Im ersten Hauptteil dieser Arbeit werden die Leistungen der sinnlichen Wahrnehmung (aísthêsis) nach Aristoteles beschrieben, wobei die Wahrnehmung der "eigentümlichen Bestimmtheiten" (ídia aisthêtá) im Mittelpunkt steht. Im zweiten Hauptteil widmet sich der Autor einigen Aspekten der Verstandeserkenntnis (noêsis). Im letzten Abschnitt wird die im zweiten Teil bereits in Angriff genommene Abgrenzung der Leistungen von Wahrnehmung und Denken fortgeführt. Dabei werden unterschiedliche Positionen erörtert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wahrnehmung (aísthêsis)
2.1 Die Wahrnehmung der „eigentümlichen Bestimmtheiten“ (Idia)
2.2 Potentialität (dýnamis) und Aktualität (enérgeia)
2.3 Materie und Form (Eidos)
2.4 Rezeptivität und Spontaneität
2.5 Die Wahrnehmung der Koina
2.6 Die akzidentelle Wahrnehmung
3. Denken (nóêsis)
3.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der
Wahrnehmung der Idia und der Erkenntnis des Nous
3.2 Der Aufstieg vom Einzelnen zum Allgemeinen (Induktion)
4. Wahrnehmung und Denken - Abgrenzung ihrer Erkenntnisleistungen
4.1 Ist die akzidentelle Wahrnehmung echte Wahrnehmung?
4.2 Gibt es eine Wahrnehmung der Wahrnehmung?
4.3 Ist die Wahrnehmung für die Gegenstandserkenntnis
ausreichend?
5. Schluß
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wer sich zum ersten Mal eingehender mit der Philosophie des Aristoteles beschäftigt, wird von der Fülle der Begriffe, die in den vielfältigen Darstellungen über die Lehren dieses Philosophen auftauchen, tief beeindruckt oder aber verwirrt sein. Zahllose griechische, lateinische und deutsche Begriffe, deren Bedeutung nicht immer streng festgelegt ist, sondern vom jeweiligen Zusammenhang abhängt, gilt es zu verstehen und säuberlich auseinander zu halten.
Wenn ich mich im folgenden mit einigen Kernthemen der aristotelischen Erkenntnistheorie auseinandersetzen werde, hoffe ich, die von Aristoteles selbst geprägte und in einer über zwei Jahrtausende andauernden Wirkungsgeschichte verfeinerte Begrifflichkeit so anwenden zu können, daß sie der Klarheit und Präzision meiner Ausführungen zugute kommt. Im ersten Hauptteil dieser Hausarbeit werde ich die Leistungen der sinnlichen Wahrnehmung (aísthêsis) nach Aristoteles beschreiben, wobei die Wahrnehmung der „eigentümlichen Bestimmtheiten“ ( ídia aisthêtá) im Mittelpunkt stehen wird. Im zweiten Hauptteil widme ich mich dann einigen Aspekten der Verstandeserkenntnis (noêsis). Im letzten Abschnitt dieser Arbeit schließlich möchte ich die im zweiten Teil bereits in Angriff genommene Abgrenzung der Leistungen von Wahrnehmung und Denken fortführen. Dabei werden unterschiedliche Positionen erörtert.
Obwohl der im Vorfeld des Seminars über die Erkenntnislehre des Aristoteles (Leitung: Prof. Dr. Hubertus Busche) zugesandte Reader mit seinen aussagekräftigen Übersichten und Texten und die von mir im Seminar angefertigte Mitschrift als Grundlage für die Bearbeitung dieses Themas in einer Hausarbeit mehr als ausreichend wären, habe ich weitere Untersuchungen über die Erkenntnislehre des Aristoteles herangezogen, wobei ich diejenigen Autoren bevorzugte, deren Interpretationen ich als besonders scharfsinnig einschätze, und die zudem klar und verständlich abgefaßt sind. Dazu gehören besonders W. Bernard, H. Seidl und A. Schmitt (s. Literaturverzeichnis).
