Die Arbeit untersucht systematisch die nationalen und internationalen Wirkungen der Reformpolitik Chruschtschows und grenzt sie historisch zum stalinschen und gorbatschowschen System ab.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung: Erkenntnisinteresse und These
1. Stand der Forschung
1.1 Quellen
1.2 Literatur
2. Überprüfung der These anhand der Elemente des sowjetischen politischen Systems
2.1 Zum Verständnis des Begriffs „politisches System“ im Rahmen dieser Arbeit
2.2 Partei
2.2.1 Neues Selbstverständnis der Partei?
2.2.2 Reorganisation der Parteistrukturen
2.2.3 Neue ideologische Doktrinen
2.2.4 Ende des Terrors?
2.3 Staat
2.3.1 Zur Abgrenzung der Begriffe Partei und Staat
2.3.2 Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Reformen
2.3.2.1 Reformen in Landwirtschaft und Industrie
2.3.2.2 Kommunismus bis 1980?
2.3.3 Außenpolitik
2.3.3.1 Sputnik-Schock und „friedliche Koexistenz“
2.3.3.2 Die Krisen: Ungarn, Berlin, Kuba
2.3.4 Staatsbürokratie
2.3.5 Sozialistische Gesetzlichkeit?
2.4 Gesellschaftliche Organisationen und Militär
3. Fazit
3.1 Ablehnung der These
3.2 Gab es Alternativen zu Chruschtschows Kurs?
3.3 Ausblick: Gibt es eine Parallele Chruschtschow - Gorbatschow?
Literaturverzeichnis
0. Einleitung: Erkenntnisinteresse und These
Stalins Tod am 5. März 1953 markierte symbolisch einen Wendepunkt in der Geschichte der UdSSR. Die Sowjetunion war politisch und militärisch zur Weltmacht aufgestiegen und hatte sich binnen weniger Jahrzehnte von einer rückständigen Agrargesellschaft hin zu einer Industrienation entwickelt. Diese Strukturentwicklung vertrug sich immer weniger mit dem stalinistischen politischen System, insbesondere seinem Terror.
Reformen waren zweifelsohne nötig. Nach der Epoche des „Tauwetters“ während der Herrschaft der Triumvirate (1953-1956) ließ der neue Generalsekretär Chruschtschow mit seiner „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag Hoffnungen auf weitere Reformen und Entspannung aufkommen. Im Licht der Geschichte stehen seine Bemühungen um eine Reform des stalinistischen politischen Systems der UdSSR jedoch höchst widersprüchlich dar.
Es stellt sich somit die Frage, ob und wenn ja, inwiefern Chruschtschows Reformen das politische System der Sowjetunion überhaupt reformieren konnten. Zur Erörterung dieser Frage dient die folgende These:
Chruschtschows Reformen konnten keine Entstalinisierung herbeiführen, da sie das stalinistische politische System der UdSSR im wesentlichen bestehen ließen.
Hat Chruschtschow wirklich die historische Chance verpaßt, das System mit seinem „despotischen, stalinistischen Staatsterror als wichtigstem Herrschaftsinstrument hin zu einem bürokratisch differenzierten System mit Ansätzen einer pluralistischen Interessen- und Meinungsartikulation“[1] zu verwandeln? War es wirklich Chruschtschows Ziel „[to] rid the Party, and Soviet society generally, of the ‚deformations‘ of socialism associated with Stalin and return to a ‚truly Leninist‘ path?“[2]
Anhand einer Analyse der konstitutiven Merkmale des sowjetischen politischen Systems wird diese Arbeit zeigen, daß die Motive für und gegen Reformen komplexer und vielschichtiger waren, als die These vermuten läßt. Die marxistisch-leninistische Ideologie, die internationale Lage und der innerparteiliche Widerstand spielten eine wichtige Rolle.
Nach einer kurzen Literatur- und Quellenkritik wird der Wandel des politischen Systems anhand seiner zentralen Merkmale Partei, Staat, gesellschaftliche Organisationen und Militär untersucht. Jeder Bereich wird darauf geprüft werden, ob und wenn ja, inwiefern eine Entstalinisierung des politischen Systems erfolgte. Besondere Berücksichtigung wird dabei der Rolle der kommunistischen Partei sowie der Außen- und Wirtschaftspolitik zukommen. Das Fazit wird zeigen, daß die These in der aufgestellten Form nicht behauptet werden kann.
