Der Aktivismus des politischen Islams führt zu einer Säkularisierung und Desakralisierung der Politik. Trotz seiner Sonderstellung als einzig erfolgreiche islamistische Revolution im Nahen Osten, sieht Roy den Plan eines Gottesstaates im Iran gescheitert.
Wie bei vielen anderen islamistischen Bewegungen hat die politische Realität über das religiöse Ideal gesiegt. Der Erfolg der Islamischen Revolution in Iran gründet sich nach Roy nicht auf einer effektiveren oder ansprechenderen religiösen Position im Vergleich zur Muslimbruderschaft oder der Jama‘at-i Islāmi, sondern zum einen auf der finanziell und politisch unabhängigen und hierarchisch aufgebauten Struktur der schiitischen Geistlichkeit. Sowie auf der festen Institutionalisierung der neuen politischen Ordnung mit einer bindenden Verfassung – ein elementarer Schritt, an dem andere Islamisten gescheitert sind.
Roy konstatiert, dass die politische Ideologie Khomeinis festgesetzt hat, was als religiös zu verstehen ist. Nicht die Religion definiert das politische System. Vielmehr wird der religiöse Raum durch die politischen Instanzen festgelegt und kontrolliert.
Die vorliegende Arbeit bietet eine Darstellung und Analyse der Theorie von Olivier Roy, der die Islamische Revolution 1979 als einzig erfolgreiche politisch-islamistische Bewegung präsentiert, sie jedoch religiös-ideologisch wie jede andere islamistische Bewegung als gescheitert ansieht. Gemäß der thematischen Ausrichtung der Royschen Argumentation auf die Ideologiekritik, fokussiert der überwiegende Teil dieser Arbeit auf die Gegenüberstellung des ideologischen Anspruchs des Islamismus im Iran mit der faktischen Umsetzung seiner Aussagen in der Realpolitik.
Es wird am Ende geschlussfolgert, dass Roys Ansatz eine differenzierte Perspektive auf die Islamische Republik Iran bietet. Die den politischen und gesellschaftlichen Umständen Irans angepasste Definition von „secularisation“ eröffnet interessante Möglichkeiten zur weiteren Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Religion und Politik im heutigen Iran.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Terminologische Erläuterungen
2.1. Säkularisierung – Säkularisation in geopolitischer Perspektive
2.1.1. Deutschland
2.1.2. Frankreich
2.1.3. Türkei
2.1.4. Säkularisierung nach Olivier Roy
2.2. Islamismus –Neofundamentalismus
2.2.1. Islamismus in wissenschaftlicher Rezeption
2.2.2. Dualistische Begriffsbestimmung nach Olivier Roy
2.2.2.1. Islamismus – Streben nach einem islamischen Staat
2.2.2.2. Neofundamentalismus – Die Abkehr von der politischen Ideologie
3. Das Scheitern des Islamismus
3.1. Die Nationalisierung des Islamismus
3.2. Staatliche Re-Islamisierung
4. Die Entwicklung der iranischen Geistlichkeit und ihre Beziehung zum Staat
4.1. Staatliche Etablierung des Schiitentums in Iran
4.2. Problematik der schiitisch-religiösen Legitimität
4.3. Die Vertiefung des Schiitentums im Iran durch Muhammad Baqir Majlisi
4.4. Die Unabhängigkeit des iranischen Klerus
4.5. Der Sieg der Usūlī und Anwendung von Ijtihād
4.6. Die Übertragung des Imamats auf die Geistlichkeit
4.7. Die Hierarchisierung der schiitischen Geistlichkeit
4.8. Ansätze zu einer klerikalen Herrschaft vor Khomeini
5. Von mystischer Abstinenz zur Herrschaft der Rechtsgelehrten – Die Entwicklung der politischen Theorie Khomeinis
5.1. Einstellung zur Politik bis zum Beginn der Pahlavi Dynastie
5.2. Khomeinis Schrift „Kashf al-Asrār“
5.3. Die velāyat-i faqīh (Herrschaft der Rechtsgelehrten)
5.3.1. Die Periode der Resignation Khomeinis im Exil bis 1970
5.3.2. Die velāyat-i faqīh aus Khomeinis Vorlesung Íukūmat-i Islāmī („der Islamische Staat“)
5.3.3. Die Notwendigkeit eines islamischen Staates
5.3.4. Die internationalen Ambitionen der Revolution
5.3.5. Die Qualifikation des Staatsführers
5.3.6. Die Reaktionen auf die velāyat-i faqīh
5.4. Khomeini im Pariser Exil
5.4.1. Entwicklungen im Iran zwischen 1971 und 1978
5.4.2. Politische Äußerungen Khomeinis in Paris
6. Weitere Ansätze zur Beziehung von Staat und Politik im Iran
6.1. Dr. Ali Shariati
6.1.1. Sozialismus und Revolution
6.1.2. Shariatis islamische Regierungsform
6.1.3. Shariatis Einstellung zur schiitischen Geistlichkeit
6.1.4. Das Erbe Shariatis in Iran
6.2. Abdu’l-Hasan Bani-Sadr
6.3. Abdu’l-Karim Soroush
6.3.1. Soroushs Verständnis von Religion
6.3.2. Die Rolle der Geistlichkeit
6.3.3. Die Ent-Ideologisierung der Religion
6.3.4. Die Rolle der Säkularisierung in der Moderne
6.3.5. Der religiöse demokratische Staat versus velāyat-i faqīh
7. Der iranische Islamismus – Säkularisierung zwischen Erfolg und Scheitern
7.1. Differenzierte Darstellung des klerikalen Faktors im Iran
7.2. Die Rolle der Scharia
7.3. Politische Konsolidierung der khomeinistischen Ideologie
7.4. Der Primat der Politik über der Religion als Wegbereiter für eine neue Säkularität
8. Die „besondere“ Säkularisierung?
Literaturverzeichnis
„Unser Streit geht nicht um Gott. Schlagt euch das aus dem Kopf. Es geht auch nicht um den Islam. Das ist Unsinn, mich könnt ihr damit nicht täuschen. Mir selbst und euch allen geht es um die eigene Person, jeder von uns will die Macht, die ganze Macht.“ [1]
- Ayatollah Khomeini -
1. Einleitung
Die oben zitierte Aussage Khomeinis in der Periode des Zwistes mit dem ersten Staatspräsidenten der neu gegründeten Islamischen Republik Iran Abdu’l-Hasan Bani-Sadr[2] im Jahre 1980 sollte angesichts des Selbstverständnisses des neuen politischen Systems überraschen. Die Verfassung der Islamischen Republik versteht den Revolutionsführer als den Statthalter des Verborgenen Zwölften Imams[3], mit dem die Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens auf der Erde beginnen werde. Somit dient die islamische Staatsform nicht primär ihrem Selbstzweck, sondern ist eng verbunden mit dem Schutz der Gläubigen vor dem weltlichen Verderben und der Hinführung zu Gott sowie einer Heilserwartung.[4] Khomeini selbst beschrieb den islamischen Staat als ein politisches System, in dem allein der Wille Gottes ausgeführt werde.[5] Demnach scheint der Begriff „Gottesstaat“ als korrekte Bezeichnung des post-revolutionären Irans annehmbar zu sein. Die Scharia, überliefert aus dem Koran und der Sunna, soll das Handeln des Staates leiten[6], nicht umgekehrt. Der Revolutionsführer dient nur als Vertreter des Verborgenen Imams und ist in dessen Abwesenheit für die Leitung der umma verantwortlich. Khomeini nannte dieses theologische Prinzip velāyat-i faqīh, die Herrschaft des Rechtsgelehrten[7], wo die höchsten Juristen des islamischen Rechts die politische Macht in ihren Händen halten, um islamische Werte und Moral in der Gesellschaft zu festigen und den Menschen ein gottgerechtes Leben zu ermöglichen; um (islamisches) Recht von Unrecht zu trennen[8].
Im Lichte dieser Selbstdarstellung stellt Olivier Roy[9] in seinem Buch über das Scheitern des politischen Islams[10] eine herausfordernde These auf: Der Aktivismus des politischen Islams führt zu einer Säkularisierung und Desakralisierung der Politik. Trotz seiner Sonderstellung als einzig erfolgreiche islamistische Revolution im Nahen Osten, sieht Roy den Plan eines Gottesstaates im Iran gescheitert. Wie bei vielen anderen islamistischen Bewegungen hat die politische Realität über das religiöse Ideal gesiegt. Der Erfolg der Islamischen Revolution in Iran gründet sich nach Roy nicht auf einer effektiveren bzw. ansprechenderen religiösen Position im Vergleich zu den Muslimbruderschaft oder der Jama ‘at-i Isl āmi, sondern zum einen auf der finanziell und politisch unabhängigen und hierarchisch aufgebauten Struktur der schiitischen Geistlichkeit sowie auf der festen Institutionalisierung der neuen politischen Ordnung mit einer bindenden Verfassung – ein elementarer Schritt, an dem andere Islamisten gescheitert sind.[11] Roy konstatiert, dass die politische Ideologie Khomeinis festgesetzt hat, was als religiös zu verstehen ist. Nicht die Religion definiert das politische System. Vielmehr wird der religiöse Raum durch die politischen Instanzen festgelegt und kontrolliert.
