Für die vorliegende empirische Studie wurden im April-Mai 2006 100 jüdische Einwanderer aus ganz Deutschland anhand eines Fragebogens befragt. Das Ziel dieser Untersuchung bestand darin, die soziokulturellen Hintergründe der Befragten zu untersuchen und festzustellen, ob diese Migrantengruppe gemeinsame Gesetzmäßigkeiten im Bezug auf den Prozess des Zweitspracherwerbs und Erstspracherhalts aufweist.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen der Studie
2.1 Problem im Kontext der Soziolinguistik
2.2 Kontaktlinguistik
2.2.1 Zweisprachigkeit
2.2.2 Zweitspracherwerb
2.2.3 Spracherhalt
2.3 Empirische Studien zum Thema
2.4 Fragestellung und Arbeitshypothesen
3 Rechtsgrundlage der jüdischen Einwanderung
4 Empirische Studie
4.1 Untersuchungsmethode
4.1.1 Durchführung der Befragung, Personenkreis der Probanden
4.1.2 Anzahl der Probanden, Auswertungsmethode
4.1.3 Aufbau des Fragebogens
4.2 Auswertung
4.2.1 Soziale Struktur
4.2.1.1 Wohnort
4.2.1.1.1 In der (ehemaligen) Sowjetunion
4.2.1.1.2 In Deutschland
4.2.1.2 Alter
4.2.1.3 Geschlecht
4.2.1.4 Familienstand
4.2.1.5 Ethnische Identität
4.2.1.5.1 Nationalität und Religion
4.2.1.5.2 Mischehen
4.2.1.6 Bildungsstand
4.2.1.7 Berufliche Situation
4.2.1.7.1 Vor der Ausreise
4.2.1.7.2 In Deutschland
4.2.1.8 Ausreisemotive
4.2.2 Sprachverhalten
4.2.2.1 Sprachverhalten vor der Ausreise
4.2.2.2 Sprachverhalten in Deutschland
4.2.2.2.1 Individuelle Geschichte des Deutschlernens
4.2.2.2.2 Selbsteinschätzung
4.2.2.2.3 Lernmotivation
4.2.2.2.3.1 Korrelation von Deutschkenntnissen und außersprachlichen Faktoren
4.2.2.2.4 Sprachgebrauch in Deutschland
4.2.2.2.4.1 Netzwerk
4.2.2.2.4.2 Domänenspezifischer Sprachgebrauch
4.2.2.2.5 Sprachattitüden
4.2.2.2.6 Spracherhalt, Sprachwechsel
5 Zusammenfassung
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Ausblick
6 Verzeichnisse
6.1 Literaturverzeichnis
6.2 Abbildungsverzeichnis
6.3 Tabellenverzeichnis
7 Anhang
1 Einleitung
Heutzutage besteht kaum noch Zweifel daran, dass Deutschland das größte Einwanderungsland der Europäischen Union ist. Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lebten 2004 rund 6,7 Millionen Ausländer[1] in der Bundesrepublik. Hinzu kommen Spätaussiedler, die unmittelbar nach der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten und dadurch in den meisten Statistiken über Ausländer nicht erscheinen, obwohl sie faktisch Migranten sind. Damit steht Deutschland mit einem Ausländeranteil von ca. 8,9 Prozent der Gesamtbevölkerung ganz oben auf der Liste der EU-Staaten, die durch hohe Ausländerzahlen gekennzeichnet sind[2]. Die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist (oder wird), sorgt schon seit Jahrzehnten für Diskussionen unter Politikern und in den Medien, doch eins ist klar: Bei solch einer hohen Ausländerrate muss man neue Konzepte und Wege für das friedliche Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, Sprachen und Mentalitäten finden. Und dazu sind Bemühungen sowohl seitens der Immigranten als auch seitens der deutschen Bevölkerung nötig. Wie in jeder zwischenmenschlichen Beziehung beginnt auch hier das Miteinander mit der Annerkennung der typischen Besonderheiten des Gegenübers. Und genau in dieser Hinsicht weist oft die Informiertheit der Deutschen über ihre neuen Nachbarn Lücken auf. Man weiß zwar in der Regel, dass es in Deutschland viele Gastarbeiter aus südlichen Ländern, Asylanten aus Kriegsgebieten, Spätaussiedler aus Osteuropa und Green-Card-Inhaber aus der ganzen Welt gibt, doch beim Begriff „Kontingentflüchtling“ zucken die meisten Bundesbürger die Schultern. Das Thema „jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion“ erscheint kaum in den Medien, es gibt ziemlich wenig wissenschaftliche Literatur über diese Migrantengruppe. Als Kontingentflüchtling wird man oft damit konfrontiert, dass die meisten Deutschen nur dann etwas über jüdische Emigranten wissen, wenn sie auf irgendeine Weise – z.B. als Behördenbeamte oder als Mitarbeiter von Integrationseinrichtungen – beruflich mit ausländischen Bürgern Kontakt haben. Sehr oft werden alle Emigranten aus den GUS-Staaten pauschalisiert, unabhängig davon, ob sie als Kontingentflüchtlinge, Spätaussiedler, Asylberechtigte, Studenten oder IT-Spezialisten nach Deutschland gekommen sind. Dabei bestehen aber gravierende Unterschiede zwischen diesen Migrantengruppen, sowohl in der Vorgeschichte und in ihren Auswanderungsgründen, als auch im Integrationsverlauf und –motivation.
