Diese Untersuchung ist eine philosophische Analyse der Thesen von G. Roth und W. Singer zum Thema Willensfreiheit. Speziell wird dabei auf jene Schlussfolgerungen der Neurobiologen eingegangen, die Forderungen in Bezug auf eine Änderung des Strafrechts nach sich ziehen.
Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Zweck und Anlage der Arbeit werden vorgestellt und ein Überblick über die wichtigsten naturwissenschaftlichen Experimente in diesem Kontext (Kapitel 2). Sodann werden die daraus gezogenen Erkenntnisse sowie die eigenen Forschungsleistungen von Gerhard Roth, Wolf Singer und die sich daran anschließende Diskussion vorgestellt (Kapitel 3) und auf das Untersuchungsthema hin beurteilt.
Mit Hilfe der hier gewonnenen Erkenntnisse wird in dem zweiten Teil (Kapitel 4 und 5) der Arbeit diskutiert, inwieweit sich aus den geschilderten Experimenten Forderungen in Bezug auf eine Veränderung des Strafrechts begründen lassen oder ob die philosophischen Einwände gegen die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Forschung Bestand haben können. Ein Ausblick rundet die Untersuchung ab.
Gliederung des Textes
1. Zweck und Anlage der Arbeit
2. Allgemeine Grundlagen und relevante Experimente der Neurobiologie
2.1 Naturwissenschaftliche Grundlagen (Methoden)
2.2 Für die Thematik wichtige Experimente
2.2.1 Die Libet-Experimente
2.2.2 Die Experimente von Haggard und Eimer (1999)
3. Die Beiträge von G. Roth und W. Singer zum Thema Willensfreiheit
3.1 Der Beitrag von Gerhard Roth zur Debatte um die Willensfreiheit
3.1.1 Der Begriff „Bewusstsein“ bei Gerhard Roth
3.1.2 Roths Argumentation gegen einen (interaktionistischen) Dualismus
3.1.3 Der assoziative Kortex (das Gehirn) als „Ort des Bewusstseins“
3.1.4 Das „Ich“ als virtueller Akteur
3.1.5 Roths Schlussfolgerungen in Bezug auf Willensfreiheit und Strafrecht
3.2 Wolf Singers Beitrag zur Debatte
3.2.1 Wissenschaftstheoretische Selbstbezweiflung
3.2.2 Der Beobachter im Gehirn und des Gehirns (Die Rolle des „third-person-view“ bei Singer)
3.2.2.1 Singers Beschreibung des Menschen aus der Sicht des Beobachters
3.2.2.2 Singers Diskussion dualistischer Positionen
3.2.3 Der Mensch als System
3.2.3.2 Ausgestaltung und Ziele des Systems Mensch nach Singer
3.2.3.3 Der Begriff der Emergenz
3.2.4 Schlussfolgerungen für Willensfreiheit und Strafrecht
4. Ein Kurzüberblick über die rechtliche Bedeutung von „Willensfreiheit“
4.1 Ein rechtliches Phasenmodell der Willensfreiheit
4.2 Der rechtliche Begriff der Schuld
5. Philosophische Diskussion der Thesen von Roth und Singer
5.1 Kritik an Methoden in neurowissenschaftlichen Experimenten
5.2.1 Allgemeine Kritik an den verwendeten neurowissenschaftlichen Methoden
5.2.2. Kritik an der Interpretation der Libet-Experimenten
5.2 Ursachen vs. Gründe
5.2.1 Ursachen und Kausalanalyse
5.2.2 Gründe
5.3 Über Kategorienfehler in der Diskussion
6. Ausblick
1. Zweck und Anlage der Arbeit
Diese Untersuchung ist eine philosophische Analyse der Thesen von G. Roth und W. Singer zum Thema Willensfreiheit. Speziell wird dabei auf jene Schlussfolgerungen der Neurobiologen eingegangen, die Forderungen in Bezug auf eine Änderung des Strafrechts nach sich ziehen.
Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Nach diesem Kapitel, in dem Zweck und Anlage der Arbeit vorgestellt werden, folgt ein Überblick über die wichtigsten naturwissenschaftlichen Experimente in diesem Kontext (Kapitel 2). Sodann werden die daraus gezogenen Erkenntnisse sowie die eigenen Forschungsleistungen von Gerhard Roth, Wolf Singer und die sich daran anschließende Diskussion vorgestellt (Kapitel 3) und auf das Untersuchungsthema hin beurteilt.
Mit Hilfe der hier gewonnenen Erkenntnisse wird in dem zweiten Teil (Kapitel 4 und 5) der Arbeit diskutiert, inwieweit sich aus den geschilderten Experimenten Forderungen in Bezug auf eine Veränderung des Strafrechts begründen lassen oder ob die philosophischen Einwände gegen die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Forschung Bestand haben können. Ein Ausblick rundet die Untersuchung ab.
2. Allgemeine Grundlagen und relevante Experimente der Neurobiologie
Die folgenden Beschreibungen naturwissenschaftlicher Experimente dienen als Grundlage für die späteren Abschnitte. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und verzichten insbesondere auf eine Einordnung in den jeweiligen Forschungskontext der Fachwissenschaften. Sie sind insofern selektiv, als sie ausschließlich die wichtigen Aspekte für die sich anschließende philosophische Diskussion beinhalten. Der Zweck dieser Schilderung besteht erstens darin, den methodischen Zugang der Neurowissenschaften mit seinen expliziten und impliziten Voraussetzungen und Annahmen in den naturwissenschaftlichen Experimenten zu verstehen (Abschnitt 2.1) und daran anschließend beurteilen zu können (in späteren Teilen der Arbeit) und zweitens darin, die neurophilosophische Argumentation, die von bestimmten naturwissenschaftlichen Versuchen (Abschnitt 2.2) ausgeht, nachvollziehen zu können.