Roy argumentiert, dass Khomeini und seine Erben ein politisches System etabliert haben, in dem weder die Religion die Richtlinie der Politik bestimmt noch wo es eine Trennung zwischen Staat und Religion im laizistischen Sinne als eine religionsfeindliche Einstellung gibt. Eine Säkularisierung findet insofern statt, dass die politische Realität die ideellen Vorstellungen eines Gottesstaates, der über ein einheitlich gesinntes Volk herrscht, überschattet. Die religiösen Aspekte des Staates haben nur noch symbolischen, repräsentativen und legitimierenden Charakter. Die Religion wird von der innerstaatlichen Realpolitik marginalisiert, dezimiert und isoliert, gerade weil sie auf alle (auch rein profanen) Bereiche der Politik ausgedehnt, überdehnt und somit verwässert wird. Säkularisierung im Iran ist für Roy eng verbunden mit einer Desakralisierung der politischen Institutionen. Die religiösen Werte und Ideale der Revolution und ihre anfangs internationale und pan-islamische Perspektive verlieren an Bedeutung. Nicht die Ausweitung der Revolution, trotz anfänglicher Begeisterung für sie, und nicht die volle Implementierung des islamischen Rechts haben Vorrang, sondern Staatsräson sowie das Wohl und der Erhalt des Staates. Die Islamische Republik politisiert und nationalisiert sich.
Die vorliegende Arbeit bietet eine Darstellung und Analyse der Theorie von Olivier Roy, der die Islamische Revolution 1979 als einzig erfolgreiche politisch-islamistische Bewegung präsentiert, sie jedoch religiös-ideologisch wie jede andere islamistische Bewegung als gescheitert ansieht. Gemäß der thematischen Ausrichtung der Royschen Argumentation auf die Ideologiekritik fokussiert der überwiegende Teil dieser Arbeit auf die Gegenüberstellung des ideologischen Anspruchs des Islamismus im Iran mit der faktischen Umsetzung seiner Aussagen in der Realpolitik.
Im Folgenden wird Roys Argumentation im Detail veranschaulicht. Dazu ist ein differenziertes Verständnis von seiner Säkularisierungstheorie notwendig. Weiterhin wird seine terminologische Unterscheidung zwischen „Islamisten“ und „Neofundamentalisten“ erklärt, da sie zum Verständnis seiner Theorie grundlegend wichtig ist. Darauf folgt eine Darstellung des Schiitentums in dessen Beziehung zur Politik ab dem 18./19. Jahrhundert bis kurz vor der Revolution. Es wird sich zeigen, dass sich mit Khomeinis Prinzip des velāyat-i faqīh, die er trotz heftiger Kritik staatsideologisch durchgesetzt hat, eine bemerkenswerte Wandlung in der theologischen Position zur politischen Partizipation im Iran vollzogen hat. An jener Stelle soll auch auf andere iranische Geistliche, Intellektuelle und Politiker eingegangen und ihre politischen Ideen im Kontrast zu Khomeinis Doktrin der velāyat-i faqīh erörtert werden. Hierzu gehören, in einer sicherlich nicht erschöpften Auswahl, der bekannte Vertreter eines sozialistischen und ideologisierten Schiitentums Ali Shariati, der erste Staatspräsident Abdu’l-Hasan Bani-Sadr, und der Philosoph Abdu’l-Karim Soroush.
Der letzte Teil konzentriert sich erneut auf die These Roys und untersucht diese im Hinblick auf die Frage nach der Beziehung zwischen Religion und Politik im Staatssystem Irans. Welcher Teil dominiert und bestimmt den anderen? Wo kann man dezidiert religiöse Aspekte im politischen System Irans erkennen? Es wird am Ende geschlussfolgert, dass Roys Ansatz eine differenzierte Perspektive auf die Islamische Republik Iran bietet. Die den politischen und gesellschaftlichen Umständen Irans angepasste Definition von „secularisation“ eröffnet interessante Möglichkeiten zur weiteren Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Religion und Politik im heutigen Iran, wo Khomeini den 1. April 1979, der offizielle Gründungstag der Islamischen Republik, „zum ersten Tag der Herrschaft Gottes auf Erden“[12] deklarierte. Gegen die meist vorschnelle Übernahme des khomeinistischen Selbstverständnisses eines Gottesstaates kann Roys Ansatz eine angemessene und besonders genaue Analyse der realen Position der Religion im politischen System der Islamischen Republik liefern. Unabhängig davon, ob man seine Säkularisierungsthese annimmt, kann Roy überzeugende Argumente für den überwiegend säkular-politischen Charakter des heutigen iranischen Staates vorbringen.
Um eine einheitliche Schreibweise der arabischen und persischen Wörter zu gewährleisten wird in der Arbeit das Transliterationssystem der Library of Congress verwendet. Ausnahmen gelten für jene Begriffe, die eine häufigere Verwendung in der deutschen Sprache finden (z.B. Koran, Scharia usw.) sowie für arabische und iranische Namen, um eine einfache Lesbarkeit zu garantieren.
2. Terminologische Erläuterungen
2.1. Säkularisierung – Säkularisation in geopolitischer Perspektive
In seiner Theorie verwendet Olivier Roy den Terminus „sécularisation“[13], der in der englischen Fassung seiner Werke mit „secularisation“ übersetzt wurde[14]. Im Deutschen findet sich in „Säkularisation“, trotz der Ähnlichkeit im Wortklang, nicht das Pendant zu „secularisation“. Die Säkularisation markiert einen langwierigen historischen Prozess[15] der Enteignung von Ländereien, Klöstern und Gütern aus den Händen der Kirche durch die weltliche Obrigkeit zur Verwendung für profane Zwecke.[16] Sie war kein einmaliger, punktueller Vorgang, sondern setzte bereits im Mittelalter ein.[17] Als umfassendste Säkularisation gilt der Reichsdeputationshauptschluss aus dem Jahre 1803 nach den militärischen Erfolgen Napoléon Bonapartes. Sie erfasste die linksrheinischen Gebiete deutscher Fürsten, die Napoléon militärisch bezwungen hatte.[18] Als Entschädigung wurde 1803 beschlossen, dass die betroffenen Fürsten sich im Gegenzug die kirchlichen Besitztümer, kirchliche Reichstände und Reichsstädte, aneignen konnten. Die immensen Verluste an Land und Vermögen verringerten die politischen Einflussmöglichkeiten der katholischen Kirche enorm. Für die Unterstützer der Aufklärung sowie für das entstehende Bürgertum bedeutete die Säkularisation eine ideologische und sozioökonomische Stärkung.
Die Säkularisierung im hier relevanten soziologischen Sinne hingegen drückt einen langwierigen gesellschaftlichen Prozess der geistigen[19] Entkopplung von der Institution Kirche aus und ist in Deutschland mit der Zeit der Napoleonischen Kriege und der Aufklärung verbunden, in der die Intellektualisierung und Rationalisierung des menschlichen Wissens die religiösen Deutungsansätze der Kirche an den Rand gedrängt haben[20]. Der Begriff beschreibt einen lang andauernden sozialen Wandel und ist multidimensional.[21] In diesem Wandel vollzieht sich eine Verselbständigung des gesellschaftlichen Lebens vom kirchlichen Wirkungskreis, der sich auf eine private Ebene zurückgezogen hat.[22] Max Weber formulierte dies als die „Entzauberung der Welt“, wo es prinzipiell keine geheimnisvollen und unergründlichen Kräfte gibt, die über einer sachlichen und wissenschaftlichen Erklärung stehen.[23] Die Säkularisierung ist geschichtlich eng verknüpft mit den Folgen der Säkularisation womit beide Begriffe nicht vollständig voneinander zu trennen sind, und weshalb letztere auch als Teil des ersten verstanden wird.[24]
Aus politischer Sicht von elementarer Bedeutung stellt die Säkularisierung die ideologische und institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion dar. Mit der wirtschaftlichen und politischen Schwächung der Kirche nahmen die weltlichen Könige und Fürsten als Vorläufer des modernen Staates eine unangefochtene Machtposition an. Der Staat wurde zum politischen Souverän über das Herrschaftsgebiet[25]. Die Umsetzung der politischen Säkularisierung hat in der Gegenwart zu verschiedenen Modellen mit unterschiedlichen Beziehungsweisen zwischen Staat und Religion geführt.