2. Wahrnehmung (aísthêsis)
2.1 Die Wahrnehmung der „eigentümlichen Bestimmtheiten“ (Idia)
Gemäß dem in „De anima“ aufgestellten Prinzip, daß vor dem Erkenntnisvermögen die Erkenntnistätigkeiten, vor diesen jedoch die Erkenntnisobjekte zu untersuchen sind[1], beginne ich dieses Kapitel mit der Darstellung der spezifischen Gegenstände der Wahrnehmung. Jeder einzelne der fünf Sinne wird nämlich durch seinen ihm eigentümlichen Gegenstand definiert. Aristoteles schreibt dazu: „Unter dem an sich Wahrgenommenem (tôn kath’ hautà aisthêtôn) sind die eigentümlichen (aisthêtá) im eigentlichen Sinne (kyríos) wahrnehmbar, und (es ist) das, worauf sich das Wesen (usía) eines jeden Einzelsinnes seiner Natur nach richtet (pròs hà péfyken).“[2]
Der Gesichtssinn richtet sich zunächst nur auf die Farben, wobei er hell und dunkel unterscheidet. Das Idion des Gehörs ist der Schall, der in Form von hohen und tiefen Tönen auftreten kann. Die Wahrnehmung des Geschmacks- und Geruchssinns ist durch das Gegensatzpaar bitter und süß gekennzeichnet. Der Tastsinn nimmt heiß und kalt, feucht und trocken, hart und weich wahr. Dieser Sinn zeichnet sich nach Aristoteles dadurch aus, daß er viele gegensätzliche Qualitäten vermittelt[3]
2.2 Potentialität (dýnamis) und Aktualität (enérgeia)
Aristoteles unterscheidet je zwei Arten von Potentialität und Aktualität. Da jedoch die potentia secunda und der actus primus zusammenfallen, ergeben sich nur drei Stufen der Verwirklichung. Der Stagirit erläutert dies an einem Beispiel: Im Gegensatz zur Pflanze und zum Tier hat der Mensch von klein auf die Möglichkeit, Wissen zu erwerben. (Man bezeichnet die Verwirklichung dieser Möglichkeit als erste Entelechie.) Man kann ihn also als potentiell wissend bezeichnen. Ein Grammatiker dagegen, der sein Wissen gerade nicht anwendet, besitzt das Vermögen, sein Wissen jederzeit zu aktualisieren und so zur Vollendung (zweite Entelechie) zu gelangen.[4]
Die Anwendung dieser Begriffe auf die Wahrnehmung hat für die Erkenntnistheorie des Aristoteles zentrale Bedeutung, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird.
Bei der Geburt besitzen der Mensch wie auch die Tiere bereits das Wahrnehmungs vermögen, es hat sich während des Heranwachsens der Leibesfrucht aus der bloßen Möglichkeit entwickelt. Dieses Vermögen, das Aristoteles als Unterscheidungsvermögen begreift , ist jederzeit aktualisierbar. Wahrnehmen kann man von Geburt an, man muß nicht erst lernen, „warm“ oder „kalt“ zu fühlen. Dies gilt allerdings nur für die Wahrnehmung der „eigentümlichen Bestimmtheiten“ (ídia aísthêta).[5]
Nimmt man die „Objektseite“ der Wahrnehmung in den Blick, also das, worauf sich die Wahrnehmung richtet, das Wahrnehmbare, so läßt sich auch hier die Unterscheidung zwischen Potentialität und Aktualität mit Gewinn anwenden. Die enérgeia des Wahrnehmbaren ist das aktual Wahrnehmbare (= Wahrgenommene). So ist die enérgeia dessen, was klingen kann, der Klang.