2.1 Naturwissenschaftliche Grundlagen (Methoden)
Neurowissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisse durch Experimente.[1] Von einzelnen Experimenten werden (induktiv) Schlussfolgerungen auf allgemeine Sätze („Gesetzmäßigkeiten“) gezogen oder es werden Gesetzeshypothesen getestet. Bei den Experimenten soll der Zusammenhang zwischen physiologischen Prozessen und menschlichem Verhalten gemessen werden. Dabei sind zwei methodische Zugänge möglich. Erstens kann Verhalten als eine vom physiologischen Substrat (dies ist die unabhängige Variable, welche verändert wird) abhängige Variable „gemessen“ werden. Zweitens kann das Verhalten als unabhängige Variable manipuliert werden und die Veränderungen des physiologischen Substrats werden dann als abhängige Variable gemessen.
Es handelt sich bei den Experimenten immer um Beobachtungen von „außen“, d.h. aus der Perspektive der dritten Person. Es soll dabei nur beobachtet und nicht in das Experiment eingegriffen werden. Die Sicht des Menschen (von „innen“), der Versuchsperson ist und dessen „Verhalten“ untersucht wird, spielt dabei keine Rolle.
Die Messungen geschehen fast ausschließlich mittels technischer Hilfsmittel.[2] Experimente ohne Hilfsmittel kommen praktisch nicht vor. Es handelt sich also nie um direkte Beobachtungen. Daher muss geprüft werden, inwieweit die Hilfsmittel die Messungen filtern oder verfälschen.[3]
Man unterscheidet invasive und nicht-invasive neurowissenschaftliche Methoden. Bei invasiven Methoden wird das Gehirn in irgendeiner Weise manipuliert. Hierbei kommt zum Beispiel eine Zerstörung von verschiedenen Hirnzentren in Frage, um zu sehen, wann Hirnfunktionen ausfallen. Die meisten der invasiven Methoden können beim Menschen allerdings aus moralischen Gründen nicht durchgeführt werden.[4] Jedoch können Schlussfolgerungen aus nicht-invasiven Experimenten mit Hirnkranken gezogen werden.[5]
Als eine nicht-invasive Methode, welche angewandt wird, um menschliches Verhalten zu messen, wird die Anwendung des Elektroenzephalogramms (EEG) gesehen.[6] Dabei wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und aufgezeichnet.
Die Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns gilt zusammen mit der Aufzeichnung von Magnetfeldern als wichtigster methodischer Zugang zur Erforschung der Zusammenhänge zwischen Hirn und Verhalten beim Menschen.[7] Weiterhin gibt es in der Gruppe der nicht-invasiven Methoden „bildgebende“ Verfahren, dies sind die Positron-Emissions-Tomographie (PET) und Magnetresonanztomographie (nuclear magnetic resonance: NMR) sowie Röntgencomputertomographie (CAT).[8]
Unter einem EEG werden im Allgemeinen die Aufzeichnungen der Spannungsschwankungen der Großhirnrinde verstanden, aber nicht ausschließlich, es können im EEG auch subkortikale elektrische Potentiale dargestellt werden, die bis zum Kortex weitergeleitet werden können. Die elektrischen Impulse des Gehirns müssen bei der Messung verstärkt werden, da ansonsten die schwachen Spannungsschwankungen nicht gemessen werden können.
Elektroenzephalographische Methoden haben den Nachteil, dass ihre präzise Zeitstruktur mit einer örtlichen Ungenauigkeit über den anatomischen Ursprung einer Spannungsschwankung erkauft werden muss. Sie sollten daher (wenn es auf den genauen Ursprungsort der elektrischen Aktivität ankommt) durch die anderen Verfahren (bildgebende Verfahren oder Magnetoenzephalogramm[9]) ergänzt werden.[10]
Die bildgebenden Verfahren machen sich aufgabenabhängige Veränderungen im Blutfluss zu Nutze[11]. Es wird davon ausgegangen, dass die Pulsationen des menschlichen Gehirns bei erhöhter mentaler Aktivität zunehmen und daraus gefolgert, dass die Nervenzellenaktivität von Blutflussänderungen begleitet ist. Diese Blutflussänderungen sind von Veränderungen des Sauerstoffverbrauchs begleitet. Mit Messung der Sauerstoffdifferenz im Blut ist damit eine Möglichkeit gegeben, Hirnaktivierungen indirekt darzustellen (funktionelle Magnetresonanztomographie).
Im Allgemeinen wird bei der Nutzung von PET und NMR[12] versucht, mit Hilfe der sogenannten „Subtraktionsmethode“ Erkenntnisse über „kognitive Prozesse“ zu erlangen.[13] Dabei sollen spezifische von unspezifischen Stoffwechsveränderungen infolge erhöhter Hirnaktivität unterschieden werden. In einem ersten Versuchsdurchgang wird eine Versuchsperson zum Beispiel aufgefordert, bestimmte Worte mechanisch zu lesen. In einem zweiten Versuchsdurchgang soll die Versuchsperson dann während des Lesens über die Bedeutung der Worte nachdenken. Durch das „Abziehen“ der räumlichen Aktivitätsmuster und deren Intensität folgert man nun auf die neuronalen Prozesse, welche dem Erfassen des Wortsinns zugrunde liegen.
Weiterhin von Bedeutung für die methodologischen Grundlagen der neurobiologischen Forschung sind sogenannte ereigniskorrelierte Hirnpotentiale (im Folgenden wie in der Neurobiologie üblich mit EKP abgekürzt).[14] Darunter werden alle Potentiale verstanden, die in Bezug auf ein sensorisches, motorisches oder psychisches Ereignis im EEG messbar sind. Die genauen technischen Verfahren, wie dies geschieht, können hier nicht ausgiebig geschildert werden, jedenfalls ist auch zu diesem Messverfahren zu schlussfolgern[15], dass hier immense methodische Probleme auftauchen, die unter anderem bei der Wahl der „richtigen“ Messtechnik und dann bei der Dateninterpretation liegen. Unter anderem werden dabei aus technischen Gründen (das sogenannte Spontan-EEG überlagert die kleineren EKP als „Rauschen“, so dass dieses schwer messbar ist) arithmetische Mittel von Kurven benutzt, die Ergebnisse beanspruchen deswegen keine absolute Genauigkeit für sich. Bei der Dateninterpretation ergibt sich unter anderem das Problem, die Komponenten zu identifizieren (im EEG), die bestimmte Hirnprozesse „abbilden“. Weiterhin ist es problematisch, diese Hirnprozessen dann zu interpretieren.