2.1.1. Deutschland
In Deutschland enthält sich der Staat weitestgehend der inhaltlichen Bewertung von Religion. Art. 4, Satz 1 und 2 des Grundgesetzes behandeln die Religionsfreiheit neben der Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit. Diese ist nicht durch einen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt. Das bedeutet zum einen, dass der Staat keine eigenständige Definitionsmacht über einen Glaubensgrundsatz (forum internum) und die religiöse Praxis (forum externum)[26] hat. Daraus ergibt sich ein sehr weiter Schutzbereich für die Religionsfreiheit, indem der Staat einerseits vom religiösen Selbstverständnis des Einzelnen ausgeht, der sein Verhalten oder seine Weltanschauung als religiös einstuft. Andererseits darf der Staat die Religionsfreiheit nicht durch eine einfache (nicht verfassungsrechtliche) Norm einschränken, sondern nur über verfassungsimmanentes Recht oder kollidierendes Verfassungsrecht. Demnach schütze Art. 4 GG den Einzelnen, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“[27]. So hat sich in der Rechtswissenschaft die Meinung entwickelt, dass grundsätzlich alles als Religion gelten könne, was dem religiösen Selbstverständnis des Grundrechtssubjektes entspricht.[28]
Das nahe liegende Problem einer solch weiten Expandierung der Religionsfreiheit ist jedoch seine rechtspraktische Anwendung. Die Gefahr liegt in einer inflationären Berufung auf die Religionsfreiheit als Kultusfreiheit, deren Kontrolle hohe verfassungsrechtliche Hürden gelegt sind. Der Einzelne könnte jedes Verhalten als religiös definieren und sich einer eventuell notwendigen Kontrolle des Staates, insbesondere im Strafrecht, entziehen, da dieser sich zum Thema Religion verfassungsgemäß zur Neutralität verpflichtet und die Religionsfreiheit im hohen Maße schützt. Das Bundesverfassungsgericht behalf sich zur Lösung dieses grundrechtlichen Problems mit einer engen Verknüpfung des Prinzips des Selbstverständnisses des individuellen Grundrechtssubjektes an eine Religionsgemeinschaft. Als Bedingung, dass ein Verhalten grundrechtlich als religiös gelten kann, muß dieser Akt von einer Gemeinschaft von Gläubigen akzeptiert werden.[29] Damit ist die Beziehung zwischen Staat und Religion in Deutschland eine überwiegend organisatorische Angelegenheit ohne direkte inhaltliche Auseinandersetzung des Staates mit den Lehren oder Praktiken der Religion. Diese soll von der Kongregation der Gläubigen selbst bestimmt werden.[30] Ist eine starke institutionelle Verwurzelung der Religionsgemeinschaften in Deutschland vorhanden, gilt der weite Schutzbereich des Art. 4 GG als am besten anwendbar. So gewährt der Staat Religionsgemeinschaften bei einer festen organisatorischen Struktur und einer stabilen Mitgliederzahl als Beleg ihrer fortdauernden Beständigkeit im Bundesgebiet den Status der Körperschaft des Öffentlichen Rechts, gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung. Daraus ergeben sich organisatorische Vorteile, insbesondere für die Einnahmen von religiösen Abgaben (Kirchensteuer), der rechtlichen Selbstverwaltung (Kirchenrecht), für die Entlohnung des religiösen Personals und die religiöse Erziehung an staatlichen Schulen.[31]
2.1.2. Frankreich
Das französische System ist vom laizistischen Ideal durchdrungen. Der Begriff des Laizismus als eine Ausprägung des ideologischen Säkularismus[32] entsprang der politischen Programmatik der Französischen Revolution. Er ist als politische Ideologie der Religion feindlich eingestellt, deutlich anti-kirchlich und sucht diese komplett aus der gesellschaftspolitischen Arena zu verdrängen. Religion darf demnach in keiner Art und Weise in die Belange des Staates eingreifen können. Als Ideologie will der Laizismus nicht nur die wirtschaftliche Vormachtstellung der Kirche beenden, sondern ihren kulturpolitischen Einfluss auf die Bevölkerung, wie u.a. in der Erziehung, ausschalten.[33] Positiv-rechtlich fand die grundsätzlich strikte Trennung zwischen Staat und Religion in dem Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat vom 09.12.1905 ihre Geltung[34]. Als juristische Leitnorm hat sie auch gegenwärtig Einfluss auf die rechtlich-politische Beziehung zwischen Staat und Religion in Frankreich. Somit gibt es grundsätzlich und in den meisten Fällen keine staatlichen Zuschüsse oder organisatorische Unterstützung für Religionsgemeinschaften, die zwar akzeptiert und nicht verfolgt werden, aber mit keinem öffentlichen Amt ideologisch, politisch oder organisatorisch in Verbindung stehen dürfen. An staatlichen Schulen dürfen keine religiösen Symbole gleich welcher Religion getragen werden.[35] Die Religion wird zu einer komplett privaten Einrichtung[36]. Sie soll aus dem öffentlichen Raum, der „äußeren Welt“, verbannt und zu einer inneren Angelegenheit werden.[37]
Nach Chandran Kukathas ist diese Praxis einer „politics of indifference“[38] des politischen Liberalismus vergleichbar, wo sich der Staat vollkommen aus den Belangen der Religionen heraushält. Er erkennt weder Religionen an noch verbietet er sie. Er gewährt die individuelle Glaubensfreiheit, die freie Artikulierung des Glaubens und die Ausübungsfreiheit. Er greift nur bei der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit als Garant des Schutzes der Bürger ein.[39] Als Gewissensfreiheit schützt das Trennungsgesetz von 1905 die inneren Glaubensüberzeugungen des Einzelnen. Organisatorisch und institutionell nimmt der Staat jedoch von der Kirche in der Regel keine Kenntnis. Den Religionsgemeinschaften wird ein Selbstverwaltungsrecht eingeräumt, um ihre internen Angelegenheiten zu klären und ihren Kultus auszuüben[40]. Ausnahmen bilden die drei östlichen Elsass- und Mosel-Départements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle, wo das Konkordat der katholischen Kirche von 15.01.1801 und die Organischen Artikel für den katholischen Gottesdienst vom 08.04.1802 gelten. Auch werden in Französisch Guayana die katholischen Geistlichen vom französischen Staat bezahlt, und im staatlichen Fernsehen sind Übertragungen von christlichen Zeremonien ebenfalls gestattet.[41] Vom streng anti-religiösen Laizismus muss hier der juristisch-politische Begriff der Laizität abgegrenzt werden. Laizität drückt die oben erwähnte indifferente Haltung des Staates gegenüber der Religion aus, ohne sie zu bekämpfen. Als staatliches Organisationsprinzip bleibt der Laizität praktizierende Staat gegenüber der Religion unparteiisch[42] und verpflichtet sich zu einer positiven Neutralität (neutralité positive). [43]
Es wäre somit irreführend zu schlussfolgern, dass Frankreich in der politischen Praxis ein religionsfeindlicher Staat sei. Akkurater ist die Formulierung, dass die inhaltliche und institutionelle Entkoppelung des Staates von der Religion sehr stark vollzogen ist, wohingegen es in Deutschland eine engere organisatorische (wenn auch keine inhaltliche) Beziehung zwischen Staat und Kirche existiert.
