Diese Arbeit verfolgt einen vergleichsweise bescheidenen Anspruch: Das Ausfindigmachen der Hauptthesen, die Einsicht in die Argumentation und das Benennen der wesentlichen Schlußfolgerungen Freud und Girards, und das im Rahmen eines Vergleiches, den, so gebe ich zu, Girard selbst vornimmt. Der eine Teil widmet sich einzig und allein Freud. Ich hoffe selbständig - ohne Girards Zutun – nachweisen zu können, wo die Hauptschwierigkeit in Freuds Urvatermord liegt, in der Annahme einer Schuld, die bewußt sein soll, es aber eigentlich doch nicht ist. Dazu bediene ich mich eines Rückgriffes auf Freuds Bild vom Menschen, als Homo Ödipus. Schließlich handelt es sich bei der Schuld, glaubt man Freud, um eine archaische Erbschaft der vatermordenden Söhne. Der andere Teil behandelt Girards dekonstruierende Freud-Lektüre, die Girard zu abweichenden Erklärungen des Urmordes führt: Die Annahme einer Gründungsgewalt. Ähnlich wie bei Freud werde ich auch Girards Menschenbild, den Homo Mimeticus analysieren. Sowohl bei Freud und Girard spielen Menschenbilder eine grundlegende Rolle, da es sich um anthropologische Konstanten ihrer Theorien handelt. Das versöhnende Opfer als angenommener Ursprung der Gesellschaft und Religion soll als Girards Schlußfolgerung betrachtet werden. - Man solle Freud nicht psychoanalisieren, appelliert bzw. droht Girard. Selbstverständlich habe ich mich nicht daran gehalten. Von Psychoanalysieren kann auch gar nicht die Rede sein. Mich hat die Lektüre von Freuds Urvatermord und den schuldigen Söhnen verwundert, und ich habe mich oft gefragt, wer dieser komische Vater und diese reuigen Söhne überhaupt sind. Für das Verständnis von Freuds Urvatermord bietet sich eben auch eine biographische Erklärung an. Ich habe sie als eine Art ‚Zwischenspiel‘ in die Arbeit aufgenommen. Die Schlußbemerkungen gelten Girards Opfertheorie und ihrer beanspruchten Universalität.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
I.Freuds Ödipus in der Urhorde
1.1. Besichtigung eines Verbrechens: Der Urvatermord
1.2. Analysierte Psyche: Freuds Homo Ödipus, der kleine Hans und die Ambivalenz der Gefühle
1.3. Die Erbschaft des Ödipus und das schlechte Gewissen um die Schuld
II. Zwischenspiel: Tote im Gewissen - Zweifache Vater-Sohn-Konflikte
III. Mimetische Totemmahlzeit – Girards Freud-Lektüre
3.1. Freuds Vatermord dekonstruiert
3.2. Die unerschöpfliche Quelle der Gewalt – Girards Homo Mimeticus
3.3. Die Schuld aller und ein versöhnendes Opfer
Epilog: Die Deduktion eines Ereignisses - Hypothesen, Prämissen und eine Kritik
Literaturverzeichnis
Prolog
„ ...Über der Menschen weitverbreitete Stämme
herrschte vor Zeiten ein eisernes Schicksal mit stum-
mer Gewalt. Eine dunkle, schwere Binde lag um ihre
bange Seele - Unendlich war die Erde - der Götter
Aufenthalt, und ihre Heymath. Seit Ewigkeiten stand