Aus diesen Darlegungen ergibt sich nun eine erste vorläufige Bestimmung der Wahrnehmung: Lassen wir dazu Aristoteles selbst zu Wort kommen: „Da die Energeia des Wahrgenommenen und der Wahrnehmung eine einzige ist, sie dem Sein nach aber verschieden sind, müssen das so bezeichnete (sc. das aktuale Gehör) und der (so bezeichnete) Klang notwendig zugleich (háma) vergehen (phtheíresthai) und bestehen (sózesthai), und also der Geschmack (chymós) und das Schmecken (geúsis) und die anderen ebenso. Im Sinne von ‚potentiell‘ so bezeichnet müssen sie das aber nicht notwendig.“[6]
Aristoteles behauptet also, daß im Wahrnehmungsakt die enérgeia des Wahrgenommenen und die enérgeia der Wahrnehmung zusammenfallen. Es besteht zwischen beiden Identität. Auf das oben erwähnte Beispiel vom Klang angewandt, bedeutet dies: Aktuales Klingen und aktuales Hören sind ein einziger Vorgang und der Ort des aktualen Hörens wie des aktualen Klingens sind im Wahrnehmenden. Diese Thesen bedürfen allerdings noch der Präzisierung.
Doch zuvor ist noch die Frage zu beantworten, ob auch zwischen dem potentiell Wahrnehmbaren und der potentiellen Wahrnehmung eine Beziehung besteht und wie man diese gegebenenfalls beschreiben kann. Auf den letzten Satz der eben zitierten Stelle aus De anima Bezug nehmend meint dazu Bernard: „Freilich sind potentielle Wahrnehmung und potentiell Wahrnehmbares aufeinander bezogene Relativa. Denn wenn es ganz allgemein keine potentielle Wahrnehmung gäbe, dann könnte es auch nichts potentiell Wahrnehmbares geben. Wie sollte man schließlich irgend etwas als potentiell wahrnehmbar bezeichnen, wenn es von nichts und niemandem wahrgenommen werden könnte? Und umgekehrt könnte man auch nicht von potentieller Wahrnehmung sprechen, wenn es nichts potentiell Wahrnehmbares gäbe, das die potentielle Wahrnehmung zu irgendeinem späteren Zeitpunkt wahrnehmen könnte.“[7]
2.3 Materie und Form (Eidos)
Nach aristotelischer Lehre sind alle Dinge (Gegenstände oder Seiendes) aus Form (Eidos) und Materie zusammengesetzt, aus Struktur und Stoff. Dadurch wird ein Ding erst zu etwas Spezifischem oder Individuellem. Ein Zinnbecher z. B. besitzt die Form „geeignet, um daraus zu trinken“, während das Zinn seine Materie ausmacht.[8] In der Neuscholastik wird diese Auffassung auch als Hylemorphismus (hýlê = Stoff, Materie; morphê = Form, Gestalt) bezeichnet.
Auch die wahrnehmbaren Objekte sind Syntheta, da sie aus Materie (Stoff) und dem wahrnehmbaren Eidos zusammengesetzt sind. Dabei ist die Materie der Träger einer bestimmten wahrnehmbaren Beschaffenheit. Wenn dafür der Begriff „Eidos“ gebraucht wird, so ist darunter
nicht das „noetische“ Eidos zu verstehen, welches das Wesen einer Sache ausmacht, sondern das, was dem Einzelding eine bestimmte wahrnehmbare Qualität verleiht. Deshalb spricht Aristoteles im Zusammenhang mit der Wahrnehmung stets vom „wahrnehmbaren“ Eidos.