Ein Beispiel für solch eine neurobiologische Interpretation findet sich bei Birbaumer und Schmidt:
„Entladen viele Pyramidenzellen gleichzeitig, sowohl bei motorischen Efferenzen als auch assoziativen Verbindungen („Denken“), so verschiebt sich das Potential (LP) nach positiv, da die negative Stromsenke zum tiefergelegten Soma wandert: diesen Zustand nennen wir zerebrale Leistung, da er mit Informationsaustausch und –weitergabe des Netzwerks verbunden ist.“[16] (im Original sind Teile des Zitats durch Fettdruck hervorgehoben)
Für die Bewertung der philosophischen Schlussfolgerungen ist es weiterhin wichtig zu wissen, dass manche Ergebnisse der Neurobiologie/Neurophysiologie aus Versuchen stammen, die nicht am Menschen, sondern anhand von Tierversuchen gewonnen wurden. Obwohl natürlich nicht alle Neurowissenschaftler den Fehler begehen würden, diese Ergebnisse direkt auf den Menschen zu übertragen, gehen diese Ergebnisse teilweise in Forschungen ein und werden als Annahmen oder Grundlagen benutzt.[17]
2.2 Für die Thematik wichtige Experimente
In der Debatte um die Willensfreiheit wird von den Neurowissenschaftlern meist auf die Experimente von Libet (Ziffer 2.2.1) und die daran anschließenden Experimente von Haggard und Eimer (Ziffer 2.2.2) Bezug genommen. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden.
2.2.1 Die Libet-Experimente
Die Ergebnisse der Experimente, die Libet et al. 1983[18] publizierten, sind von grundlegender Wichtigkeit für die neuerdings angestoßene Debatte um die Willensfreiheit.[19] Auf ihnen baut die Argumentation bei Roth, Singer und anderen auf.
Dieser Abschnitt hat den Anspruch, eine neutrale Beschreibung des Versuchsaufbaus und der verwendeten Methoden der Experimente bereitzustellen[20].
Der Versuch wurde mit insgesamt sechs Versuchspersonen in zwei Gruppen mit je drei Versuchspersonen durchgeführt.[21] Die zweite Gruppe wurde einen Monat später als die erste Gruppe getestet. Die Experimente beinhalteten je zwei Serien mit 40 Wiederholungen, mit deren Messungen dann Durchschnittswerte gebildet wurden.[22]
Bei beiden Serien mussten die Versuchspersonen sich auf ein Ziffernblatt konzentrieren, bei dem ein Punkt in 2,56 statt in 60 Sekunden alle Positionen durchlief.[23] Auflage war es dabei für die Versuchspersonen, dass sie dabei nicht mit den Augen blinzeln durften.[24] Das Ziffernblatt war mit Markierungen so aufgeteilt, dass jeder Teil 107 Millisekunden repräsentierte.
Im Folgenden wird nur auf die erste Serie (die zweite brachte ähnliche Ergebnisse) eingegangen. Die Versuchspersonen sollten dabei– der Zeitpunkt war ihnen freigestellt – eine Bewegung mit der rechten Hand oder den Fingern derselben machen und sich merken, wann sie den Willen gehabt haben, die Bewegung auszuführen. Gleichzeitig wurden die dabei entstehenden elektrischen Potentiale mit einem EEG aufgezeichnet.
Bei den Messungen ergab sich, dass ein Bereitschaftspotential[25] durchschnittlich 550 Millisekunden vor der Handbewegung aufgebaut wurde.[26] Die Versuchspersonen waren sich durchschnittlich aber nur 200 Millisekunden vor der Handbewegung bewusst, dass sie die Hand bewegen wollten.
2.2.2 Die Experimente von Haggard und Eimer (1999)
Die Experimente von Haggard und Eimer[27] sind als Anschlussexperimente an die Libet-Experimente zu verstehen. Diese modifizierten bei ihrem Experiment den Versuchsaufbau im Vergleich zu Libet in dreierlei Hinsicht:
Erstens wurden den Versuchspersonen mehr Freiheiten gegeben (bei Libet durften die Versuchspersonen nur entscheiden, wann sie die rechte Hand bewegten).
Zweitens wurde zur besseren Absicherung eine zusätzliche Messmethode eingeführt[28] (lateralisierte Bereitschaftspotentiale wurden gemessen) und
drittens wurde Libets kausale Betrachtung von Bereitschaftspotential und anschließender Handbewegung durch Variationen überprüft.
Die erste Veränderung des Experiments wurde dadurch bewirkt, dass die Versuchspersonen einen Durchgang durchliefen, bei dem sie eine bestimmte Hand bewegen mussten und einen Durchgang, in denen es ihnen freigestellt war, die linke oder die rechte Hand zu bewegen.[29]
Bei den Experimenten von Haggard und Eimer stellte sich heraus, dass das Bereitschaftspotential bei ungefähr einem Viertel der Versuchspersonen nach dem empfundenen Willen, die Hand zu bewegen auftauchte.[30] Damit widersprechen die Experimente von Haggard und Eimer in einem zentralen Punkt den Ergebnissen der Experimente von Libet.
3. Die Beiträge von G. Roth und W. Singer zum Thema Willensfreiheit
Nachdem nun die naturwissenschaftlichen Diskussionsgrundlagen und Experimente abgehandelt sind, werden in den folgenden Abschnitten die Beiträge von Gerhard Roth und Wolf Singer zunächst dargestellt und dann diskutiert. Abschnitt 3.1 befasst sich mit Gerhard Roth, in Abschnitt 3.2 wird der Standpunkt von Wolf Singer dargelegt.