ihr geheimnisvoller Bau. Ueber des Morgens rothen
Bergen, in des Meeres heiligem Schooß wohnte die
Sonne, das allzündende, lebendige Licht... .“
(Novalis, die Vorzeit träumend)[1]
Heute über den wahren Ursprung menschlichen Zusammenlebens nachzudenken, muß heißen die Gewalt denken. Aber Rousseaus paradiesischer Naturzustand? Gottes Garten Eden? Und ein mythisches Goldenes Zeitalter? An ihnen ist rein gar nichts wahr, außer daß sie vielleicht nicht wahr sind. Ihr humanistisch-utopischer Impetus mit eingeschlossen. Zweifellos ist seit jeher auch schon das Gegenteil gedacht worden, ein gewaltsamer Chaoszustand mit noch unberechenbareren Menschen, ich nenne hier nur Hobbes, als Rousseaus ideellen Gegenspieler. Was die beiden vermeintlichen Konkurrenten dennoch verbunden hat, war die Annahme eines Vertrages als Geburtsakt der Gesellschaft. Einmal um den anarchischen Urzustand zu beenden, ein anderes mal, um den paradiesischen, aber abhanden gekommenen Naturstand wieder einzuführen. Es hat keinen Gesellschaftsvertrag gegeben. Das alles glaubt zumindest Rene Girard in seinem Buch Das Heilige und die Gewalt.[2] Und er hat einen prominenten Vordenker, der so schief und schräg er auch oft gedacht hat, der als erster einen realen Mord als Ursprung behauptet hat. Der Vordenker, den Girard meint, ist Sigmud Freud. Letzterer hatte in Totem und Tabu[3] die kühne Idee, die Kulturgeschichte mit einem Verbrechen in einer Urhorde beginnen zu lassen: Dem Mord am Urvater durch seine Söhne. Genau betrachtet erweist sich Freuds Urvatermord als einfallsreiche Metamorphose des familiär behafteten Ödipuskomplexes des ausgehenden 19.Jahrhunderts in die prähistorische Urhorde, und als eine große Geschichte des Schuldbewußtseins, aus dem sich die sittliche Gesellschaft und die Religionen entwickelt haben sollen. Rene Girard hat Freuds Annahme eines realen Mordes als Ursprung aufgenommen und teilt auch sonst einige Annahmen mit ihm. Um den Eindruck übertriebener Nähe zu vermeiden, füge ich sofort hinzu, daß er sich auch deutlich von Freud unterscheidet, ja ich möchte behaupten, er zerliest und zerlegt Freuds Theorie, um an ihren vermeintlich wahren Kern zu gelangen, der zudem der wahre Kern der Gesellschaft sein soll: Die Gründungsgewalt und ein, diesen zerstörerischen Zustand beendendes, versöhnendes Opfer. Dieses versöhnende Opfer ist Girards Beginn der sittlichen Gesellschaft. Außerdem beansprucht Girard mit seiner Opfertheorie erstmals eine universell-anwendbare Theorie über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Problems des menschlichen Zusammenlebens vorzulegen, die keine Fragen mehr offen läßt. Das Problem ist die Gewalt. Für beide Autoren, Freud und Girard gilt, den Ursprung des menschlichen Zusammenlebens zu denken, heißt die Gewalt denken.