2.1.3. Türkei
In der Türkei gilt der Laizismus (türkisch: laiklik) als eines der fundamentalen Säulen des politischen Systems. Artikel 2 der türkischen Verfassung (türkisch: Anayasa) definiert die Türkei u.a. ausdrücklich als laizistischen Rechtsstaat. In Artikel 24 wird die Religionsfreiheit unter einem konstitutionellen Gesetzesvorbehalt in Verbindung mit Artikel 14 gewährt. Dies bedeutet, dass die Freiheit der Religionsausübung gewährleistet ist, solange die verfassungsmäßigen Prinzipien und das laizistische Ideal nicht angegriffen werden.[44] Religiöse Symbole (Trachten, Schleier, Kreuze etc.) sind in öffentlichen Einrichtungen, u.a. auch an Schulen und Universitäten, verboten. Der türkische Staat übernimmt nach Artikel 24 der Verfassung mit dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten[45] eine leitende und kontrollierende Funktion in der gesellschaftlichen Vermittlung von Religion sowie in der religiösen Erziehung an staatlichen Schulen.[46] Anders als in Frankreich wird im türkischen System eine größere Notwendigkeit zur direkten Kontrolle der religiösen Aktivitäten durch den Staat gesehen. Günther Seufert sieht den Grund dafür nicht nur in einer größeren gesellschaftlichen Rolle der Religion in der Türkei, sondern auch in der zentralen Position des Staates, der als personifizierte Autorität das dominanteste gesellschaftliche Teilsystem darstelle.[47] Zudem verstehe sich der türkische Laizismus ebenfalls nicht als religionsfeindlich sondern vielmehr als religionskontrollierend.[48] Der Islam werde als kultureller Marker und kulturelles Erbe in die Volksidentität des Türkentums integriert. Seufert argumentiert, dass der türkische Laizismus seine Nation als muslimisch definiert, ohne die theologischen und sozialen Dimensionen des Islams zu übernehmen.[49] Binnaz Toprak betrachtet die kemalistische Neuordnung der Türkei nach laizistischem Prinzip als eine ideologische und politische Marginalisierung des Islams, um eine Verwestlichung des Staates vorzunehmen. So wurden 1924 das ehemalige osmanische Amt des Şeyhül-Islam und das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten und Fromme Stiftungen (Şeriye ve Evkaf Vekâleti) abgeschafft und durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten, das direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, ersetzt.[50] Die institutionelle und funktionale Verflechtung von Staat und Religion (din ve devlet) aus dem Osmanischen Reich wurde aufgelöst.[51] Politische Legitimation der Macht war somit nicht der göttliche Wille sondern die nationale Souveränität.[52]
Četin Özek definiert die Türkei dementsprechend als einen säkularen Staat, da er sich nicht an religiösen Prinzipien orientiert.[53] Nach Toprak darf, laut dem kemalistischen Prinzip, der Islam in der türkischen Gesellschaft nicht als eine alternative politische (Staats-)Ideologie zur Verfügung stehen und muss vom laizistischen Staat kontrolliert werden. Um eine politische Neuorientierung hin zum Westen erfolgreich durchzusetzen bedarf es demnach eines kritischen Umgangs mit dem traditionellen islamischen Erbe des Osmanischen Reiches, von dem sich der kemalistische Staat komplett zu lösen hat.[54] Toprak begründet damit die besondere Betonung der „symbolischen Säkularisierung“ (symbolic secularisation) neben der institutionellen und funktionalen Säkularisierung, um eine nicht-islamische türkische Kultur als Staatszielprinzip einzuführen und zu fördern.[55]
In der Staatspraxis beider Länder kann man nicht von einer feindlichen Haltung gegenüber der Religion sprechen. Somit muss der ideologische Laizismus, der in Theorie religionsfeindlich ist, von der praktizierten, in den Staatsrechtsordnungen beider Länder verankerten Laizität unterschieden werden. Letztere drückt sich in Frankreich und der Türkei durch eine Skepsis gegenüber der gesellschaftspolitischen Rolle der Religion aus. Im ideologischen und politischen Bereich ist die Religion ebenfalls marginalisiert. Jedoch findet die Religion durch Freiheitsnormen der Religions- und Gewissensfreiheit ihre individual- und gemeinschaftsrechtliche Anerkennung. Während sich das französische System grundsätzlich indifferent gegenüber der Religion zeigt, greift der türkische Staat stark kontrollierend in die Angelegenheiten der Religion ein.
2.1.4. Säkularisierung nach Olivier Roy
Es steht nun zur Debatte, wie Roy „secularisation“ definiert und in Verbindung mit dem Aktivismus des politischen Islams bringt. Ein Anhaltspunkt ergibt sich in seiner sozio-politischen und geschichtlichen Differenzierung zwischen der „secularisation“ in Europa und im Nahen Osten. Roy charakterisiert hier „secularisation“ als ein Ereignis der Entmachtung der Kirche aus ihrer ideologischen Dominanz heraus.[56] Er vergleicht diese Einschätzung mit der ideologischen und politischen Lage der Religion in den nahöstlichen Staaten und argumentiert, dass die Religion dort aus ihrer marginalisierten Position[57] gegenüber dem Staat sich zu lösen versucht. Demnach fand „secularisation“ in Europa aufgrund der politischen und ideologischen Vormachtstellung der Religion statt. Im Nahen Osten ereignet sie sich aufgrund der Schwäche der Religion gegenüber den staatlichen (meist säkularen) Machthabern.
In der deutschen Fassung[58] wird der Begriff mit „Säkularisierung“ übersetzt. Auch wenn, wie schon oben erwähnt, das Ereignis der Säkularisation die prozessuale Säkularisierung beeinflusst hat, kann man an dem Begriff „Säkularisierung“ festhalten, zumal Roy die ideologische Dominanz der Religion in Europa als Grund des Säkularisierungsprozesses hervorhebt. In der Gegenüberstellung des Säkularisationsprozesses in Europa und der Behauptung einer de facto Säkularisierung in der muslimischen Welt sieht Roy das Originäre der letzteren. Die Säkularisierung der muslimischen Gesellschaft enthält nicht den Schritt der Entmachtung der einflussreichen Institution Kirche durch die Säkularisation, da der Islam von den überwiegend säkularen und in ihrer Struktur modernen und verwestlichten Nationalstaaten politisch und ideologisch marginalisiert worden ist. Nach Roy wird die Religion im Gegensatz zur europäischen Geschichte von der Dominanz der Politik befreit, anstatt dass sich die Politik von dem gewichtigen Einfluss der Religion loslösen müsste.[59]
Aus diesem Grund muss nach Roy von Erwartungen einer zwangsläufigen politischen und religiösen Liberalisierung nach europäischen Muster abgesehen werden. Zwar sei diese nicht auszuschließen wenn man sich die politischen Theorien von Abdu’l-Karim Soroush betrachtet, jedoch könnte die Folge auch eine stärkere religiöse Radikalisierung sein.[60]
Die Perspektive Roys konzentriert sich hier insbesondere auf die gesellschaftlichen Kräfte in muslimischen Gesellschaften und sieht skeptisch auf Thesen, die den Islam als nicht modernisierbar bzw. zu liberalisieren darstellen.[61] Roy kritisiert kulturalistische Aussagen[62] über den Islam als ein homogenes, in sich geschlossenes Phänomen, das als alleiniger Grund für komplexe gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Probleme dienen soll.[63] Auch distanziert er sich von theologischen Auslegungen des Korans und der Sunna. Roy betont, dass sein Forschungsschwerpunkt auf der Erforschung der Muslime und ihrer Auswahl und Interpretation der ihnen zu Verfügung stehenden Quellen liegt[64]. Eine „Unfähigkeit“ zur Säkularisierung aufgrund des Einfluss der theologischen Dogmas des Islams gibt es nach Roy nicht. Im Gegensatz dazu steht die These von Peter Blickle und Rudolf Schlögl, die keine Säkularisierung in der muslimischen Welt erkennen und dies auf die religiösen Grundlehren der Allmacht Gottes und auf das Fehlen des „Dualismus von Geistlichen und Profanen“ zurückführen.[65] Diese These vertritt auch Bernhard Lewis, der in der Geschichte sowie im theoretischen Gerüst des Islams keine Trennung von Staat und Religion sieht.[66]
2.2. Islamismus –Neofundamentalismus
2.2.1. Islamismus in wissenschaftlicher Rezeption
Der Begriff “Islamismus” ist bei einer wissenschaftlich-objektiven Herangehensweise herausfordernd, da er ein weites Spektrum an Bewegungen von muslimischen Gruppen und Individuen zu umfassen scheint. Die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung zum Zwecke einer angemessenen Terminologie zeigt der Politikwissenschaftler Sebastian Kohn anhand seiner Studie über „Islamophobia“ im Internet.[67] Kohn analysiert u.a. die Internetpräsenz von Daniel Pipes[68] kritisch und argumentiert, dass Pipes eine absichtlich vage, einseitige und undifferenzierte Darstellung des Islamismus betreibt. Mit seiner verzerrenden Fokussierung auf Gewalt und Militarismus, den er auf die ganzen Islamismusbewegungen projiziert, verfolgt er eine Strategie der Desinformation und der Angstschürung, um ein gefährliches Bild eines stets gewaltbereiten Islamismus zu vermitteln. Kohn wirft Pipes vor, dass er durch seinen anachronistische Darstellungsweise an dem Unwissen des Großteils der westlichen Leserschaft zum Wohle seiner eigenen Berühmtheit und zur Verbreitung seiner politischen Einstellung profitieren möchte. Kohn proklamiert als Alternative in der Beschäftigung mit Islamismus eine sachliche und an Fakten orientiere Auseinandersetzung, die darauf abzielt, Ursachen und Hintergründe zu erkennen, die er meist im sozio-ökonomischen und politischen Bereich sieht.