Daß das Begriffspaar „Materie - Form“ in Aristoteles‘ Wahrnehmungslehre eine zentrale Rolle spielt, zeigt sein berühmtes Siegelring-Wachs-Beispiel: „Allgemein muß man bezüglich aller Sinneswahrnehmung erfassen, daß die Wahrnehmung das zur Aufnahme der wahrnehmbaren Eidê ohne die Materie Fähige ist (...) – wie das Wachs das Siegel (...) des Ringes ohne das Eisen und das Gold aufnimmt, vielmehr das goldene oder bronzene Zeichen empfängt (...), aber nicht, insofern es Gold oder Eisen ist.“[9]
Auch wenn die Ansichten der Forscher bezüglich dieses Vergleichs auseinandergehen, ist folgende Deutung allgemein anerkannt: Wie das Wachs die Form des Siegelrings ohne die Materie aufnimmt, prägt die Wahrnehmung die Form (das Eidos) des Wahrgenommenen in sich aus, ohne dessen Materie aufzunehmen. In Verbindung mit der im vorigen Abschnitt behandelten Unterscheidung zwischen Potentialität und Aktulität läßt sich der Wahrnehmungsvorgang nun auf folgende Formel bringen:
Die Wahrnehmung löst aus einem Syntheton das wahrnehmbare Eidos (z. B.‘Rot‘) heraus und wird aktual zu diesem. Es vollzieht sich also eine Angleichung der Wahrnehmung an die zu erfassende wahrnehmbare Bestimmtheit. Da dabei keine Materie aufgenommen wird, handelt es sich um einen immateriellen Vorgang.[10] Der bekannte Aristoteles-Interpret Horst Seidl beschreibt diesen wichtigen Akt mit den Worten: „Die Objekte, mit denen die spezifische Sinneserkenntnis zur Identität kommt, sind die vom Konkreten abstrahierten Sinnesqualitäten, die das Vermögen als ‚sinnliche Formen ohne den Stoff‘ aufnimmt.“[11]
Aus dieser Definition ergibt sich nun eine weitere wichtige Konsequenz:
Beim Wahrnehmungsakt ist, sofern es sich um das Erkennen der Idia handelt, keine Täuschung möglich. Entweder wird das wahrnehmbare Eidos erkannt, dann wird die Wahrnehmung identisch mit ihm, oder es wird nicht erkannt, dann aber findet keine Wahrnehmung statt. Im Gegensatz zu anderen Formen der Wahrnehmung, von denen noch die Rede sein wird, findet bei der Wahrnehmung der Idia keine Synthesis statt. Deshalb ist keine Täuschung über das Erkannte möglich, denn „der Irrtum liegt immer in der Synthesis.“[12] Jeder Einzelsinn erfaßt sein Idion also unmittelbar; es wird nichts zusammengefügt, so daß auch nichts irrtümlich miteinander verbunden werden könnte, was nicht zusammengehört.
[...]
[1] De anima 415a 14-22. Die Zitate aus „De anima“ entstammen, wenn nicht anders angegeben, dem Buch von Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988
[2] De anima 418a 24f. Transkription der in Klammern gesetzten griechischen Begriffe von mir.
[3] Vgl. Hubertus Busche: Die interpretierende Kraft der Aisthesis. In: Günter Figal
(Hg.): Interpretationen der Wahrheit, Tübingen 2002, S. 117
[4] De anima 417a 21-b 2 und Bernard, S 55. Die Begriffe Entelechie und enérgeia werden in der Regel synonym gebraucht.
[5] Vgl. Bernard, S.62
[6] De anima 426a 15-19
[7] Bernard, S. 147
[8] Vgl. Anton Hügli/Poul Lübcke (Hg.): Philosophielexikon, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 210
[9] De anima 424a 17-22 (Bernard, S.87). Auf die Wiedergabe der bei Bernard in Klammern stehenden griechischen Ausdrücke bzw. Satzbestandteile habe ich hier aus Platzgründen verzichtet.
[10] Vgl. Bernard ,S. 108/109 und De anima 424a 18-24
[11] Horst Seidl: Der Begriff des Intellekts (nous) bei Aristoteles, Meisenheim 1971, S. 46
[12] De anima 430b 27f, zitiert nach Busche, S. 134
- Citar trabajo
- Richard Schwär (Autor), 2004, Sinnliche Wahrnehmung (Aisthesis) und Denken (Noesis) - Abgrenzung ihrer Erkenntnisleistungen und Aufgaben nach Aristoteles , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78022
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