Diese Arbeit verfolgt einen vergleichsweise bescheidenen Anspruch: Das Ausfindigmachen der Hauptthesen, die Einsicht in die Argumentation und das Benennen der wesentlichen Schlußfolgerungen Freud und Girards, und das im Rahmen eines Vergleiches, den, so gebe ich zu, Girard selbst vornimmt. Der eine Teil widmet sich einzig und allein Freud. Ich hoffe selbständig - ohne Girards Zutun – nachweisen zu können, wo die Hauptschwierigkeit in Freuds Urvatermord liegt, in der Annahme einer Schuld, die bewußt sein soll, es aber eigentlich doch nicht ist. Dazu bediene ich mich eines Rückgriffes auf Freuds Bild vom Menschen, als Homo Ödipus. Schließlich handelt es sich bei der Schuld, glaubt man Freud, um eine archaische Erbschaft der vatermordenden Söhne. Der andere Teil behandelt Girards dekonstruierende Freud-Lektüre, die Girard zu abweichenden Erklärungen des Urmordes führt: Die Annahme einer Gründungsgewalt. Ähnlich wie bei Freud werde ich auch Girards Menschenbild, den Homo Mimeticus analysieren. Sowohl bei Freud und Girard spielen Menschenbilder eine grundlegende Rolle, da es sich um anthropologische Konstanten ihrer Theorien handelt. Das versöhnende Opfer als angenommener Ursprung der Gesellschaft und Religion soll als Girards Schlußfolgerung betrachtet werden. Man solle Freud nicht psychoanalisieren, appelliert bzw. droht Girard. Selbstverständlich habe ich mich nicht daran gehalten. Von Psychoanalysieren kann auch gar nicht die Rede sein. Mich hat die Lektüre von Freuds Urvatermord und den schuldigen Söhnen verwundert, und ich habe mich oft gefragt, wer dieser komische Vater und diese reuigen Söhne überhaupt sind. Für das Verständnis von Freuds Urvatermord bietet sich eben auch eine biographische Erklärung an. Ich habe sie als eine Art Zwischenspiel mit in die Arbeit aufgenommen. Die Schlußbemerkungen gelten Girards Opfertheorie und ihrer beanspruchten Universalität. Beinahe müßte die Frage heißen, darf man Girards Theorie kritisieren, sie lautet aber, kann man sie kritisieren.
I. Freuds Ödipus in der vatermordenden Urhorde
Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Tat und ein Toter:
„Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.”[4]
Mit erstaunlich unspektakulären Worten schildert Freud ein für ihn nicht unbedeutendes Ereignis. Was sich nämlich dort in grauer Vorzeit zutrug, ist, wenn man Freud glauben will, nicht nur eine Mordgeschichte, sondern die wahre Genesis des Menschen als sittlich-kulturelles Wesen, denn, so Freud einige Zeilen später, es sei „[die] verbrecherische Tat, mit der vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.”[5] Und einige Seiten später, es sei sogar „die große Begebenheit”, die „die Menschheit nicht zur Ruhe kommen läßt.”[6] - Es erscheint sinnvoll zu sein, sich diese bedeutungsschwangere Urmordzene einmal genauer anzusehen.
1.1. Besichtigung eines Verbrechens: Der Urvatermord
Freud Urhorde und ihr Patriarch. Betrachtet man zunächst die Situation in der die Tat geschehen kann und die Akteure, die sie vollbringen, so wird man festhalten können, daß Freud auf seinerzeit bekannte und anerkannte Vermutungen über den Ursprung der menschlichen Kulturentwicklung zurückgreift, um sie psychoanalytisch neu zu interpretieren. Von Charles Darwin übernimmt Freud die These, die Urmenschen würden in hordenartigen Gemeinschaften gelebt haben. Diese Urhorde wird von einem Patriarchen beherrscht, der zudem das sexuelle Vorrecht über die Frauen der Horde innehat.[7] Seinen männlichen Mitkonkurrenten ist das traurige Los sexueller Abstinenz beschert und ihre Eifersucht richtet sich gegen den Patriarchen. Dieser muß, um seine Machtposition zu behaupten und, um nicht selbst Opfer einer Rebellion zu werden, über geeignete Sanktionsmittel verfügen: Vielleicht gehört die Kastration oder zumindest ihre Androhung dazu, mit Sicherheit aber die Vertreibung der männlichen Konkurrenz. Die Verstoßenen rotteten sich schließlich selbst zu einer Horde zusammen und kehrten mit einem gemeinsamen Ziel zurück, den Patriarchen zu beseitigten. Zwar sei, so Freud „dieser Urzustand der Gesellschaft nirgends Gegenstand der Beobachtung geworden”[8], aber nicht unglaubwürdig. Außerdem, so appelliert er, sei „Enthaltung” geboten, was die „Unbestimmtheit, die zeitliche Verkürzung und inhaltliche Zurückdrängung der Angaben [über den Urzustand]” betrifft und es wäre „unbillig” und „unsinnig” „Exaktheit anzustreben” und „Sicherheiten zu fordern”.[9]
