heute treu geblieben, auch Fuir (2005) wurde von ihm publiziert. Für diesen Roman gewann er 2006 den Prix Médici, einen der wichtigsten Literaturpreise Frankreichs. Nach nunmehr 20-jähriger Erfahrung als Romanautor – sowie zudem Filmregisseur und Fotokünstler – ist Toussaint ein veränderter, weiterentwickelter Stil in Fuir nicht abzusprechen. Dennoch sind viele Faktoren all seinen Romanen gemein und ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Werk: die Ich-perspektive, die Verknüpfung autobiografischer Züge sowohl mit aktuellen als auch mit zeitlosen Themen (neue Medien, Zwänge durch die Gesellschaft, zwischenmenschliche Beziehungen, die Liebe) und vor allem der minimalisme. Dieser Stil scheint auch der Grund für den riesigen Erfolg seiner Romane in Asien zu sein: Toussaint ist einer der meistgelesenen Autoren in Japan und auch in China sehr beliebt. In Fuir spielen Licht und Farbe eine wichtige Rolle, man merkt, dass Toussaint sich mit visuellen Medien auseinandergesetzt hat. Bewusst setzt er diese Mittel ein um vor dem inneren Auge des Lesers ein Bild zu kreieren. Seine sehr guten Ortskenntnisse von Shanghai, Peking und Elba (Bevor er den Roman schrieb reiste er selbst für einige Wochen nach China) spiegeln sich im Roman wieder, seine Beschreibungen bestechen durch Präzision. Er selbst bezeichnet seine Stil als visuell – und unter gar keinen Umständen als cinématographique.[2]
Toussaints Ziel ist es, für ein junges Publikum zu schreiben, von jungen Menschen gelesen und verstanden zu werden[3], die Probleme und die Realität seiner Zeit zu verarbeiten ohne dabei mit dem Film konkurrieren zu wollen – das ist für ihn contemporain.
II. HAUPTTEIL
1. Les lieux: Szenerie und Rahmen der Handlung
a) China – le monde qui bouge
Die ersten beiden Teile des Romans spielen in China. Der Protagonist taucht ein in eine Welt, die ihm fremd ist, er reist in ein Land, dessen Kultur und Gebräuche ihm ebenso fremd sind wie die Sprache. Sowohl Shanghai (Schauplatz des 1. Teils des Roman) als auch Peking (2.Teil) sind Millionenstädte: in Shanghai leben 18,1 Millionen Menschen, in Peking (dem politischen und kulturellen Zentrum Chinas) circa 15 Millionen. Shanghai ist geprägt von einem subtropischen Monsumklima, die Luftfeuchtigkeit im Sommer beträgt bis zu 100%. 1996 ist Shanghai zu einer der am stärksten umweltgeschädigten Stadt erklärt worden. Innerhalb der letzten 50 Jahre hat sich die Bevölkerung fast verdoppelt. Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch und Prostitution weisen ein starkes Wachstum auf.[4]
Diese Zusatzinformationen erklären die unruhige und teilweise gar bedrohliche Atmosphäre, die in Toussaints Roman vermittelt wird: China ist anders als Europa.
[...]je ressentais une inquiétude diffuse, encore renforcée par la fatigue du voyage et la tension d’arriver dans une ville inconnue.[...]Nous ne disions rien, il ne parlait pas français et très mal anglais[5]
Alles was fremd ist, nimmt der Mensch oft zunächst als unangenehm oder gar bedrohlich wahr: Klima, Sprache, Kultur, Umgebung. Eine große Rolle spielen Licht und Farben in der Wahrnehmung des Protagonisten. Zum Großteil erlebt er Shanghai und Peking bei Nacht, zum Beispiel während eines nächtlichen Spaziergangs durch Shanghai oder einer Motorradfahrt durch das nächtliche Peking. Die Nacht, das Licht und die Hitze – dominierende Faktoren der minutiösen Beschreibung der Atmosphäre von Chinas Millionenstädten.
Je marchais dans la nuit tiède, perdu dans mes pensées, remontais Nanjing Road, indifférent au bruit et l’animation des boutiques illuminées des néons chamarrés.[...]aux toits illuminés qui éclairaient la nuit d’un halo de lumière verte dont les pâleurs d’émeraude se reflétaient en tremblant dans les eaux de Huangpu.[6]
Die Beschreibungen sind sehr visuell, man könnte fast sagen filmisch. Die Atmosphäre einer Großstadt, in der es nie dunkel und vollkommen ruhig wird, wird für den Leser spürbar. Dennoch ist die Beschreibung geprägt von einer subjektiven Melancholie, die sich im Innersten des Protagonisten manifestiert und die er auf seine Umgebung projiziert.