Das Bundesamt für Integration und Flüchtlinge betrachtet das Erlernen der deutschen Sprache als eines der zentralen Elemente für erfolgreiche Integration[3], von daher ist die Erforschung der Besonderheiten des Zweitspracherwerbs (im gegebenen Fall Deutscherwerb) von verschiedenen Migrantengruppen nicht nur für Linguisten, sondern auch für Soziologen und Integrationsforscher von Interesse und Bedeutung. Aber auch in der Wissenschaft bleibt das Thema „Sprachverhalten der Kontingentflüchtlinge“ ein weißer Fleck.
Zu meinem persönlichen Interesse an dem Thema Sprachverhalten der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR trug unter anderem meine Arbeit im Jüdischen Zentrum für Integration, Kultur und Soziales „Shalom e. V.“ in Nürnberg, wo ich vom Oktober 2004 bis Dezember 2005 als Deutschkursleiterin tätig war. Durch diese Tätigkeit lernte ich mehrere jüdische Emigranten kennen, die mir von ihren Problemen und Gedanken, die das Erlernen des Deutschen und die Bewahrung ihrer Muttersprache (meist Russisch) betroffen, erzählten. Dadurch wurde mir klar, dass bei dieser Gruppe mit ähnlichen sozialen Merkmalen wie z. B. einem hohen Bildungs- und Kulturniveau und städtischer Herkunft die sprachliche Integration anders verläuft, als bei anderen Migrantengruppen. Ein breites Netz von Kontakten mit anderen jüdischen Emigranten in Nürnberg und ganz Deutschland machte eine empirische Untersuchung möglich. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand darin, anhand einer empirischer Studie (Befragung) die soziokulturellen Hintergründe der Migrantengruppe zu untersuchen und festzustellen, ob diese Gruppe gemeinsame Gesetzmäßigkeiten im Zweitspracherwerb und Erstspracherhalt aufweist.
Im ersten Teil der Arbeit werden theoretische Grundlagen der Studie behandelt und die in der Untersuchung zu lösenden Fragen gestellt, im Anschluss darauf werden Rechtsgrundlagen und die Geschichte der jüdischen Einwanderung präsentiert. Das vierte Kapitel enthält die Beschreibung der empirischen Studie zu sprachlichen Problemen der Kontingentflüchtlinge sowie die Auswertung der im Laufe der Befragung erfassten Daten.
2 Theoretische Grundlagen der Studie
Die theoretischen Grundlagen der Studie liegen im Kompetenzbereich der Soziolinguistik und der Sprachkontaktforschung. Dabei lassen sie sich in folgende Fachbereiche unterteilen:
- Zweisprachigkeit (Bilingualismus)
- Zweitspracherwerb
- Erstspracherhalt/Sprachwechsel/Sprachverlust.