Ödipale Söhne: Vaterhaß, Vateridentifizierung und andere Gefühlsambivalenzen. Von den Tätern, den Söhnen, weiß Freud zu berichten, daß ihr Verhältnis zum Vater ein zutiefst ambivalentes gewesen ist: „Sie haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Weg stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch.”[10] Eine Ambivalenz, die Freud beim Umschiffen mancher Uruntiefen und aus der Gefahr vor dem verführerischen Gesang der bachofenschen Sirenen wieder in sicheres Fahrwasser zurückführt, denn bei Ambivalenz handelt es sich um den Ödipuskomplex. Das Wesentliche des Ödipuskomplexes, so Freud, sei einerseits, der Inzestwunsch des Sohnes. Die Mutter ist demnach das erste Objekt der infantilen Libido des Sohnes. Andererseits strebe der Sohn danach dem Vater in allen Stücken nachzueifern (Vateridentfizierung), um ihn schließlich zu beseitigen (Vaterhaß, wegen Inzestwunsch müsse der Vater als Rivale erscheinen) und seine, vor allem sexuelle Position einzunehmen. In der postmortalen Phase, nachdem der Vater beseitigt worden ist, treten, so meint Freud, bei den Tätern, wie schon in ihren Motiven, Gefühlsschwankungen auf, nun aber gegenüber ihrer Tat: Der Rivale, der Vater, ist nun tot, „der Haß befriedigt” und der Identifizierungshunger in Form des kannibalistischen Verzehrens des Getöteten gestillt. Das Verzehren des Toten bedeutet hier die Vorstellung einer materiellen Aneignung der väterlichen Stärke durch die Söhne.[11] Wie aber steht es mit der Befriedigung ihres Geschlechtstriebes, ihrer sexuellen Begierde, ja dem eigentlichen Motiv ihrer Tat? Kündigt sich gar ein goldenes Zeitalter sexueller Glückseligkeit an? Ganz und gar nicht, die Brüder würden nun selbst und gegeneinander in Konkurrenz treten, alle auf den sexuelle Machtbesitz des Vaters bedacht. Aber: Alle, das heißt hier, die Hölle, das sind die anderen. Denn der Nebenbuhler, daß ist der Andere. Oder mit Freud: „Das sexuelle Bedürfnis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie.”[12] Ihr großer Triumph, die Ermordung des Patriarchen, wird von einem Tohuwabohu, der Krieg aller gegen alle, verdunkelt. Alle streben an die Stelle des Vaters als sexuellen Eigentümer über die Frauen zu treten, und enden in einem Zustand des totalen Mißerfolgs, da keiner der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse auch nur näher gekommen ist, denn:
„Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts anderes übrig, als - vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle, das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichten, um derentwillen sie den Vater beseitigt hatten.”[13]
Mit ziemlicher Gewißheit erlegen sich die Söhne infolge ihrer Tat einige Regeln auf, die man als erste „Sittlichkeit der Menschen” bezeichnen kann: Das Inzestverbot und damit verbunden die Verpflichtung zu Exogamie, und die Heiligung des Lebens des Totemtiers. Zwar hat das Inzestverbot im Anschluß an den Urkriegszustand, eine „auch eine praktische Begründung”, wie Freud vermutet, nämlich den sozialen Frieden wiederherzustellen.[14] Als eigentlichen Grund für die Einführung aber benennt Freud, als würde er den Widerspruch zwischen „praktischer” und tiefenpsychologischer Begründung ahnen, das Schuldbewußtsein der Söhne: „So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein die beiden fundamentalen Tabus des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipuskomplexes [Inzest- und Vatermordwunsch] übereinstimmen mußten.”[15]
Schuldbewußtsein und die Auferstehung eines Toten. Wenn man apriori ein sittliches Bewußtsein voraussetzt, kann man ein Schuldbewußtsein folgern. Aber wollte Freud nicht gerade die Genese der Sittlichkeit aufzeigen und setzt er nicht etwas voraus, was er erst zu erklären beabsichtigt. Freud gibt hier, wie so oft, keine genauere Begründung. Irgendwie ist also ein Schuldbewußtsein bei den Söhnen entstanden, das entlastet werden wollte. Denn der tote Vater hat ein sagenhaftes Comeback, nur wo genau, in den Träumen, gar im Bewußtsein und „wurde nun stärker, als der Lebende war.”[16] Das Tabu, dem Totemtier nach dem Leben zu trachten, deutet Freud als „Vertrag” der reuigen Söhne mit ihrem Vater. Ein do-ut-des-Tauschgeschäft: Die Söhne verpflichten sich das Leben des Totemtiers, ergo des Vaters, zu schützen und zu ehren, und der scheintote Vater verspricht im Gegenzug den Clan vor Gefahren, seien es äußere oder gruppeninterne, zu beschützen. Wesentliches Motiv, so Freud, sei „das brennende Schuldgefühl zu beschwichtigen [und] eine Art Aussöhnung mit dem Vater zubewerkstelligen.”[17] Daher der nachträgliche Gehorsam in Form der beiden Tabus.