Besondere Berücksichtigung wird weiterhin die Frage finden, ob es Alternativen zu Chruschtschows Reformweg hätte geben können. Die in der Literatur vereinzelt geäußerte Auffassung, daß es einen Zusammenhang zwischen der Politik Chruschtschows und derjenigen Gorbatschows gäbe, wird abschließend betrachtet werden.
1. Stand der Forschung
Zum Thema der Chruschtschowschen Reformen existiert eine Flut von Werken wissenschaftlicher wie populärwissenschaftlicher Natur (Memoirenliteratur, politische Biographien). Letzere werden jedoch aufgrund ihres nichtwissenschaftlichen Charakters und ihrer zweifelhaften Glaubwürdigkeit wegen keinen Eingang in diese Arbeit finden. Die Kommentierung der Werke bezieht sich nur auf westliche Literatur; aus Platzgründen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht auf die ostsprachige Literatur eingegangen werden.
1.1 Quellen
Als Quelle dient Chruschtschows (im Westen so bezeichnete) „Geheimrede“, ein Vortrag, den er auf einer geschlossenen Sitzung des XX. Parteitags der KPdSU in Moskau am 25.2.1956 hielt.[3] Er ist in zweierlei Hinsicht ein wichtiger Text, da er zum einen mit dem stalinistischen „Personenkult“ bricht, andererseits aber auch die Begrenzungen der Kritik erkennen läßt. Somit läßt die Rede Chruschtschows generelle Reformbereitschaft erkennen, gibt jedoch indirekt zu verstehen, wo die Reformen ihre Grenzen haben werden. Die Quelle ist somit gleichzeitig ein wichtiges Indiz für die Zweischneidigkeit der Politik der gesamten Regierungszeit Chruschtschows, die hier zum ersten Mal spürbar wird.
1.2 Literatur
Zum generellen Verständnis der marxistisch-leninistischen Ideologie und ihres politischen Systems liefern Jahn[4] und Ziemer[5] nützliche Kompendien. Walter Leonhard[6] widmet Chruschtschow einige Aufmerksamkeit, beschränkt sich jedoch eher auf ideologische Fragen und untersucht weniger die Wirkungen seiner Reformen.
Einen guten Überblick über den historischen Kontext gibt Altrichter[7] in seiner Geschichte der Sowjetunion. Trotz der Knappheit des Werkes gelingt ihm eine profunde Analyse der Zeit Chruschtschows. John Keeps Geschichte der Sowjetunion[8] widmet Chruschtschow viel Aufmerksamkeit, ist jedoch stellenweise polemisch und bei manchen Analysen oberflächlich. Furet[9] kommt in seiner Monographie nur vereinzelt auf Chruschtschow zu sprechen; zudem sind seine Vergleiche fragwürdig.
Meissners[10] detaillierte Artikelsammlung zur „Ära Chruschtschow“ steht noch deutlich unter dem Einfluß des kalten Krieges und dem Schlagwort des „Totalitarismus“, läßt jedoch interessante Einblicke in die Zeit zu und gibt Aufschlüsse über die unmittelbare Wirkung von Chruschtschows Reformen im Westen. Filtzers Spezialwerk[11] zeigt trotz seiner Knappheit die wesentlichen Entwicklungslinien und Reformen auf. Sein Werk verbindet Faktensammlung und eine (wenn auch sehr knappe) historische Analyse.
2. Überprüfung der These anhand der Elemente des sowjetischen politischen Systems
2.1 Zum Verständnis des Begriffs „politisches System“ im Rahmen dieser Arbeit
Das politische System „des realen oder bürokratischen Sozialismus besteht aus drei Hauptkomponenten: der marxistisch-leninistischen Partei, dem Staat und den gesellschaftlichen Organisationen.“[12] Es wäre für das Verständnis jedoch hinderlich, würde man Chruschtschows Reformversuche im Bereich der Wirtschaft außer Acht lassen.