2.1 Problem im Kontext der Soziolinguistik
Die Untersuchung des sprachlichen Verhaltens von ethnischen Minderheiten und Migranten gehört zum Interessenkreis mehrerer wissenschaftlichen Disziplinen. So erforscht die Psychologie die Migrantensprache im Kontext des interkulturellen Lernens und Handelns sowie deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit; die Soziologie untersucht Zusammenhänge zwischen der Sprachkompetenz und dem Integrationsverlauf; die Geo- und Ethnographie beschreibt zwei- bzw. mehrsprachige Bevölkerungsgruppen; die Pädagogik befasst sich mit der Erarbeitung von Sprachdidaktiken, während für die Sprachwissenschaft verschiedene Aspekte des Sprachverhaltens sowie die Sprache der Migranten als Forschungsobjekt im Interessenmittelpunkt stehen. Die zentralen Forschungsgegenstände anderer Wissenschaften werden bei linguistischen Untersuchungen ebenfalls in Betracht gezogen, so dass an den Schnittstellen verschiedener Wissenschaftsbereiche neue Disziplinen entstehen. Sie werden von den Ausgangsdisziplinen um neue Forschungsmethoden und –ansätze bereichert und ermöglichen es, komplexe Sachverhalte interdisziplinär zu erforschen. Auf diese Weise entstanden zwei Disziplinen: Soziolinguistik und Sprachsoziologie (Soziologie der Sprache). Die letztere wird häufig als ein Synonym für die Soziolinguistik gebraucht, wie z.B. bei Fishman, der in seiner Arbeit „Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft“ keinen Unterschied zwischen der Soziolinguistik und der Soziologie der Sprache macht (Fishman 1975: 13 ff.) oder Wildgen, der die Soziologie der Sprache als eine der Erscheinungsformen der Soziolinguistik betrachtet (Wildgen 2003: 4). Die Soziologie der Sprache kann aber auch als Gegenbegriff zur Soziolinguistik definiert werden, und zwar „im Sinne einer Teildisziplin der Soziologie (Soziolinguistik dann als Teildisziplin der Linguistik)“ (Glück 2000: 9119). Aspekte des sprachlichen Verhaltens und der sprachlichen Integration von Migranten gehören zu den Untersuchungsgegenständen beider Disziplinen (vgl. Glück 2000: 9119 und 8882 ff.), denn bei deren Erforschung muss man sich sowohl linguistischer als auch soziologischer Werkzeuge bedienen.
Die Hauptfragen der Soziolinguistik lauten: „Wer spricht mit wem welche Sprache, wann und warum?“ Da es sich im Fall des Sprachverhaltens von Migranten meistens um zwei oder mehr Sprachen handelt, erscheint hier der Begriff „Sprachkontakt[4]“. Auf mikrolinguistischer Ebene werden in diesem Bereich wechselseitige Einflüsse der im Kontakt stehenden Sprachen erforscht, wobei der einzelne, von einem sozialen Kontext beeinflusste, Sprecher im Mittelpunkt der Forschung steht. Makrolinguistik ist im gewissen Sinne mehr soziologisch orientiert, sie „untersucht die soziale und gesellschaftspolitische Funktion von Sprachvarietäten in Sprachgemeinschaften“ (Glück 2000: 5760). Dazu gehören Geo- und Ökolinguistik, wobei die erste über die Grenzen der Dialektologie hinausgeht und nicht nur räumliche, sondern auch kulturelle, ökonomische und politische Faktoren und ihren Einfluss auf die Sprache und auf den Sprachwandel untersucht (vgl. Wildgen 2003: 5). Ökolinguistik verbindet Anthropologie und Soziologie mit Linguistik und betrachtet die Wechselwirkungen, die zwischen einzelnen Sprachen oder – die durch die Sprache – zwischen Menschen und Nationen entstehen.
Mittlerweile hatte sich innerhalb der Soziolinguistik eine neue sprachwissenschaftliche Disziplin, die Migrationslinguistik, entwickelt, die sich mit der spezifischen Problematik der Migrantensprache befasst. Unter Migration werden dabei diejenigen Ausprägungen der Mobilität verstanden, die „eine grundlegende räumliche Neuorientierung der Lebenswelt mit sich bringen“ (Krefeld 2004: 12), wobei man unter ‚Lebenswelt’ die um zwei Pole organisierte Welt versteht, nämlich um die Lebensunterhaltsbeschaffung und um das soziale Netzwerk (ebd.). Im Mittelpunkt der Forschung steht die Sprache der mobilen Zwei- oder Mehrsprachigen, die außerhalb des Territoriums ihrer Erstsprache leben. Dabei stellen sich Fragen nach der (sprachlichen) Identität des Sprechers und nach dem Umgang mit verfügbaren Sprachvarietäten (Bilingualismus, Diglossie, code-switching, Sprachwandel usw.) auf. Die Sprache der Migranten wird synchronen und diachronen mikrolinguistischen Analysen unterzogen, da die Migrantensprache nicht nur durch die räumliche Veränderung, sondern auch durch den Zeitverlauf beeinflusst wird (vgl. Krefeld 2004: 39 ff.).