Bei der Sichtung der Urmordszene sind einige Schwierigkeiten aufgeworfen worden und Fragen entstanden. Sie betreffen besonders Freuds Übertragung des Ödipuskomplexes auf ein historisches, sogar prähistorisches Ereignis, das nirgends beobachtet worden ist, wie Freud ja einräumt. Weitere Fragen warf Freuds Annahme eines Schuldbewußtseins auf. Wie es entstanden ist, hat er nicht verraten. Ebenso wunderlich war die mysteriöse Wiederkehr des Vaters, ja seine generelle und außerordentliche Wichtigkeit für Freud. Es erscheint mir notwendig und sinnvoll, das prähistorische Urmordszenario vorläufig erst einmal zu verlassen. Ich werde immer darauf zurückkommen, wenn es mir möglich erscheint, aber explizit schlage ich einen Perspektivwechsel vor und wende mich einigen Kernthesen der Psychoanalyse zu. Zweifellos ist der Urmord dabei gedanklich stets präsent.
1.2. Analysierte Psyche: Freuds Homo Ödipus, der kleine Hans
und die Ambivalenz der Gefühle
Die Psychoanalyse hat es mit dem Mythischen, denn in den Mythen der Menschen offenbart sich die Conditio Humana; viel Leidenschaft, wenig Vernunft, überall tiefgreifende und tiefsitzende Konflikte. Ödipus, griechisch für „geschwollener Fuß”, der heimliche Schutzpatron der Psychoanalyse, oder vielmehr der Ödipus, den die Psychoanalyse für Ödipus, ihren Schutzpatron, gehalten hat, so wird erzählt, tötet seinen Vater Laios und heiratet seine Mutter Iokaste. Das konjunktionale ‘und’ bedeutet psychoanalytisch eigentlich ein konditionales ‘um’: Ödipus tötet seinen Vater, um seine Mutter zu heiraten. Allerdings scheint fragwürdig zu sein, ob der Ödipusmythos tatsächlich von Vatermord und Inzest handelt, mit denen er zu wirkmächtiger Berühmtheit in der bürgerlichen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts gelangt ist. Der Mythenforscher Ranke-Graves vermutet sogar, daß der Ödipusmythos eine mißverstandene Erzählung ist und argumentiert, daß die Ermordung des Laios eine rituelle Opferung des Königs gewesen sein muß, mit der die Vorstellung einer Erneuerung des Gottkönigtums verbunden war. Ödipus sei als Fremder nach Theben gekommen, aber „unter dem alten System war der neue König [Ödipus], obwohl ein Fremdling, ein Sohn des alten Königs, den er tötete und dessen Witwe er heiratete.”[18] Daraus folgert Ranke-Graves, daß dies eine Sitte gewesen sei, „welche die patriachalen Sieger als Vatermord und Inzucht mißverstanden haben”, und schließlich zu Freud: „Die Theorie Freuds, daß der „Ödipuskomplex” ein allen Menschen eigener Instinkt ist, gründet auf dieser mißverstandenen Erzählung.”[19]