Desweiteren spielen die unglaublichen Menschenmassen eine Rolle – der Protagonist erlebt die Energie dieser Massen als er am Bahnhof von Shanghai auf Li Qi wartet, mit der er nach Peking reisen möchte. Er fühlt sich völlig deplaziert und unwohl an diesem Ort, vermutlich weil er anders aussieht und sich anders verhält als alle anderen: [...] je me sentais l’objets de chuchotement furtifs et de regards en coin.[7] Tausende von Menschen strömen an ihm vorbei, jeder in seinen eigenen Gedanken und mit einem eigenen Weg vor und hinter sich.
Besonders bei der Ankunft in Peking, nach der Zugfahrt von Shanghai nach Peking, einer Distanz von mehr als 1400 km, wird die Atmosphäre der Millionenstadt beschrieben – die Hitze, der Dreck und der Verkehr, verursacht durch zu viele Menschen auf wenig Fläche.
[...]tandis que l’air chaud, lourd, âcre, brûlant, chargé de sable et de poussière irrespirable, tremblait devant nos yeux dans un bruit de foreuses et de marteaux-piqueurs qui faisaient vibrer ce matin caniculaire.[8]
Insbesondere durch die Aufzählung von Adjektiven schafft Toussaint es, ein Bild zu kreieren, das sogleich vor dem inneren Auge des Lesers entsteht. Die brütende, unerträgliche Hitze, die schwere staubige Luft – durch die präzise Beschreibung fühlt man sich in die Lage des Protagonisten verstetzt. Auch im 2.Teil des Romans arbeitet Toussaint viel mit Farben und Licht, etwa in der Beschreibung des Einsetzens der Dämmerung in Peking während er mit Zhang Xianghzi die Stadt mit dem Motorrad durchquert.
[...]filant vers un ciel ensanglanté à l’Horizon, où le rose devenait rouge et le gris devenait noir, croisant alors les premières phares des voitures dans la pénombre de cette autoroute où les véhicules semblaient s’estomper entre chien et loup, dans ce qui n‘était pas encore la nuit, mais les derniers feus exténués de la journée.[9]
Toussaint spielt mit Licht und Farbe, er gibt der Stadt – bzw. so wie der Protagonist sie wahrnimmt – ein Gesicht und ein Gefühl. Pekings unmögliches Verkehrsnetz, durch das Zhang und der Protagonist sich mit dem Motorrad kämpfen (Pekings Stadt entwickelte sich in Form von Ringen – was atemberaubende Probleme im Straßenverkehr und häufige Staus mit sich bringt) wird in Toussaints Beschreibungen plastisch vorstellbar.
[...]ses multiples ceintures de périphériques circulaires, son vaste réseau autoroutier labyrintique[...][10]
Insgesamt sind die ersten beiden Teile des Romans geprägt von einer negativen Stimmung. Furcht, die Nacht und Unsicherheit sind vorherrschend. Die fremden Großstädte Peking und Shanghai hinterlassen den Eindruck einer sich - zu schnell? - entwickelnden Welt, in der die Menschen unablässig in Bewegung sind und die Lichter nie ausgehen. Der Protagonist erscheint wie hineingeworfen in diese ihm fremde Welt, hilflos, bewegungslos im Innersten und trotzdem ohne Unterlass körperlich und mental in Bewegung. In einem Interview mit Sylvain Bourmeau beantwortet Toussaint die Frage Pourquoi avoir situé l’essentiel de vos derniers livres en Asie, au Japon, et puis en Chine? folgendermaßen:
[...]la Chine représente le monde qui est en train de se transformer, le monde qui bouge, qui évolue. Pour moi la Chine, c’est le contemporain. Et quand j’écris, il s’agit toujours pour moi de parler de mon époque, du présent. La Chine m’est ainsi apparue comme une urgence.[11]
Sowohl in China als auch in Japan haben Toussaints Romane großen Erfolg. Danach zu urteilen, hat er mit seinen Beschreibungen genau das festgehalten, was zeitgenössische Literatur ausmacht: mag sie noch so subjektiv sein - die Realität.