Das Online Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Islamismus neutraler als eine politische, meist militante Forderung nach Einführung der Scharia zur Lösung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Problemen.[69] Um eine objektivere Definition ist auch Peter Heine bemüht. Er favorisiert „Islamismus“ gegenüber „politischem Islam“, weil „Islamismus“ neben politischem Aktivismus auch die ideologisch-religiöse Dimension mit einbeziehe.[70] Daraus ergibt sich nach Heine, dass Individuen wie Ayatollah Khomeini und Gruppen wie die Muslimbrüder mit einem islamischen Staatsziel genauso als Islamisten verstanden werden könnten wie „radikalere“ Splittergruppen, die sich z.B. von den Muslimbrüdern losgelöst und die Idee eines islamischen Staates aufgegeben haben. Für sie ist schon die Idee eines Staates nicht mit den Prinzipien des Islams vereinbar. Der Staat gilt als eine nicht-islamische, westliche Erfindung und ist deshalb abzulehnen.[71]
Gilles Kepel deutet bei seiner Beschreibung des Islamismus auf eine feine inhaltliche Differenzierung zwischen den islamistischen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre (Khomeini, Muslimbrüder, Islamische Heilsfront in Algerien) und dem was er als den „extremistischen“, radikalen Flügel des Islamismus ansieht.[72] Die Perspektive Kepels ist stärker auf die gesellschaftlichen Akteure statt, wie bei Roy, auf das ideologische Programm ausgerichtet. Er legt sein Augenmerk mehr auf die Frage, welche Teile der Gesellschaft aus welchem Grund heraus sich politisch engagieren. Nach Udo Steinberg erweist die politische Programmatik für Kepel als sekundär, der die temporäre und brüchige Allianz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen mit stark entgegen gesetzten Interessen in den Mittelpunkt seiner Analyse des Islamismus stellt.[73]
Robert Richert hingegen differenziert in Anbetracht der terminologischen Frage zwischen „Islamismus“ und „Fundamentalismus“. Für Richert liegt der ausschlaggebende Unterschied in der Akzentuierung des islamischen Fundamentalisten als homo religiosus [74], d.h. in der Ausweitung der religiösen Lehren auf alle Lebensbereiche . Der politische Islamist ist ein homo politicus, der religiöse Mittel für seine politischen Ziele einsetzt.[75] Ein islamischer Fundamentalist strebt nach der Gottesherrschaft, ein politischer Islamist nach der Herrschaft der geistlichen Elite.[76] Nach Richert streben beide Gruppen nach politischer Machtausübung, jedoch aus verschiedenen Motiven heraus. Beide lehnen den säkularen Nationalstaat ab, da sie diesen als eine westliche Importierung empfinden und stattdessen ein religiös legitimiertes politisches System propagieren. Nur solch ein politisches Gefüge ist für eine muslimische Gesellschaft akzeptabel, da es von nicht-islamischen Einflüssen wie Demokratie[77] und Säkularisierung frei und autochthon islamisch ist.
Schließlich soll hier noch ein weiterer, durchaus interessanter Ansatz von Sabine Riedel betrachtet werden. Sie nimmt die Trennung zwischen Fundamentalisten und Islamisten an der Bruchstelle zwischen Schiitentum und Sunnitentum vor. Die sunnitische Theologie orientiert sich neben dem Koran auch an der Überlieferung (Îadith) und der Lebensweise des Propheten (sunna) über eine korrekte Überlieferungskette (isn ād). Daraus hat sich eine besonders buchstabentreue Auslegung der Scharia, für die neben dem Koran meist nur mittelalterliche Quellen akzeptiert wurden.[78] Dagegen hatten im schiitischen Islam im stärkeren Ausmaß Rechtsschulen überlebt, die eine inhaltliche Formbarkeit religiöser Quellen akzeptieren und die Analogie (qiy ās), den Gelehrtenkonsens (ijma ‘ a), und die eigenständige Bemühungen bei der Auslegung von Rechtsangelegenheiten (ijtih ād) erlauben. Demnach dürfen bei der Auslegung religiöser Quellen auch rationale Methoden (‘aql) angewendet werden.[79] Riedel schlussfolgert daraus, dass die schiitischen Theologie flexibler auf kontextuelle Fragen eingehen kann als ihr sunnitisches Pendant, das sich auf eine „buchstabentreue Auslegung mittelalterlicher Rechtsquellen aus der Scharia begrenzt“[80]. Mit dieser Prädisposition ist der schiitische Islam kompetenter in der Formulierung einer islamisch-politischen Ideologie als das Sunnitentum. Dies und die Hierarchisierung der schiitischen Geistlichkeit führen nach Riedel dazu, dass man schiitisches politisches Auftreten nicht als Fundamentalismus sondern als Islamismus definieren muss. Im politisierten Schiitentum geht es nicht um die Rückbesinnung auf die Urgemeinde Medina aus dem 7. Jahrhundert. Eine Anpassung und Neuinterpretation der religiösen Quellen des Islams an die Umstände der Zeit stehen im Vordergrund. Diese könnten auch für eine politische Ideologie instrumentalisiert werden.
Diese bescheidene Auswahl zeigt die vielfältigen Deutungsmuster für den Oberbegriff „politischer Islam“. Grundsätzlich kann man feststellen, dass viele Autoren den Begriff „Islamismus“ auf das weite Spektrum von politischen, gesellschaftlichen und ideologisch-religiösen Aktivismen von Muslimen anwenden.[81] Roy hält an der verbreiteten zweiteiligen Differenzierung zwischen „Islamisten“ und „Fundamentalisten“ grundlegend fest. Er füllt sie jedoch mit spezifischen Inhalten aus, die im folgenden Teil dargestellt werden.
2.2.2. Dualistische Begriffsbestimmung nach Olivier Roy
Ähnlich wie Richert und Riedel vertritt Olivier Roy die Ansicht, dass das Spektrum des politischen Islams nicht unter einem Begriff subsumiert werden kann.[82] Jedoch benutzt Roy mit „Islamismus“ und „Neofundamentalismus“ eine andere Terminologie und füllt seine Definition mit unterschiedlichen Inhalten aus. Ferner bringt Roy die beiden Begriffe in einen geschichtspolitischen Zusammenhang, indem die gescheiterten Islamisten sich in einigen Fällen zu Neofundamentalisten gewandelt haben. Roys Säkularisierungstheorie ist eng verzahnt mit seiner Zuordnung der muslimischen Akteure im Nahen Osten in Islamisten und Neofundamentalisten, was eine genaue Analyse seiner dualistischen Begriffsbestimmung unabdingbar macht. Da Roy die iranische Revolutionsbewegung als islamistisch definiert, wird das Hauptaugenmerk auf den Islamismus gelegt. Der Neofundamentalismus wird in Abgrenzung zum ersteren beschrieben. Er ist für Roy ideologisch anders besetzt und deswegen deutlich vom Islamismus zu trennen.
2.2.2.1. Islamismus – Streben nach einem islamischen Staat
Islam als politische Ideologie
Olivier Roy datiert die Anfänge des Islamismus auf die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Gründung der Gesellschaft der Muslimbruderschaft im Jahre 1928 durch den ägyptischen Lehrer Hassan al-Banna (1906-1949). 1941 entwickelte Abdu’l-Ala Maududi (1903-1979) in Pakistan mit der Jama ‘at-i Isl āmi [83] eine Bewegung mit vergleichbarer politischer Zielsetzung, die sich beide entlang der salafitischen[84] Lehre entwickelt und später abgekoppelt haben.[85] Analog zum salafitischen Gedankengut begrenzen die Islamisten nach Roys Definition den Korpus der akzeptablen heiligen Schriften auf Koran und Sunna. Die Rechtskommentare, die Philosophie sowie die vier Rechtsschulen (arab. ma ¿ahib: Íanbalī, Shāfi ‘ ī, Íanafī und Mālikī) werden stark kritisiert bzw. abgelehnt.[86]
Während jedoch die salafitische Theologie sich traditionalistisch der aktiven Teilnahme an der Politik enthielt[87], strebten die Islamisten nach der grundlegenden politischen Umwälzung, die der Neuinterpretation des theologischen Gedankenguts folgen muss. Im Kern des islamistischen Aktivismus steht die Etablierung eines islamischen Staates. Für Islamisten ist der Islam keine rein spirituelle Religion, sondern vielmehr eine politische Ideologie, die alle gesellschaftlichen Teilsysteme umfassen muss (Politik, Wirtschaft, Recht, Staatssystem usw.).[88] Demnach sehen Islamisten, gemäß der traditionellen islamischen Theologie[89], ihre Religion als ein allumfassendes und universales System, das keiner Modernisierung bedarf, jedoch – und hier liegt die Besonderheit – sehr gut auf die Moderne angewendet werden kann und muss. Der Ruf zur Rückkehr zum Islam ist nicht mit einer Abkehr von der Moderne verbunden. Vielmehr bedarf es der Inkorporierung der Moderne durch Islamisierung. Roy argumentiert, dass Islamisten die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft anerkennen und zum Ziel ihrer politischen Agenda machen.[90] Da sie den Islam als eine universale Ideologie betrachten, reicht es nicht aus, bei der Anwendung der Scharia stehen zubleiben. In den Augen der Islamisten kann eine Gesellschaft nur islamisiert werden, wenn ihre Staatsform wahrhaft islamisch ist. Nicht nur das Rechtsystem, sondern alle Teile der Gesellschaft müssen islamisch werden, damit die vollkomme Verankerung der Scharia möglich ist. Dazu ist sozialer und politischer Aktivismus notwendig, womit die Islamisten sich direkt am politischen Leben beteiligen, um ihre Ideale durchzusetzen.[91] Die Zielsetzung kann als eine „top-down“ Islamisierung durch Ergreifung der Staatsmacht über den revolutionären Weg gesehen werden.