Psychoanalytisch aber soll nach wie vor die Hypothese gelten: Ödipus ermordet den Vater, um seine Mutter zu heiraten. Warum und wie ist Freud darauf gekommen? Welche Erfahrungen stützen die Hypothese von Inzestwunsch und Vatermord, außer eine wahrscheinlich mißverstandene Erzählung? - Nun, vielleicht diese hier: Freud hat sich selbst analysiert. Das Wesentliche des Ödipuskomplexes hat er an sich selbst festgestellt, zu einer Zeit in der vieles zu Ende ging und seine Psychoanalyse ihren Anfang nimmt. Freuds Vater war kürzlich gestorben und er revidierte gerade seine Theorien. Über seine Selbstanalyse berichtet er am 15. Oktober 1897 seinem Freund Fließ:
„Meine Selbstanalyse ist in der Tat das Wesentlichste, was ich jetzt habe, und verspricht, von höchstem Wert für mich zu werden, wenn sie bis zu Ende geht. [...] Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ergebnis früher Kindheit [...] Wenn das so ist, versteht man die packende Macht des König Ödipus … .”[20]
Nun hat Freud sich nicht nur selbst, sondern auch andere Menschen analysiert: besonders neurotische Kinder und infantile Neurotiker, die aber schon erwachsen waren. In Totem und Tabu und Der Mann Moses taucht immer wieder eine Krankengeschichte auf, die Freud 1909 unter dem Titel Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben veröffentlicht hat. Es wird sich lohnen, einen genaueren Blick auf diesen Fall zu wagen, um das Wesentliche des Ödipuskomplexes zu erfahren und, um schließlich auch zu sehen, wie Freud sie einsetzt.
Es ist die Geschichte vom kleinen Hans. Hans leidet unter einer Tierphobie: Er hat Angst vor Pferden und ein starkes Interesse an seinem Penis, dem „Wiwimacher”. Er fürchtet von Pferden gebissen zu werden, genauso aber ein Pferd könne umfallen. Freud meint herausgefunden zu haben, daß Hans Phobie ursächlich mit einer Situation aus seiner frühen Kindheit zusammenhängt und seine Angst eigentlich dem Vater gilt. Das Pferd sei ein Projektionsobjekt, auf das Hans seine Gefühle gegenüber dem Vater geschoben hätte. Eines Tages hat die Mutter ihrem Sohn, in flagranti bei der Beschäftigung mit seinem Genital erwischt, die Kastration angedroht: „Wenn du das machst, lass’ ich den Doktor A. kommen, der schneidet dir den Wiwimacher ab!”[21] Das geschah als Hans dreieinhalb Jahre alt war. „Seine Angst vor Pferden,” so Freud „kann zwanglos vervollständigt werden, das Pferd werde ihm das Genital abbeißen.”[22] Nun folgert Freud allerdings nicht, daß der kleine Hans Opfer einer elterlichen Gewaltandrohung geworden ist, die sich folgenreich auf seine Psyche auswirkt. Vielmehr sei die Ursache für seine Phobie Hans’ eigene Wünsche:
„ … [E]s ergab sich, daß er gegen Wünsche ankämpfte, die das Wegsein (Abreisen, Sterben) des Vaters zum Inhalt hatten. Er empfand den Vater , wie er überdeutlich zu erkennen gab, als Konkurrenten in der Gunst der Mutter, auf welche seine keimenden Sexualwünsche in dunklen Ahnungen gerichtet waren. Es befand sich also in jener typischen Einstellung des männlichen Kindes zu den Eltern, welche wir „Ödipuskomplex” bezeichnen … .”[23]
[...]
[1] Novalis: aus: Hymnen an die Nacht. Novalis-HKA Bd. 1, S. 140.