3.1 Der Beitrag von Gerhard Roth zur Debatte um die Willensfreiheit
Gerhard Roth ist sich bewusst, dass eine allgemeine Auffassung darin besteht, dass man Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden[31] „messen“ kann.[32] Weiterhin, so die allgemeine Auffassung nach Roth, unterliegen sie nicht den Naturgesetzen und sind damit als Geistiges gegenüber dem Stofflichen radikal anders, weshalb auch eine Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften sinnvoll sei. Die Hirnforschung und ihre Ergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte haben – so Roth - diese Auffassung jedoch in Frage gestellt. Die Erkenntnisfortschritte der Aufklärung der neuronalen Grundlagen von
„Wahrnehmungsleistungen und geistigen Zuständen“[33],
seien durch neue Methoden der Erforschung ermöglicht worden und durch die mit ihnen gewonnenen zahlreichen empirischen Untersuchungen scheine es nur so, als ob es nicht möglich sei, den
„vorgeblich unüberbrückbaren Abgrund zwischen Geist und Materie“[34]
überspannen zu können. Gerhard Roth zufolge sind diese empirischen Ergebnisse hilfreich für die Beantwortung der sich aufdrängenden philosophischen Fragen.
Um diese Erkenntnisse zu erläutern und zu beurteilen, ist es nach Roth unabdingbar, zuerst einmal zu klären, was unter Bewusstsein zu verstehen ist.[35] In der Philosophie werde gerne von „dem Bewusstsein“ im Singular gesprochen, dies entspreche jedoch nicht den Erkenntnissen der Neurologie und der Neuropsychologie.
In der Neurologie und die Neuropsychologie umfasse der Begriff „Bewusstsein“:
„eine Vielzahl unterschiedlicher Zustände, die lediglich darin übereinstimmen, daß sie von einem Individuum erlebt werden“[36]
Wie Bewusstsein von Roth näher eingegrenzt wird, wird im nächsten Abschnitt geschildert.
Die Schilderung dieser Überlegungen ist für die Untersuchung von Bedeutung, da erstens ohne Bewusstsein kein freier Wille möglich wäre und zweitens[37], da Roths Überlegungen zur Willensfreiheit (in seinem Falle der Versuch der Widerlegung der These der Willensfreiheit) auf seinen und anderen naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Bewusstseins aufbauen. Nachdem dann dargelegt worden ist, was Roth unter Bewusstsein versteht (Abschnitt 3.1.1), wird Gerhards Roth Auseinandersetzung mit dem interaktionistischen Dualismus vorgestellt (Ziffer 3.1.2) Daran schließt sich die Darstellung von Gerhard Roths These, dass der Ort des Bewusstseins genau angegeben werden könne an, dies ist – so Roth – der assoziative Kortex (Ziffer 3.1.3).[38] Sodann soll geschildert werden, warum Roth das Ich nur für einen „virtuellen“ Akteur hält und er sich nicht scheut, das Gehirn als Akteur zu betrachten (Ziffer 3.1.4).
Der letzte Unterabschnitt (Ziffer 3.1.5) widmet sich dann den Konsequenzen, die sich aus Roths Betrachtung der Willensfreiheit als „Illusion“ ergeben.
3.1.1 Der Begriff „Bewusstsein“ bei Gerhard Roth
Roth bezieht sich mit seinen Untersuchungen zum Bewusstsein ausschließlich auf einen Zustand, den Individuen haben.[39]
Dabei unterscheidet er verschiedene Ausprägungsformen des Bewusstseins, nämlich Wachheit (Vigilanz), reduziertes Bewusstsein („Dösen“), Benommenheit (Somnolenz) und Antriebslosigkeit (Stupor) und verschiedene Stufen des Komas vom Wachkoma bis zur Bewusstlosigkeit.[40]
Spezifischere Formen des Bewusstseins seien das Körperbewusstsein, das Bewusstsein der eigenen Identität, das Gefühl der Kontrolle der eigenen Handlungen und mentalen Akte, der Realitätscharakter von Erlebtem sowie die Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung. Er nennt diese Formen
„Zustände von Hintergrundbewusstsein“.[41]
Durch Schädigung bestimmter Gehirnteile können diese Zustände unabhängig voneinander schwinden. Nach Roth spricht dies für eine modulare (räumlich und funktional getrennte) Organisation von Bewusstseinsinhalten. Als Bestätigung seiner Auffassung sieht Roth die Berichte von Patienten, die der Überzeugung sind, dass ihr Körper oder ein Teil davon (zum Beispiel der rechte Arm) nicht zu ihnen gehört, ansonsten aber ganz normale Wahrnehmungen haben.[42]
Wesentlich für das Bewusstsein sind nach Roth weiterhin das „Arbeitsgedächtnis“, das nach bestimmten Kriterien Informationen auswählt und die „Aufmerksamkeit“, welche vorhanden sein muss, damit uns Dinge voll bewusst sind.[43] Die Unbewusstheit ist nach Roth ein in der Diskussion um die Natur des Bewusstseins unterschätzter Punkt, da
„das meiste von dem, was um, in und mit uns geschieht, nicht von Bewußtsein begleitet ist.“ (kursiv im Original)[44]
Roth führt für diese These mehrere Argumente an. Zum einen sei das Geschehen in unserem Körper auf molekularer und zellulärer Ebene unbewusst. Auch das Gehirn werde einem Menschen nicht bewusst, da es schmerzunempfindlich sei und Hirnoperationen sogar ohne Betäubung durchgeführt werden können. Kopfschmerzen seien bedingt durch die Blutgefäße im Gehirn und rührten weiterhin von den Hirnhäuten her. Er kommt daher zu dem Schluss:
„Vom eigenen Erleben her kämen wir überhaupt nie darauf, daß wir überhaupt ein Gehirn besitzen“[45]
Roths Argumentation, die sich ursprünglich mit dem Bewusstsein befasst, wechselt an dieser Stelle also das Thema und befasst sich nun damit, wie das Gehirn erlebt wird. Letztendlich behauptet er, dass wir unser Gehirn nicht wahrnehmen, dass uns seine Existenz nicht unmittelbar bewusst wird. Weiterhin führt er aus, dass uns die materiellen Prozesse, die sich beim Wahrnehmen über die Sinnesorgane, beim Sehen, Fühlen, Riechen abspielen, nicht bewusst sind. Zugänglich sei nur das, was die sogenannten assoziativen Rindenareale mit den Informationen aus „vorgeschalteten Zentren“[46] und den Gedächtnisinhalten tun.