Zwar bedingt nach marxistisch-leninistischem Verständnis das ökonomische System das politische. Es wäre also streng genommen falsch, Bestandteile des ökonomischen Systems (wozu auch die Wirtschaftspolitik gehört) unter dem politischen zu subsumieren. Jedoch berühren Chruschtschows Reformen nicht das ökonomische System an sich (er hält nach wie vor an Kollektiveigentum und Zwangsverwaltungswirtschaft fest!), sondern nur die Organisation und bürokratische Durchführung der Wirtschaftsverwaltung. Insofern scheint eine Einordnung in die Kategorie „Staat“ gerechtfertigt.
2.2 Partei
In der „Stalin-Verfassung“ von 1936 war die führende Rolle der Partei explizit verankert. Zusammen mit Stalins Thesen der „Einkreisung durch das kapitalistische Lager“ und der „Verschärfung des Klassenkampfes“ hatte dies zur Rechtfertigung des Terrors gedient. Chruschtschow mußte jetzt einen problematischen Weg beschreiten: Einerseits sollte die führende Rolle der Partei nach leninistischem Verständnis gesichert bleiben, andererseits dem Terror ein Ende gemacht werden.
2.2.1 Neues Selbstverständnis der Partei?
Das Grundproblem war also, „wie man Stalins Politik ohne eine Neubewertung Stalins aufgeben konnte. Alle diese Männer waren doch durch ihre Loyalität zu Stalin an die Macht gekommen. Wie konnten sie Stalin angreifen, ohne ihre eigene Legitimation in Fragen zu stellen? Das Präsidium erkannte die Notwendigkeit des Wandels an, hatte aber Angst, zu schnell vorzugehen, aus Furcht, Reformen, die in einer Krisenatmosphäre angenommen würden, könnten einen Schneeballeffekt bewirken, infolge der Erwartungen der Massen außer Kontrolle geraten und so eine Krise von noch größeren Ausmaßen auslösen.“[13]
Stalin selbst konnte nur zur Macht gelangen und diese über dreißig Jahre lang innehaben, weil er systematisch die alte Führung der Bolschewiki vernichtete. Aus den „großen Säuberungen“ der Parteielite in den dreißiger Jahre geht Stalin als einziger Überlebender hervor. In seinem Schatten stiegen Männer wie Chruschtschow, Molotow und Malenkow zur Macht auf. Wie sähe es aus, wenn sie dies kritisierten?
Deswegen mußte Chruschtschow in seiner „Geheimrede“ zwar Kritik an der Person Stalins und an seinem Führungsstil üben (Chruschtschow benutzte hierfür den Begriff „Personenkult“), ohne jedoch die führende Rolle der Partei anzutasten: „Der Monarch mußte diskreditiert werden, ohne aber die Erbfolge zu diskreditieren.“[14]
Chruschtschows Kritik an Stalin begann erst mit dem Mord an Kirow, d.h. 1934. Die Liquidierungen der 20er Jahre wurden nicht erwähnt, ebensowenig wie die Machtkonzentration in Stalins Händen und die Beseitigung der innerparteilichen Opposition. Wie schwierig selbst dieser Mittelweg noch war, zeigte der Entmachtungsversuch durch das Triumvirat: Im Sommer 1957 forderten Malenkow, Molotow und Kaganowitsch offen seine Absetzung als 1. Sekretär. Obwohl dieser Versuch scheiterte und die drei als sogenannte „Anti-Partei-Gruppe“ entmachtet wurden, blieb die Fraktion der Konservativen in Partei und Bürokratie stark.