[2] R. Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1992.
[3] S. Freud: Totem und Tabu. 1912/13. In: S. Freud: Studienausgabe. Frankfurt a. M. 1989. Bd. IX.
[4] S. Freud: Totem und Tabu.
[5] Ebd.
[6] Ebd. S.429
[7] Vgl. Ch. Darwin: Die Abstammung des Menschen. 1871. 2Bd. In: Ch. Darwin: Werke. Hrsg. Von V. Carus. Suttgart 1875. Bd. VI. Darwins Urhorde ist friedlicher, es geschieht kein Mord.
[8] S. Freud: Totem und Tabu. 1989. S. 425.
[9] Ebd. S. 426. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Hatte die Kulturanthropologie seit Darwins Abstammung des Menschen aus dem Jahr 1857 nicht einige neue Hypothesen über die Urgesellschaft geliefert? Z.B. Bachofens Mutterrecht (1861) Zwar folgt Bachofen der damals modernen Sichtweise eines kulturellen Evolutionismus, unterscheidet sich aber deutlich von Freuds Urhorden-Urmord-Hypothese. Genaugenommen spielt der Vater in der Urgesellschaft Bachofens ganz und gar keine herausragende Rolle, wie Freud sie annimmt. Schrankenloser Geschlechtsverkehr, unsichere Vaterschaft, aber sichere Mutterschaft. Die ersten Personen mit Achtung und Ansehen, müssen die Mütter gewesen, die folglich dieses soziale Urgefüge dominiert und beherrscht haben. - bis die Männer schließlich rebellierten, um hrerseits an die Macht zu kommen. Freuds Umgang mit wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit, wie etwa Bachofen, ist interessant, weil man leicht den Eindruck gewinnt, er würde sie gar nicht wahrnehmen wollen, besonders wenn sie sich nicht mit seinen Hypothese vereinbaren lassen, und, er würde sich phantasievoll wie phantastisch irgend etwas zusammenspekulieren. Dabei müssen ihn Bachofens Thesen gedanklich sehr beschäftigt haben. Garantiert nicht erst die Vertreibung der Söhne aus der Horde die Monopolstellung des Hordenchefs und stellt sicher, daß es sich tatsächlich um den Vater der Horde handelt? Wären die übrigen Männer bei angenommener Promiskurität nicht vom Geschlechtsverkehr - und um sicherzugehen, sogar - aus der Horde ausgeschlossen, Freud hätte nicht ohne Einwand von einer Vater-Sohn-Beziehung ausgehen können und seine geniale Übertragung des individualpsychologischen Ödipuskomplexes zum universellen Erklärungsmuster der menschlichen Kulturentwicklung wäre kaum geglückt. Da scheint es ratsamer und sicherer, wenn man sich der Erklärungen „enthält” (vgl. obiges Zitat).
[10] Ebd. S. 429.
[11] Vgl. ebd. S.427.
[12] Ebd. S. 427.
[13] Ebd. S. 428.
[14] Ebd. S. 428. Tabus haben demnach, wie hier das Inzestverbot zeigt, die Funktion eine Konfliktsituation zu befrieden und latent vorhandene Gewalt zu hemmen, so daß sie nicht zum Ausbruch kommt, oder falls geschehen, beendet werden kann. Eine Position, die Rene Girard ausgehend von Freud weiterentwickelt hat.
[15] Ebd. S. 428.
[16] Ebd. S. 428.
[17] Ebd. S 428.
[18] R. von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutungen. Reinbek b. Hamburg 1997. S 341.
[19] Ebd.
[20] Zit. J. Heise: Freud-ABC. Leipzig 2001. S. 108.
[21] Zit. ebd. S. 80.
[22] Zit. ebd. S. 82.
[23] S. Freud: Totem und Tabu. S. 414.
- Citation du texte
- Nils Ramthun (Auteur), 2002, Der Urmord bei Sigmund Freud und Rene Girard, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7815
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