Er fährt fort:
„Alles, was in unserem Gehirn sonst noch passiert und nicht mit irgendeiner Aktivität des assoziativen Kortex[47] verbunden ist, ist uns völlig unzugänglich, so wichtig es auch sein mag.“[48]
Als weiterer Beleg dafür, dass vieles unbewusst im Körper ablaufe, nennt Roth das implizite Lernen bei Kindern, welche mehr oder minder komplexe Inhalte wahrnehmen und durch sie lernen können, ohne dass es ihnen bewusst ist.[49]
Roth unterscheidet deshalb zwischen einem bewusst-expliziten und einem unbewusst-implizit ablaufenden System der Informationsverarbeitung. Mit zunehmender Vertrautheit und Übung können Inhalte des Bewusstseins in das implizite System „absinken“. Dieses implizite System der Informationsversorgung sei nicht an Sprache gebunden oder einer sprachlichen Beschreibung überhaupt gar nicht zugänglich und soll das implizite Lernen erklären.[50]
3.1.2 Roths Argumentation gegen einen (interaktionistischen) Dualismus
Mit Hilfe der in Kapitel 2 genannten Verfahren schließt Roth auf Korrelationen zwischen materiellen Prozessen und Bewusstsein.[51] Dies sei im Moment zwar nur in Einzelfällen möglich und werde lediglich durch mangelnde technische Möglichkeiten und Methoden begrenzt. Es lasse sich allerdings zeigen, dass es eine enge Beziehung zwischen komplexen kognitiven und psychischen Zuständen und Hirnaktivitätszuständen gebe. Zu den bisher gesicherten Erkenntnissen der Hirnforschung gehöre, dass Aktivitätspotentiale zu registrieren seien, bevor Versuchspersonen Reaktionen bewusst ausführen (vgl. hierzu die Beschreibung der Libet-Experimente). Das heißt, dass materielle Gehirnprozesse „psychischen“ Prozessen zeitlich vorausgehen. Gerhard Roth sieht dies als ein wichtiges Argument gegen einen interaktiven Dualismus, wie ihn seiner Auffassung nach Descartes oder Eccles vertreten haben.[52]
Der interaktive Dualismus zeichnet sich nach Roth dadurch aus, dass sowohl in der materiellen wie auch in der geistigen Ebene Prozesse gleichzeitig ablaufen.[53] Wenn aber in den Libet-Experimenten Sinnesreizungen erst mit einer Verzögerung von über einer halben Sekunde bewusst werden, dann spreche das gegen die These des interaktiven Dualismus. Das Gehirn vermittle den Menschen nur die Illusion, dass sie ein Signal vor der Reaktion bewusst erlebt haben. Die Ergebnisse von Libet seien durch die Untersuchungen von Haggard und Eimer bestätigt worden. Weiterhin gehe den Bereitschaftspotentialen eine unbewusste Erregung der Basalganglien voraus. Roth führt zum Nachweis dafür eigene Untersuchungen an.[54] Diese Befunde seien eine Widerlegung der These, dass ein autonomer Geist das Gehirn als Instrument benutze, um sich in der materiellen Welt zu verwirklichen. Vielmehr sei Bewusstsein
„das Endresultat der sehr komplexen Interaktion vieler Hirnzentren.“[55]
Diese Hirnzentren arbeiteten vor allem unbewusst. Dies ist jedoch nicht das einzige Argument, das Roth gegen den (interaktiven) Dualismus anführt. Ein weiteres Argument finde sich in den stoffwechselphysiologischen Bedingungen von Bewusstsein. Da Bewusstsein nur in der Großhirnrinde auftrete und dort nur in den assoziativen Regionen, müsse dort eine erhöhte Stoffwechselaktivität auftreten, wenn Bewusstseinsprozesse ablaufen. Mit Hilfe der Kernspintomographie[56] kann dann die Erhöhung des Blutflusses in dieser Region gemessen werden. Roth führt weiter an, dass diese Stoffwechselprozesse für den Körper sehr „teuer“, das heißt, dass sie mit hohem Energieverbrauch „bezahlt“ werden müssen, sind. Er schildert auch ausführlich, wie dieser hohe Energieverbrauch zustande kommt. Aus all diesen Ausführungen (nämlich dass Aktivitäten des „Bewusstseins“ sehr energiereich sind und wir deshalb bei niedrigem Blutzuckerspiegel oder Sauerstoffmangel Lernschwierigkeiten haben) folgert Roth, dass Bewusstsein klar definierten naturwissenschaftlich (Roth schreibt von physikalisch-chemisch-physiologischen Bedingungen) messbaren Bedingungen unterliege und durch einen hohen Energie- und Stoffumsatz charakterisiert sei. Er führt weiter aus:
„Bewusstsein ist ganz offensichtlich ein makrophysikalischer Zustand; ohne ausreichend Sauerstoff und Glucose gibt es kein Bewußtsein. Unklar ist hingegen, ob eine minimale Anzahl von kortikalen Neuronen nötig ist, um Bewusstsein entstehen zu lassen, oder ob es auf die Aktivitätshöhe kortikaler Neuronen ankommt. Die vorliegenden Experimente deuten auf eine Kombination von beidem hin.“[57]
Neben der Beschreibung der neurophysiologischen Grundlagen und oben angeführtem Zitat findet sich keine weitere Begründung, warum der interaktive Dualismus aufgrund der stoffwechselphysiologischen Bedingungen von Bewusstsein abzulehnen sei.