Chruschtschow kritisierte in der Geheimrede nicht die Rolle der Partei, sondern die Rolle Stalins in ihr. Die Partei erschient sogar eher als unschuldiges Opfer, die von Stalin entmachtet und zudem durch Justizmorde an Unschuldigen schwer geschädigt wurde. Gemessen am Selbstverständnis der Partei konnte also von Reform nicht die Rede sein: Sie verstand sich nach wie vor als Avantgarde, wenngleich die Termini ausgetauscht wurden und von einer Diktatur des Proletariats nicht mehr gesprochen wurde. Chruschtschow ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er keinen Weg zum Pluralismus einschlagen würde: „Es lebe das siegreiche Banner unserer Partei – der Leninismus!“[15]
Auch ein späteres ideologisches Problem mit der neuen Verfassung von 1961 löste Chruschtschow sehr elegant im Sinne der Partei: In dieser Verfassung war festgeschrieben, daß die Sowjetunion ein „Staat des ganzen Volkes“ sei. Doch wie konnte die Partei sich in einem „Staat des ganzen Volkes“ dann noch als die Avantgarde der Verfassung von 1936 verstehen und somit ihre Alleinherrschaft rechtfertigen? Chruschtschows löste das Problem, indem er die Kommunistische Partei jetzt als „Volkspartei“ (statt Avantgarde) darstellte.[16]
2.2.2 Reorganisation der Parteistrukturen
Chruschtschow änderte im Laufe seiner Amtszeit die personelle Zusammensetzung der Partei und versuchte auch, ihre Organisationsstruktur zu reformieren. Seine Maßnahmen waren hierbei durchaus radikal: So hatte er „zwischen 1956 und 1961 zwei Drittel der Mitglieder des Ministerrates, des Parteipräsidiums, der Parteigebietssekretäre und die Hälfte des Zentralkomitees ausgetauscht.“[17] Allerdings wurden viele der neuen Funktionäre später wieder entlassen, offenbar, um als Sündenböcke für gescheiterte Reformen zu dienen oder um zu verhindern, daß lokale Funktionäre zu mächtig wurden.
Auf dem XXII. Parteikongreß setzte Chruschtschow eine Reform der Parteiämter durch: Die Amtszeit wurde je nach Posten begrenzt, bei jeder Wahl mußten ab sofort ein Drittel der Funktionäre ersetzt werden. Obwohl diese Wahl eine größere Transparenz zu versprechen schien, änderte sich doch im Grunde nichts:
„Das Turnussystem, das einen Teil der Führungskader in bestimmten Zeitabständen auswechselt, gilt nicht für die Hierarchie der Parteisekretäre, die den Kern der Parteibürokratie darstellen (...).“[18] Zudem erlaubten Ausnahmeklauseln, die Regelung zu umgehen: „Special provision was made for ‚outstanding individuals‘ to serve more than three successive terms.“[19]
[...]
[1] Jahn, E.: Politische Systeme, in: Ziemer, K. (Hrsg.): Sozialistische Systeme in: Nohlen, D. (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 4, München/Zürich 1986: Piper, S.344-355 (zit. S. 353)
[2] Keep, J.: Last of the Empires, Oxford/New York 1995: Oxford University Press,
[3] abgedruckt in Adshubej,A.: Gestürzte Hoffnung Berlin 1990: Henschel/Ullstein, S.403-461
[4] Jahn, E.: Bürokratischer Sozialismus, Frankfurt/Main 1982: Fischer
[5] Ziemer, K. (Hrsg.): Sozialistische Systeme in: Nohlen, D. (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 4, München/Zürich 1986: Piper
[6] Leonhard, W.: Die Dreispaltung des Marxismus, Düsseldorf/Wien 1970: Econ
[7] Altrichter, H.: Kleine Geschichte der Sowjetunion, München 1993: Beck
[8] Keep 1995 (vgl. Fn.2)
[9] Furet, F.: Das Ende der Illusionen. Kommunismus im 20. Jh., München/Zürich 1995: Piper
[10] Meissner, B.: Wandlungen im Herrschaftssystem und Verfassungsrecht der Sowjetunion, in: Boettcher et al. (Hrsg.): Bilanz der Ära Chruschtschow, Stuttgart et al. 1966: W. Kohlhammer, S. 141-170
[11] Filtzer, D.: Die Chruschtschow-Ära, Mainz 1995: Decaton
[12] Jahn, E.: Politische Systeme, in: Ziemer, S.349
[13] Filtzer, S.26
[14] Filtzer, S.31
[15] Adshubej, S.461
[16] vgl. Meissner, S.144
[17] Altrichter, S.152
[18] Meissner, S.145
[19] Keep, S.68
- Citation du texte
- Marcus Matthias Keupp (Auteur), 2002, Die Auswirkungen von Chruschtschows Reformen auf das politische System der UdSSR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7766
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