Die Rolle der Scharia
Der Islam bedeutet für Islamisten nicht nur das Einhalten der religiösen Pflichten und die Praktizierung der Scharia. Vielmehr muss das politische System islamisch umgestaltet werden. Roy sagt aus, dass die Scharia für Islamisten interessanterweise eine nachgestellte Rolle in der Transformation der Gesellschaft hat, während sie aus traditioneller Sicht ein zentraler Pfeiler einer frommen islamischen Gemeinschaft ist. Als eine in der Regel antiklerikale Bewegung hat der Islamismus ein differenziertes Verständnis von der Scharia. Roy argumentiert, dass Islamisten die Staatsgründung als oberstes Ziel gesetzt haben. Obwohl die Scharia anerkannt ist, wird sie weniger als ein Rechtskodex sondern als ein Prozess betrachtet, der nur in einem islamischen Staat in Gang gesetzt werden wird. Nur in einer islamisierten Gesellschaft kann sich die Scharia entfalten, ohne sofort der Scheinheiligkeit zu verfallen. Die Scharia braucht in der Perspektive der Islamisten ein geeignetes und würdevolles Umfeld, das noch nicht existiert.[92] Sie soll in der umfassenden Islamisierung unter dem Schirm des islamischen Staates mit der Gesellschaft verschmelzen und erhält eine wesentlich breitere Bedeutung.[93] Die Praxis der rechtlichen Innovation ist in einer islamisierten Gesellschaft somit auch Bestandteil der Scharia, während sie in einem säkularen Staat, wo das islamische Recht von Geistlichen, den ‘ulama, verwaltet wird, nicht akzeptiert wird.[94]
[...]
[1] Nirumand, Bahman; Daddjou, Keywan: Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Khomeini, Reinbeck 1987, S. 320.
[2] Dieser wurde am 22.06.1981 nach einem Ausufern der Auseinandersetzungen mit Khomeini und seinen Gefolgsleuten vom Revolutionsführer abgesetzt. Siehe dazu Nirumand, Bahman; Daddjou, Keywan: Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini, Reinbeck 1987, S.324-327.
[3] Grundsatz 5 und 107 der iranischen Verfassung behandelt die Statthalterschaft. Siehe dazu: Botschaft der Islamischen Republik Iran: Die Verfassung der Islamischen Republik Iran, Bonn 1980, S. 27; Roy, Olivier: Globalised Islam. The Search for a New Ummah, London 2004, S. 84ff, zur Geschichte des Zwölften Imams siehe Hiro, Dilip: Iran under the Ayatollahs, London 1987, S. 13.
[4] Zur Notwendigkeit des islamischen Staates, siehe Ayatollah Chomeini: Der Islamische Staat, Berlin 1983, S. 46. Zur theologischen Heilserwartung siehe ders. S. 59ff, 120-125.
[5] Ders., S. 52.
[6] Ders., S. 53.
[7] Es gibt verschiedene Übersetzungen zu diesem Begriff. Das arabische Wortولاية, wilāyat, bedeutet im politischen Kontext „Herrschaft“ oder „Regierung“. Die arabischen Wurzeln des Verbs , و – ل - ي , walīya, deuten im fünften Stamm auf Übernahme der Exekutive bzw. der Macht hin. Im Vergleich zum bedeutungsähnlichen Begriff حكم, Îukm, zielt w il āyat auf eine in der Zukunft liegenden Übernahme der Herrschaft. Siehe hierzu: Majm’aa al-Logha al-Arabiya (Gesellschaft der arabischen Sprache, Hrsg.): Al-Mo'ajjam al-Wajiz, Kairo 1995, S. 682. Im Englischen wird wil āyat meist mit „government“ übersetzt. Eine religiöse Konnotation gibt der von der Wurzelوليabgeleitete Begriff وليّ, walīy wieder. Er beschreibt einen Gott ergebenen Menschen, der seine Befehle und Gesetzte stets befolgt und ausführt. Siehe hierzu: Wehr, Hans (Hrsg.): Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 1976. Um die Vertreterfunktion des faqīh, des Rechtsgelehrten, zu untermauern, wurde in Khomeinis Schrift zum islamischen Staat der Begriff velāyat mit „Statthalterschaft“ übersetzt. Siehe Chomeini, 1983, S60f. Im politischen Sinne zielt der Begriff auf eine Ausübung von politischer Macht hin.
[8] Chomeini, 1983, S.59, 66ff.
[9] Olivier Roy ist Politikwissenschaftler und Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und unterrichtet an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) und am Institut d’Etudes Politiques (IEP) in Paris. Für weitere Informationen und eine Liste seiner Publikationen siehe www.olivier-roy.com (26.01.2007).
[10] Roy, Olivier: The Failure of Political Islam, Cambridge 1994, bekräftigt in Roy, Olivier: Globalised Islam. The Search for a New Ummah, London 2004.
[11] Roy, 1994, S. 61-64. Die finanzielle Unabhängigkeit der Geistlichkeit wird durch den Primat des Staates nach der Revolution gebrochen. Roy sieht die zuvor vom Staat autonomen schiitischen Geistlichen Irans als politischer „Diener“ des revolutionären islamischen Staates.
[12] Buchta, Wilfried: Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran in: Bundeszentrale für politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2004, S.6.
[13] Siehe u.a. Roy, Olivier: L'Echec de l'Islam Politique, Paris 1992; ders.: L'Islam Mondialisé, Paris 2002.
[14] Ders.: The Failure of Political Islam, Cambridge 1994; Globalised Islam, London 2004.
[15] Wiesnet, Eugen: Säkularisierung. Pro und Contra. In: Universität Lübeck: Studien und Arbeiten der Theologischen Fakultät, Lübeck 1973, S. 11.
[16] Iseli, Andrea; Kissling Peter: Säkularisierung – Der schwierige Umgang mit einem großen Begriff. Ein Diskussionsbericht. In: Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Epfendorf 2005, S. 563ff.
[17] Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf: Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas in: Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Epfendorf 2005, S. 12.
[18] Schulze, Winfried: Die Säkularisation als Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. In: Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Epfendorf 2005, S. 339-351.
[19] Wiesnet 1973, S.12.
[20] Wiesnet 1973, S. 17. Peter Sloterdijk beschreibt einen Perspektivenwechsel im Prozess der Säkularisierung, wo die weltliche Gesellschaft das erfüllte Leben nicht mehr im Jenseits sondern im aktiven und intensiven Lebensstil im Diesseits sucht. Siehe dazu Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Band 2, Frankfurt am Main 1983, S. 522f.
[21] Jedoch bleibt der Begriff der Säkularisierung als ein gesellschaftlicher Prozess umstritten. Rodney Stark und Roger Finke sehen die Säkularisierung als Prozess nur auf einen Teil Mitteleuropas beschränkt. Zudem könne man aus den sinkenden quantitativen Werten der Religiosität, wie z.B. Kirchenbesuchen und Kirchenmitgliedschaften nicht auf eine gesellschaftliche Säkularisierung schließen. Zudem argumentiert Stark, dass in bestimmten Gebieten Europas, u.a. Nordengland, der Bau sehr kleiner Kirchen ein Indiz dafür ist, dass nicht viele Menschen an den Sonntagsbesuchen teilgenommen haben. Er versucht diese These mit schriftlichen Zeugnissen von Bischöfen über das ausschweifende Verhalten der Kirchenbesuche und die Unkenntnis von Priestern in fundamental christlich-theologischen Lehren, u.a. den Dekalog, zu untermauern. Siehe dazu Stark, Rodney; Finke, Roger: Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion, Berkeley 2000.
[22] Wiesnet 1973, S.14.
[23] Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 554.
[24] Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf: Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas in: Blickle, Peter; Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Epfendorf 2005, S. 11-17.
[25] Blicke; Schlögl 2005, S. 12.
[26] Pieroth, Bodo; Bernhard Schlink: Grundrechte. Staatsrecht II, Heidelberg 1999, S. 122.
[27] Von BVerfGE 24, 236 (245f.) [1968] bis BVerfGE 108, 282 (297) [2003].
[28] Hense, A.: Glockenläuten und Uhrenschlag, 1998, S. 198.
[29] Als Leitentscheidung gilt BVerfGE 24, 236 (246-251) [1968].
[30] Pieroth; Schlink 1999, S. 122-125, 129ff.
[31] Die Religionsfreiheit in Deutschland ist rechtshistorisch an die Grundsätze des Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung angelehnt. Daraus ergibt sich eine besondere Gewichtung der Ausdifferenzierung der Organisationsstrukturen der Religion in einer Religionsgemeinschaft mit einem festen Ansprechpartner für den Staat. Aus diesem Grunde wird der muslimischen Gemeinde in Deutschland der Körperschaftsstatus verwehrt. Der Großteil der ca. 3-4 Millionen Muslime in der Bundesrepublik ist in keiner den christlichen Großkirchen vergleichbaren Organisation vertreten. Anders verhält es sich im österreichischen Rechtssystem, wo die Muslime bei vergleichbar schwacher organisatorischer Repräsentanz gegenüber dem Staat den Körperschaftsstatus erhalten haben. In Wien wurde im Jahre 2000 ein staatliches islamisches Gymnasium eröffnet. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das durchaus interessante Thema der Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften im deutschen Recht im notwendigen Detail zu diskutieren. Für eine genauere Auseinandersetzung erwähnenswert ist die Kritik am Rechtssystem, dass die Bedingungen für die Erteilung des Körperschaftsstatus zu eng an der Organisationsstruktur der christlichen Kirchen in Deutschland angelehnt sind. Für eine sehr anschauliche und verständliche Analyse des deutschen Rechtsverständnisses der Religionsfreiheit, siehe: Lepsius, Oliver: Die Religionsfreiheit als Minderheitenrecht in Deutschland, Frankreich und den USA in: Leviathan Wiesbaden 3/2006, S. 321-349. Sehr detaillierte, rechtswissenschaftliche Darstellungen sind u.a. in zwei Grundgesetzkommentaren zu finden: Von Camphausen, Axel: Art. 140. In: von Mangold, Hermann; Klein, Friedrich; Stark, Christian (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz Band III, 5. Auflage, München 2005, S. 1907-1946, 1965-2114 und Morlog, Martin: Art. 137 WRV/Art. 140 in: Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar Band III, Tübingen 2000, S. 1280-1341.