Das zweite Argument Roths lässt sich also so zusammenfassen, dass der interaktive Dualismus allein deswegen abzulehnen sei, weil die materiellen Grundlagen von Bewusstsein grundsätzlich gemessen werden können und teilweise tatsächlich mit den heute vorhandenen Forschungsmethoden erfasst werden können.
Für Roth deutet nichts darauf hin, dass Geist etwas ist, das nicht innerhalb der Grenzen, die durch die Herangehensweise und die Forschungsmethoden der Naturwissenschaft vorgegeben sind, beschreibbar ist.[58] Weiterhin vertritt er die Ansicht:
„Geist fügt sich in das Naturgeschehen ein und widerspricht ihm nicht.“[59]
Dabei ergibt sich beim Lesen der Texte Roths der Eindruck, dass „Geist“ deswegen nichts Transzendentales ist, weil er materielle Korrelate hat, die wiederum mit naturwissenschaftlichen Methoden erfasst werden können. Für Roth ist die Auffassung, dass der Geist gegenüber dem Gehirn autonom sein kann ein Glaube, der mit dem Wissensstand der Hirnforschung nicht vereinbar sei. Er selbst wendet sich allerdings gegen einen neurobiologischen Reduktionismus, unter den er Aussagen wie:
„Bewußtsein ist nichts anderes als das Feuern bestimmter Neurone“[60]
oder
„[Bewusstsein ist nichts anders als, M.M.] die gemeinsame Aktivität des kortiko-thalamischen Systems“[61]
subsumiert. Vielmehr entstehe Bewusstsein nur dann, wenn viele Gehirnzentren zusammenwirken und Informationen verarbeiten, die entweder interne Informationsweitergaben innerhalb des Gehirns sein können oder aus der Kommunikation zwischen Gehirn und
„seines Körpers mit der Umwelt entstanden sind.“
Auch hierauf wird später noch einzugehen sein, Roth spricht davon, dass dem Gehirn der Körper „gehört“: das Gehirn „hat“ den Körper.
Roth sieht seine „Widerlegung“ des Dualismus also nicht als reduktionistisch an, sondern grenzt sich seiner Auffassung nach deutlich von reduktionistischen Theorien ab.
Dies wird auch an seiner schon weiter oben angedeuteten Kritik an Crick klar, der die Auffassung vertritt, dass Bewusstsein nichts anderes ist, als das Feuern von Neuronen.[62] Roth zu Folge liegt hier noch kein Bewusstsein vor, da an feuernden Neuronen nichts Bewusstseinshaftes zu finden sei.[63] Allerdings beharrt Roth auf der Unterscheidung seiner und reduktionistischen Theorien, obwohl er Bewusstsein als
„physikalischen Zustand“[64]
betrachtet.
Dies folgt nach Roth daraus, dass für ihn Vorgänge dann physikalische sind, wenn sie durch physikalische Phänomene eindeutig beeinflusst werden und diese selbst beeinflussen können und Bewusstsein ein solcher Vorgang ist.[65] Deswegen muss Roth sich auch von jeder dualistischen Betrachtung abwenden, da – so sein weiter oben geschildertes Argument - der Dualismus nicht erklären kann, wie geistige Vorgänge sich auf materielle Prozesse auswirken.
Nachdem nun klar geworden ist, dass Roth die Auffassung des materialistischen Monismus vertritt und dabei abstreitet, dass seine Theorien reduktionistisch sind, wendet sich die Untersuchung seiner Theorie nun seiner Vorstellung zu, dass man das Bewußtsein genau verorten könne. Dies soll im nächsten Abschnitt geschehen.
3.1.3 Der assoziative Kortex (das Gehirn) als „Ort des Bewusstseins“
Gerhard Roth sieht es als sicher an, dass Bewusstsein lediglich in Teilen des Gehirns (im „assoziativen Kortex“) zu verorten ist.[66] Es entstehe im Wesentlichen dort, wo kortikales und limbisches System, die für Kognition und Emotion zuständig sind, durchdringen.[67] In diesem Teil seiner Argumentation führt Roth auch wieder Experimente an, die mit Tieren durchgeführt wurden. Bei diesen Experimenten habe sich herausgestellt, dass die verschiedenen Zentren des Gehirns bei „Willkürhandlungen“ „verhaltensrelevante Informationen“ einander zusenden.[68] Der assoziative Kortex erhält dabei stets Rückmeldungen von den anderen Bereichen, insbesondere von den limbisch-motorischen Zentren. Dies sei
„offenbar notwendig, um die Integration von Wahrnehmung und Handlung als Basis komplexer Handlungsplanung zu ermöglichen.“[69]
Dieses Zitat Gerhard Roths darf aber nicht mißgedeutet werden im Sinne einer Möglichkeit der freien Entscheidung des Individuums bei der „Handlungsplanung“. „Handlung“ wird hier nicht wie im philosophischen Sprachgebrauch, sondern eher im Sinne eines willkürlichen Verhaltens gebraucht. Es geht Roth nur darum zu zeigen, wie die materiellen Prozesse im Gehirn ablaufen und wie sich die verschiedenen Hirnzentren zueinander verhalten. bzw. miteinander kommunizieren.
Der Sitz des Bewusstseins im assoziativen Kortex wird nach Roth im Wesentlichen durch fünf Eigenschaften bestimmt:[70]
1. Es gibt eine Konvergenz unterschiedlicher sensorischer Informationen (mit Ausnahme des Geruchssinns).
2. Der zelluläre Aufbau ist in hoher Weise gleichförmig und es gibt eine hohe Verknüpfungsdichte, die den assoziativen Kortex zum assoziativen Speicher und zum Sitz des deklaratorischen Gedächtnisses macht.