b) Elba – eine italienische Insel aus einer anderen Zeit
Elba, insbesondere Portoferraio mit noch nicht einmal 12.000 Einwohnern, steht im absoluten Gegensatz zu China und den modernen Millionenstädten Shanghai und Peking. Die geschichtsträchtige Hauptstadt der italienischen Insel spielt auch in der französischen Geschichte eine tragende Rolle: Napoleon Bonaparte wurde vom 4.Mai 1814 bis zum 26. Februar 1815 auf die Insel verbannt. Somit ist es sicherlich kein Zufall, dass Toussaint gerade diesen Ort als Schauplatz ausgewählt hat. Sowohl landschaftlich als auch kulturell ist Elba völlig komplementär zu China, was sich in den Beschreibungen Toussaints sowie insgesamt in der Atmosphäre des 3.Teils des Romans niederschlägt. In einem Reiseführer wird sie folgendermaßen beschrieben:
Ich betrat die Stadt mit dem Gefühl in eine historische Idylle einzutreten. Die großen und ernsten Linien des schönen Golfs haben etwas Feierliches von majestätischer Ruhe, die Stadt auf der Halbinsel, so graziös, so lieblich und so klein, hat alles von ländlicher Einsamkeit und weltabgeschiedenem Wohlbehagen .[12]
Dieses Zitat stammt von dem Reiseschriftsteller Ferdinand Gregorovius aus dem Jahre 1852 – und obwohl dieser Eindruck schon mehr als 150 Jahre zurück liegt, scheint es eben dieses Bild zu sein, das in Fuir vermittelt wird. Dennoch kann nicht unbedingt von einem Gefühl des Wohlbehagens beim Protagonisten die Rede sein – er trägt einen inneren Konflikt aus, der seine Beziehung mit Marie betrifft. Doch darauf möchte ich in Kapitel 3.2.2 noch näher eingehen.
Auffällig farbenfroh sind vor allem die Beschreibungen der Landschaft und der Natur Elbas. Der Protagonist verbindet viele Erinnerungen an diesen Ort, auch an Maries Vater, zu dem er eine enge Beziehung gehabt haben muss und dessen Beweggründe sich auf Elba zurückzuziehen er genau kennt. Die Ruhe und Abgeschiedenheit, ein Umstand, der beispielsweise in Peking unmöglich wäre, wurde von ihm bewusst gesucht um möglichst wenig Kontakt zu anderen Menschen zu haben.
Il vivait seul, retiré, avec ses chevaux, le jardin, un peu de pêche sous-marine, des promenades solitaires[...]cultivant sans ostentation une misanthropie tempérée, ayant fini par se convaincre que, moins on a des relations avec les hommes, meilleures elles sont.[13]
Das Haus von Maries Vater, Gerüche, Farben und die Schönheit der Natur werden ausschweifend beschrieben, es entsteht das Gefühl der Entrückung aus Zeit und Raum. In Erinnerungen schweifend erinnert der Protagonist sich plötzlich wieder seiner Liebe zu Marie.
[...]penchée sur les pots en terre cuite de plantes aromathiques, le thym, la sauge et le romarin, agenouillée dans la terre fraîche et meuble contre le muret de pierres et rattachant pensivement un petit bout de ficelle élimée,[...]et j’eus alors une brusque bouffée de tendresse à l’égard de Marie, non pas simplement de compassion , mais simplement d’amour.[14]
Er verbindet den Ort mit Erinnerungen an seine gemeinsame Vergangenheit mit Marie. Die Reise nach Portoferraio ist wie eine Reise in die Vergangenheit, in eine andere Zeit. Als ihm das bewusst wird, dass die Sitaution nun eine andere ist, beschließt er im Hotel zu übernachten und Marie von dort aus anzurufen. Anders als in den ersten beiden Teilen des Romans, ist Marie auf Elba tatsächlich körperlich präsent. Sie spielt die Hauptrolle in seinen Gedanken und Gefühlen, während in Teil I und II Li Qi ebenso präsent ist.
[...]
[1] http://www-fakkw.upb.de/mfs/toussaint-bio.htm
[2] http://www.fakkw.upb.de/mfs/Presse-FUIR-4.gif: On me dit souvent que mes romans sont très cinématographiques, mais il faut distinguer le cinématographique du visuel. Mes lires sont éminemment littéraires: les images qui surgissent sont faites des mots. Au cinéma on ne fait pas d’images avec des mots. (Interview mit Toussaint)
[3] http://www.fakkw.upb.de/mfs/Presse-FUIR-5.gif: C’est resté mon ambition[...]Il m’importe d’écrire pour les gens de mon temps.
[4] Vgl. BIANCO, Lucien: China: Ausführungen zum besseren Verständnis. Bergisch Gladbach 1999
[5] TOUSSAINT S. 12/13
[6] ebd. S. 19/20
[7] TOUSSAINT S.24
[8] ebd. S. 62
[9] ebd. S.93
[10] TOUSSAINT S.115
[11] http//www.fakkw.ubp.de/mfs/Presse-FUIR-3.gif
[12] STILLER S. 41
[13] TOUSSAINT S. 137
[14] ebd. S. 138
- Citation du texte
- Anne Grimmelmann (Auteur), 2007, Darstellung von Zeit und Raum im Roman "Fuir" von Jean-Philippe Toussaint, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78437
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