[32] Betrachtet man den Begriff „Säkularisierung“ als wertneutrale Beobachtung der geistigen und institutionellen Lösung der Bevölkerung von der Kirche, drückt sich im Säkularismus eine intendierte Programmatik zur Verdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Raum. S. Wiesnet 1973, S. 13.
[33] Wiesnet 1973, S. 12.
[34] Leisching, Peter: Kirche und Staat in den Rechtsordnungen Europas. Ein Überblick, Freiburg 1973, S. 93; Von Camphausen, Alex Freiherr: Staat und Kirche in Frankreich, Göttingen 1962, S. 1.
[35] Ein im Februar 2004 verabschiedetes Gesetz zum Verbot von religiösen Symbolen an Schulen, empfohlen von der Kommission zur Überprüfung der Anwendung der Laizität in Frankreich (Stasi-Kommission, geführt von Bernard Stasi) zeigt die gegenwärtige Wichtigkeit des Laizitätprinzips in Frankreich. Siehe www.bbc.co.uk/dna/h2g2/A2903663 (14.02.2007).
[36] Nach Artikel 2 des Trennungsgesetzes: „Die Republik anerkennt, bezahlt und unterstützt keinen Kult“ siehe Leisching 1973., S. 93ff.
[37] Von Camphausen 1962, S. 155. Von Camphausen geht auch auf die Schwierigkeiten der kompletten gesellschaftlichen Isolierung der Religion ein. Dies führte auch zu Entstehung einer komplexen Rechtsstruktur in der Beziehung zwischen Staat und Religion in Frankreich. Maßgeblich für das französische Recht blieb die Gleichbehandlung aller Religionen ohne irgendeine Form der Privilegierung. Siehe dazu ders., S. 7-9, 36-38, 86-113, 155-159.
[38] Chandran Kukathas: Liberalism and Multiculturalism: The Politics of Indifference. In: Political Theory, 26/2006, Nr. 5, S. 686-699. Eine interessante kritische Auseinandersetzung mit Trennungsprinzip von Staat und Religion im Liberalismus bietet Ulrich Willems. Er beschäftigt sich detailliert mit der Instrumentalisierung religiöser Argumente gegen den liberalen Ruf nach einer Beschränkung auf vernunftbegründete Thesen in politischen Diskursen eines demokratischen Staates. Siehe Willems, Ulrich: Religion als Privatsache? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen Prinzip einer strikten Trennung von Politik und Religion. In: Willems, Ulrich; Minkenberg, Michael (Hrsg.): Politik und Religion, PVS Sonderheft 33/2002, Wiesbaden 2003, S. 88-115.
[39] Schon Artikel 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 besagt, dass niemand aufgrund seiner Überzeugungen, auch religiöse, verfolgt werden kann, solange deren Kundgebung die öffentliche Ordnung, die durch Gesetz etabliert wurde, nicht gefährdet. Siehe www.bbc.co.uk/dna/h2g2/A2903663 (14.02.2007).
[40] Leisching 1973, S. 94.
[41] Siehe auch: Mehl, Roger: Art. Laizismus. In: TRE 20 (1990), S. 404-409. Für eine genauere Spezifizierung der Ausnahmeregelung im französischen Gesetz siehe: Leisching 1973, S. 102-108.
[42] Aus diesem Verständnis heraus ist die schnelle Akzeptanz der Laizität durch französisch-protestantischen Gruppen plausibel. Sie erhoffte sich eine Befreiung von der Dominanz der katholischen Kirche in Frankreich. Von Camphausen 1962, S. 158ff.
[43] Ders., S. 156.
[44] Yüzbaşıoğlu, Necmi: Anayasa Hukuku, Istanbul 2007.
[45] Auf türkisch: Diyanet İşleri Başkanlığı. Siehe hierzu auch: Yüzbaşıoğlu 2007. Interessanterweise wird die verpflichtende religiöse Schulbildung Unterricht in religiöser Kultur und Moral statt Religionsunterricht genannt.
[46] Eine gute, einführende Erläuterung bietet Steinberg, Udo: Staat und Religion, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Informationen zur politischen Bildung Nr. 277 Türkei, Bonn 2002, S. 25-28.
[47] Nach Seufert ist mit der kemalistischen Neuordnung der Türkei nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches eine Akzentverschiebung weg von der muslimischen Gemeinschaft, ümmet, hin zum türkischen Volksgedanken (türk ulusu) vollzogen worden. Der Staat ist in besonders hohem Maße der Schutzgarant des türkischen Volkes und spielt im engen Sinne des Wortes eine Vaterfigur. Siehe dazu Seufert, Günter: Politischer Islam in der Türkei. Islamismus als symbolische Repräsentation einer sich modernisierenden muslimischen Gesellschaft, Istanbul 1997, S. 164ff.
[48] Zu der Thematik des Islamismus in der Türkei im Kontext der laizistischen Politik siehe Göle, Nilüfer: Authoritarian Secularism and Islamist Politics: The Case of Turkey. In: Norton, Augustus Richard (Hrsg.): Civil Society in the Middle East, Leiden 2001, S. 17-45; Ahmad, Feroz: Politics and Islam in Modern Turkey. In: Middle Eastern Studies 27/1991, S. 3-22.
[49] Seufert 1997, S.166ff. Er benutzt den Begriff „Religionsnation“, nicht „religiöse Nation“. Kennzeichnend für den türkischen Laizismus sei demnach das Primat des Türkentums. Er favorisiere den Begriff „türkische Muslime“ vor „muslimische Türken“.
[50] Für die Verwaltung der religiösen Stiftungen wurde das Amt für Fromme Stiftungen (Evkaf Umum Mürdürlüğü) geschaffen, das zwar formell unabhängig ist, aber den Hauptteil ihres Budgets von der Regierung erhält.
[51] Toprak weist jedoch darauf hin, dass mit dem Reformprogramm der Tanzimat im Osmanischen Reich zwischen 1839-1876 die ersten Bedingungen einer Säkularisierung des Rechtssystems eingeführt wurden. Das osmanische Recht wurde kodifiziert, positiviert und war dadurch klar von religiösen Normen der Scharia zu unterscheiden. Es blieb jedoch an der Scharia orientiert. Erst die kemalitische Umgestaltung des Rechtssystems hat die Scharia als geltende Rechtsquelle ausgeschlossen. Siehe Toprak, Binnaz: Islam and Political Developement in Turkey, Leiden 1981, S. 48, 52-58. Zur Periode der Tanzimat siehe Rogan, Eugene L.: The Emergence of the Middle East into the Modern State System. In: Fawcett, Louise: International Relations of the Middle East, Oxford 2006, S. 21-23.
[52] Ders., S. 46ff. Die institutionelle Säkularisierung ist in der Türkei nicht nur unter den Gegnern des laizistischen Prinzips umstritten. Auch ihre Anhänger sehen in der Intervenierung des Staates in religiöse Angelegenheiten einen Bruch mit dem laizistischen Ideal. Deswegen hat Bülent Daver die Türkei als einen semi-säkularen Staat klassifiziert. Daver, Bülent: Türkiye Cumhuriyetinde Layiklik, Ankara 1955, S. 234.
[53] Özek, Četin: Türkiyede Laiklik, Istanbul 1962, S. 163f.
[54] Toprak 1981., S. 38ff. Auch Toprak sieht im Streben der kemalitischen Elite den Wunsch nach einer nationalen Identität der Türken, die eine islamische Identität der ümmet ersetzen soll. Feroz Ahmad beschreibt in seinem Aufsatz die Schwierigkeit der Umsetzung der gesellschaftspolitischen Marginalisierung des Islams in der Türkei. Ahmad, Feroz: Politics and Islam in Modern Turkey. In: Middle Eastern Studies, Wiesbaden 27/1991, S. 3-22. Siehe auch Seufert, Günter: Café Istanbul. Alltag, Religion und Politik in der modernen Türkei, München 1997.