3. Das limbische System hat einen massiven Einfluss auf den assoziativen Kortex und damit haben Motivation und Bewertung einen hohen Einfluss auf denselbigen.
4. Es gibt eine Rückkopplung zwischen assoziativem Kortex und subkortikalen motorischen Zentren im Rahmen von Planung und Steuerung von Willkürhandlungen.
5. Der assoziative Kortex hat eine hohe synaptische Plastizität.
Zusammenfassend zum Ort des Bewusstseins in der Theorie Gerhard Roths kann an dieser Stelle zunächst gesagt werden, dass laut Roth materielle Korrelate von Bewusstsein im assoziativen Kortex festgestellt werden konnten und mehrere Hinweise darauf deuten, dass der assoziative Kortex einen wesentlichen Part in der materiellen Verortung des Bewusstseins spielt. Für Gerhard Roth ist das Bewusstsein vollständig in den materiellen Prozessen, die sich im assoziativen Kortex abspielen, enthalten. Allerdings ist die Bezeichnung „assoziativer Kortex“ selbst unpräzise, wie Gerhard Roth in einem Aufsatz zugibt und damit keine präzise Ortsbezeichnung.[71] Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Roth das Bewusstsein grundsätzlich für materiell verortbar hält.
Nachdem nun Gerhard Roths Betrachtung des Bewusstseins analysiert wurde, soll nun seine These vom Ich als einem virtuellen Akteur vorgestellt werden.
3.1.4 Das „Ich“ als virtueller Akteur
Gerhard Roth kommt bei seinen Untersuchungen des Gehirns zu dem Schluss, dass die
„Ausbildung des Körperschemas und des Körper-Ich, der Sprachfunktionen und schließlich des bewußten Ich während der Entwicklung des Kindes“[72]
durch Umverknüpfungsprozesse von neuronalen Netzen geschehen. Er verweist dabei auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die Etappen identifiziert hat, in denen sich die Entwicklung des Ich bis zum bewussten Ich vollzieht.[73]
Die Etappen werden nach und nach vollzogen, dies fängt schon im Mutterleib vor der Geburt an. Roth schreibt dazu:
„Die Sinnesorgane und die primären Sinneszentren des Gehirns sind zu dieser Zeit bereits aufnahmefähig, ebenfalls hat das limbische System als zentrales Bewertungssystem des Gehirns seine Arbeit aufgenommen und trifft seine ersten Unterscheidungen über Lust und Unlust, Angenehm und Unangenehm.“[74]
Festzuhalten für die spätere philosophische Diskussion der Aussagen Gerhard Roths bleibt, dass das limbische System hier als Akteur auftritt und Entscheidungen trifft.
Ab dem 5. Monat nach der Geburt – so Roth - entwickle sich die Unterscheidung von Körper und Nicht-Körper, das Erlernen der Perspektivität des Körpers (die Welt wird vom Körper aus gesehen). Ab dem 9. Monat nach der Geburt erfolge dann das Denken, das Entwickeln von Absichten und Plänen sowie die Ausbildung des eigentlichen „Ichs“, das sich in dem Gebrauch der Wörter „Ich“ und „mein“ widerspiegelt. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, Roth zählt sie lediglich auf. Der Schlüssel zum Verständnis der Position von Gerhard Roth ist, dass sich diese Entwicklungen parallel zur Ausreifung des Gehirns und dessen materiellen Grundlagen vollziehen. Gerhard Roth spricht davon, dass das limbische System schon vor der Geburt mit seiner Arbeit beginnt. Er führt weiter aus:
„Es [das limbische System, M. M.] sammelt vor und in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt die ersten und vielleicht wichtigsten Erfahrungen, - lange bevor das Bewußtsein sich ausgebildet hat.“[75]
Auch hier spricht Roth vom limbischen System wieder so, als ob es ein Akteur sei. Parallel zur Entwicklung des Ichs, bzw. dieser Entwicklung vorgängig reifen auch die materiellen Grundlagen dafür. Roth beschreibt diesen Vorgang ausführlich[76], als Beispiel kann hier der „Scheitellappen“ dienen, in dem die materiellen Grundlagen des Körperempfindens zu sehen sind. Nach der Schilderung der Entwicklung der materiellen Grundlagen kommt Roth zusammenfassend zum Schluss:
„Das Gehirn generiert mit der Ausbildung eines Ich einen ‚virtuellen Akteur’, dem ein Körperschema und ein Ort im Raum zugeschrieben wird und der zum scheinbaren Träger der Willkürhandlungen wird.“[77]
[...]
[1] Vgl. für diesen Abschnitt N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 483 und G. Roth, Die Neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 187 ff.
[2] Teilweise sind diese technischen Hilfsmittel noch nicht genug geeignet, um weitreichende Schlüsse aus den Experimenten zu ziehen. So schreibt Singer (W. Singer, Neurobiologische Anmerkungen zum Konstruktivismus-Diskurs, S. 111) über die Auswertung eines Experiments mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie: „Diese am Menschen erhobenen Befunde erlauben wegen ihrer begrenzten räumlichen und zeitlichen Auflösung kaum Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen. Sie unterstützen jedoch die in Tierversuchen gewonnenen Befunde, die uns zu einer wesentlich differenzierteren Interpretation von Hirnfunktionen zwingt als das klassische behavioristische Paradigma.“
[3] Weiteres dazu in Kapitel 5.
[4] Vgl. dazu auch W. Singer, Auf dem Weg nach innen, S. 30.
[5] N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 486.
[6] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 122 f.
[7] Vgl. W. Singer, Auf dem Weg nach innen, S. 29 und für diesen sowie den folgenden Abschnitt N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 487 f.
[8] Vgl. für die „bildgebenden Verfahren“: N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 506-512 und die dort angegebene Literatur.
[9] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 123.
[10] Deswegen wird beim EEG auch von „zeitlichem Neuroimaging“ gesprochen, vgl. T. F. Münte/ H.-J. Heinze, Beitrag neurowissenschaftlicher Verfahren zur Bewußtseinsforschung, S. 298. Münte und Heinze zählen die Methode des Magnetoenzephalogramms auch zum „zeitlichen Neuroimaging“. Die bildgebenden Verfahren werden dort als „räumliches Neuroimaging“ bezeichnet.
[11] Vgl. T. F. Münte/ H.-J. Heinze, Beitrag neurowissenschaftlicher Verfahren zur Bewußtseinsforschung, S. 299 f.
[12] Vgl. dabei die Unterscheidung zwischen NMR und fNMR z. B. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 124.
[13] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 125 und ders., Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 191 f. und die dort angegebene Literatur.
[14] Vgl. zu den EKP N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 500-505.
[15] Aus dem Studium der angegeben neurobiologischen Literatur z. B. bei N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 500.
[16] N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 503.
[17] So führt G. Roth beispielsweise bei seiner Behandlung des „Bewusstseins“ Experimente an, die mit Makakenaffen durchgeführt wurden. Zwar weist Roth daraufhin, dass bei Menschen bisher noch nicht nachgewiesen werden konnte, dass ähnliche Ergebnisse bei Experimenten gewonnen werden können. Trotzdem geht er aber davon aus, dass dies beim Menschen genauso ist und nur bisher wegen der Kompliziertheit der neuronalen Prozesse, die im Menschen ablaufen, nicht nachgewiesen werden konnte, dies aber prinzipiell irgendwann möglich sein wird. Vgl. dazu G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 191-194.
[18] B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity.
[19] Vgl. dazu die Aufsatzsammlung „Hirnforschung und Willensfreiheit“ hg. von C. Geyer.
[20] Zur Diskussion und zur Kritik der Libet Experimente s. u.
[21] Vgl. B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity, S. 624.
[22] Vgl. B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity, S. 624 f.
[23] Vgl. B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity, S. 625.
[24] Vgl. B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity, S. 625.
[25] Der Begriff Bereitschaftspotential wird häufig synonym mit Erwartungspotential verwendet, obwohl man streng genommen unter Bereitschaftspotential nur die Negativierung vor einer spontanen, nicht signalisierten Bewegung verstehe, während der Begriff Erwartungspotential die Negativierung vor signalisierten Handlungen oder Gedanken bezeichnet. Ein Bereitschaftspotential umfasst verschiedene Komponenten unterschiedlicher Aspekte wie Planung, Entscheidung und Ausführung einer Handlung. Vgl. dazu N. Birbaumer/ R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, S. 272 und
S. 526.
[26] Vgl. B. Libet, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity, S. 636.
[27] P. Haggard/ M. Eimer, On the relation between brain potentials and the awareness
of voluntary movements.
[28] Hierauf wird im Folgenden nicht weiter eingegangen. Vgl. hierzu die Fachliteratur, z. B. Birbaumer/Schmidt, Biologische Psychologie.
[29] P. Haggard/ M. Eimer, On the relation between brain potentials and the awareness
of voluntary movements, S. 129.
[30] P. Haggard/ M. Eimer, On the relation between brain potentials and the awareness
of voluntary movements, S. 132.
[31] Unter naturwissenschaftlichen Methoden versteht Roth (G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156) „physikalisch-chemisch-physiologische Methoden“.
[32] Vgl. für den folgenden Absatz G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 155 f.
[33] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156.
[34] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156.
[35] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156-159.
[36] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156.
[37] Der zweite Grund ergibt sich letztlich aus dem ersten, dies wird in dem weiteren Gang der Untersuchung deutlich werden.
[38] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 139-149 sowie G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 198 und S. 204-211.
[39] Vgl. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 192.
[40] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 156-159. Vgl. auch ders., Das Gehirn uns seine Wirklichkeit, S. 193.
[41] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 157.
[42] Vgl. G. Roth, Das Gehirn uns seine Wirklichkeit, S. 192.
[43] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 158 f. und G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 193 und S. 199 f.
[44] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 160.
[45] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 160.
[46] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 160.
[47] Darunter werden diejenigen Teile der Gehirnrinde verstanden, in denen komplexe Informationsverarbeitung innerhalb eines oder verschiedener Sinnessysteme stattfindet. In früheren Definitionen wird der assoziative Kortex als der Teil des Kortex eingegrenzt, der keine direkten Eingänge aus subkortikalen Regionen hat. Dies ist nach den neuesten Forschungsergebnissen aber nicht richtig, da sogar sehr viele subkortikale Eingänge gefunden worden sind. Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 183 f. und S. 198-201.
[48] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 160.
[49] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 161 f.
[50] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 164.
[51] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 193 f.
[52] Vgl. auch G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 189.
[53] Vgl. für diesen Abschnitt G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 194-198.
[54] Vgl. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit.
[55] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 195.
[56] Vgl. zu dieser Forschungsmethode Kapitel 2.
[57] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 198.
[58] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 205 f.
[59] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 205.
[60] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 205
[61] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 205
[62] Vgl. F. Crick, Was die Seele wirklich ist.
[63] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 189.
[64] G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 189.
[65] Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 189-193.
[66] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 198-201.
[67] Dies gilt nach Roth besonders für „höhere“ Bewusstseinsformen wie Ich-Empfindung und autobiographisches Gedächtnis.
[68] Auf Begriffe wie Handlung, Verhalten und deren Abgrenzung wird weiter unten noch genauer eingegangen werden. Für Roth gibt es bei diesen Begriffen offensichtlich keine trennscharfe Differenzierung.
[69] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 200.
[70] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 200.
[71] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 183.
[72] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 202.
[73] Vgl. G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 203.
[74] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 203.
[75] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 203.
[76] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 203 f.
[77] G. Roth, Die neurobiologischen Grundlagen von Geist und Bewußtsein, S. 204.
- Arbeit zitieren
- Markus Andreas Mayer (Autor:in), 2007, Neurowissenschaften und Philosophie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77869
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