[55] Als wichtigste Schritte nennt Toprak die Einführung des lateinischen Alphabets 1928, dass die arabischen Buchstaben ablöste, die Auflösung des Kalifats 1924, die Annäherung an westliche Kleidungsgewohnheiten u.a. mit dem Verbot des Fez und die Übernahme des Gregorianischen Kalenders 1925, die Änderung des wöchentlichen Feiertags von Freitag auf Sonntag 1928, die Einführung von westlicher Musik in Schulen 1935, die Übernahme des metrischen Systems in Europa 1931 und die Einführung von Familiennamen 1934. Siehe ders., S. 41-45.
[56] Roy, 2004, S. 4, 91.
[57] Roy betont, dass er nicht suggerieren will, dass der Islam für die Muslime keinen Wert mehr hat. Vielmehr will er betonen, dass der Islam durch die gesellschaftlichen Teilsysteme der Politik an den Rand gedrängt wird, Roy 2004, S. 5.
[58] Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München 2006.
[59] Roy 2004, S. 91.
[60] Roy 2004, S. 94.
[61] Analog sieht es Peter Sloterdijk, der die Kritik der Aufklärung an der Frage der Gottesexistenz behandelt: „Ob es einen Gott ‚gibt’ ist im Grunde nicht das Problem; wesentlich ist, was Menschen im Sinn haben, die behaupten, er existiere und sein Wille sei so und so.“ In: Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Band 1, Frankfurt am Main 1983, S.70.
[62] Hier betrachtet Roy auch die Ansichten von Bernhard Lewis und Samuel Huntington kritisch: Roy 2004, S. 9. Ali Tariq hingegen greift die Frage nach dem theologischen Gehalt von der anderen Seite auf und stellt sie radikal in Frage. Im Gegensatz zu Roy, der die Theologie zurückhaltend und vorsichtig behandelt, folgt Tariq der Meinung von Bertrand Russel, dass der frühe Islam eine praktische politische Bewegung ohne eine echte spirituelle und kontemplative Botschaft gewesen sei. Tariq begründet diese Aussage indem er in Muhammads Verhalten reine politische Erwägungen sieht, indem die religiösen Formulierungen aus dem Koran allein als „Kitt“ für die Vereinigung, Disziplinierung und Festigung der vorislamischen Stämme und somit zur Konsolidierung seiner Machtposition gedient hätten. Siehe Tariq, Ali: Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung. Die Krisenherde unserer Zeit und die ihre historischen Wurzeln, Kreutzlingen 2003, S.65-73.
[63] Roy 2004, S.10-13.
[64] http://globetrotter.berkeley.edu/people2/Roy/roy-con0.html (26.02.2007).
[65] Blickle, Schlögl 2005, S. 13. Jedoch gibt es diese Ansicht nicht nur in der Außenperspektive auf den Islam. Auch einige muslimische Denker sehen Islam und Säkularisierung als unvereinbar indem sie sich häufig auf die erste muslimische Gemeinde Medinas aus dem 7. Jahrhundert berufen. Dort seien Politik und Religion harmonisch miteinander verbunden gewesen. Siehe dazu Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden 1999, S. 46-49.
[66] Siehe Riedel, Sabine: Der Islam als Faktor in der internationalen Politik. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37/2003, S. 15.
[67] Kohn, Sebastian: Islamophobia Online: The Upsurge of ‘Watch-sites’ and Islamophobic Advocacy on the Internet. In: Arab-West Report Nr. 30, Kairo 2006.
[68] Das 2006 gestartete Internetprojekt von Daniel Pipes ist auf www.islamistwatch.com zu finden. Daniel Pipes wird in den meisten Kreisen als neokonservativer amerikanischer Journalist und Schriftsteller gesehen. Er erregte großes internationales Aufsehen mit seinem Aufsatz The Muslims are coming! The Muslims are coming!. National Review: 19 November 1990. Eine Selbstdarstellung seiner Motive ist auf seiner eigenen Homepage www.danielpipes.org zu finden.
[69] http://www.bpb.de/suche/?all_search_action=search&all_search_text=Islamismus&OK.x=0&OK.y=0 (28.02.2007).
[70] Heine, Peter: Islamismus – Ein ideologiegeschichtlicher Begriff. In: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Islamismus, 5. Auflage, Berlin 2006, S. 5-7.
[71] Ders., S. 18ff.
[72] Kepel, Gilles: Das Schwarzbuch des Dschihads. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München 2002. S. 31-34, 259ff, 271-287.
[73] Steinberg, Guido: Der Islamismus im Niedergang? Anmerkungen zu den Thesen Gilles Kepels, Olivier Roys und zur europäischen Islamismusforschung. In: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Islamismus, Bonn 2006, S. 32.
[74] Richert, Robert: Islamischer Fundamentalismus und politischer Islamismus, Schmalkalden 2001, S. 21.
[75] Ders. S. 22.
[76] Die Zielsetzung des politischen Islamisten erinnert begriffstechnisch und inhaltlich an die Islamische Revolution und Khomeinis Konzept der velāyat-i faqīh. Richert behandelt die Islamische Revolution und die khomeinistische Ideologie im Verlauf seiner Beschreibung des politischen Islamismus der Schia. Siehe ders., S. 47-51.
[77] Auf die muslimische Demokratiekritik kann in diesem Rahmen nicht detailliert eingegangen werden. Jedoch ist sie sehr lesenswert. Gudrun Krämer erläutert, wie muslimische Autoren wie Qutb, Maududi und an-Nadwi die Idee der Demokratie als Exekutierung des Willen des Volkes ablehnen, da sie einen Mangel an einen festen, unverrückbaren ethischen und moralischen Grundgerüst kritisieren. Demnach sehen sie die Schwäche der Demokratie in der formalen Legalität von verachtungswürdiger, illegitimer Politik, so wie Kolonialisierung oder militärische Aggressivität. Für diese Autoren stellt der Islam eine moralische Ordnung dar, die weitaus stärker sei als eine säkulare, auf den Volkswillen von fehlbaren Menschen basierende Demokratie. Siehe Krämer 1999, S. 79ff.
[78] Riedel, S. 17.
[79] Diess., S. 17.
[80] Diess., S. 18.
[81] für weitere Beschäftigungen mit Islamismus bzw. synonym gebrauchte Begriffe siehe u.a. Schwan, Siegfried (Hrsg.): Islamismus, Brühl 2006; Purnaqchéband, Nader: Islamismus als Politische Theologie. Selbstdarstellung und Gegenentwurf zum Projekt der Moderne. In: Röhrich, Wilfried: Serie Politica, Band 2, Münster 2002; Barth, Peter: Islam und Islamismus. Eine Herausforderung für Deutschland, München 2003, S. 93-123; Lücke, Hanna: ‚Islamischer Fundamentalismus’ – Rückfall ins Mittelalter oder Wegbereiter der Moderne?, Berlin 1993; Büttner, Friedemann: Der fundamentalistische Impuls und die Herausforderung der Moderne. In: Leviathan 1996, S. 469-493.
[82] Steinberg 2006, S. 31; Roy 1994, S.26.
[83] Siehe hierzu: Seyyed Vali Reza Khan: The Vanguard of the Islamic Revolution. The Jama’at-i Islami of Pakistan. Berkeley 1994.
[84] Salafiyya hat seinen Wortursprung in سلف (salaf, Vorfahre) bzw. الصلف السلف (al-salaf al- ÒÁ le Î, rechtschaffene Altvorderen) und war eine durch Jamal al-Din al-Afghani (1838-1898) und Muhammad Abduh (1849-1905) gegründete und von Rashid Rida (1865-1935) weitergeführte Reformbewegung. Nach Roy berufen sich die Neofundamentalisten verstärkt auf das salafitische Gedankengut. Siehe Roy, 1994, S. 32-34; Roy 2004, S. 232ff.; Nagel, Tilman: Theologie und Ideologie im modernen Islam. In: Antes, Peter (Hrsg).: Der Islam. Religion – Ethik – Politik, Stuttgart 1991, S. 30-34. Für weitere detaillierte Informationen zum Salafismus, siehe Hourani, Albert: Arab Thought in the Liberal Age, Cambridge 1983.
[85] Roy 1994. S. 35.
[86] Ders., S.35ff.
[87] Ders., S.33.
[88] Roy 2004, S. 58.
[89] Siehe dazu Nagel, Tilman: Geschichte der islamischen Theologie, München 1994, S. 13ff, 228-232.
[90] Roy 1994, S. 37ff.
[91] Ders. S. 36.
[92] Ders, S. 38.
[93] Roy erwähnt die Charakterisierung Sayyid Qutbs, einem Weggefährten Hassan al-Bannas, der die Scharia als das bewegliche islamische Recht (فقه حركي – fiqh Î arak Ð) definierte. Nicht das kanonisierte und kasuistische Recht der Geistlichen, sondern die Interpretation derer, die sich aktiv für den Islam einsetzten, bildet die Scharia. Diese wird von ihnen (d.h. den Islamisten) gemäß den gegenwärtigen sozialen Bedingungen etabliert.
[94] Roy 1994, S.39.
- Citation du texte
- Farshad Mohammad-Avvali (Auteur), 2007, Säkularisierung durch Islamismus. Die Islamischen Republik Iran, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77844
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