Einen weiteren Schwerpunkt der sprachsoziologischen und psycholinguistischen Forschung im Bereich Fremdsprachenlinguistik stellt die (sprachliche) Identitätsforschung dar. Das Problem der Selbstidentität im Kontext des Migrationhintergrundes ist insofern wichtig, da die Selbstidentifikation des Menschen zum großen Teil auf seiner Sprache als einem unentbehrlichen Teil der Nationalkultur basiert ist. Besonders dann, wenn sonstige äußere Kennzeichen des Fremden fehlen (z.B. physische Eigenschaften, Kleidung, Etikette o.ä.), wird die Sprache des Migranten zur Hauptkategorie, die dafür entscheidend ist, ob sein Fremdsein als Ausländer realisiert und ob es von der Bevölkerung akzeptiert wird (vgl. Ehlich 1986: 44). Aus diesem Grund liegen die Erforschung, Interpretation und praktische Anwendung der Forschungsergebnisse des Sprachverhaltens von Migranten sowohl im Interesse der Einwanderer als auch im Interesse der Aufnahmegesellschaft.
2.2 Kontaktlinguistik
Wie bereits erwähnt, muss man bei der Frage, welche Auswirkungen der Sprachenkontakt hat, nicht nur innersprachliche Variationen und Beziehungen, sondern auch außersprachliche Faktoren und Bedingungen, unter welchen der Sprachkontakt stattfindet, in Betracht gezogen werden. Spätestens bei Weinreich (1976) erscheint die Unterscheidung zwischen den strukturellen (innersprachlichen) und nicht-strukturellen (außersprachlichen) Faktoren, die die einzelnen „Fälle der Abweichung von den Normen der einen wie der anderen Sprache, die in der Rede von Zweisprachigen als Ergebnis (…) des Sprachkontaktes vorkommen“, also Interferenz erscheinungen beeinflussen (Weinreich 1976: 15 ff.). Zu den strukturellen Faktoren zählt, so Weinreich, die genetische Verwandtheit der kontaktierenden Sprachen, wobei die Mechanismen der Interferenz sowohl für Sprachen aus verschiedenen Sprachfamilien als auch für Dialekte einer Sprache im Wesentlichen gleich sind. Dabei betrachtet Weinreich im ersten Teil seines Werks die Mechanismen und die strukturellen Ursachen der Interferenz auf allen sprachlichen Ebenen: in der Phonetik, Morphologie, Grammatik und Lexik.
Bei den nicht-strukturellen Faktoren unterscheidet Weinreich zwischen dem psychologischen (individuellen) und dem soziokulturellen Rahmen von Sprachkontakt. Diese Faktoren lassen sich anhand der folgenden Tabelle veranschaulichen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1 (erstellt nach Weinreich 1976: 17-18)
Der soziokulturelle Rahmen ist besonders dann wichtig, wenn die Zweisprachigkeit des Menschen nicht als eine sozial isolierte Erscheinung vorkommt, sondern wenn es sich um eine Gruppe handelt, die zwei oder mehr Sprachen in Kontakt bringt. Der erste Fall liegt dann vor, wenn ein Mensch sich in eine Gruppe mit anderer Hauptsprache integriert und keinerlei Kontakt zu Personen, die seine Erstsprache beherrschen, hat. Jeder einzelne Fall muss dann einzeln untersucht werden, weil die Besonderheiten der Interferenz individuell bestimmt sind. In einer relativ großen Gruppe mit einem gemeinsamen Sprachprofil dagegen finden sprachlichen Prozesse statt, die für die ganze Gruppe charakteristisch sind. In dieser Situation sind oft nicht nur das Prestige und die Nützlichkeit der Sprache, sondern auch Bedingungen der Spracherlernung, die relative Sprachleistung und die affektive Bindung von der Gesellschaft, vorbestimmt (Weinreich 1976: 111).
2.2.1 Zweisprachigkeit
Wenn eine Person in die Situation des Kontaktes mit zwei Sprachen gelangt, spricht man von der Zweisprachigkeit (dem Bilingualismus) oder, wenn mehr als zwei Sprachen eingesetzt werden, von der Mehrsprachigkeit bzw. dem Multilingualismus. Dabei ist es offensichtlich sinnvoll, nur dann den Zustand einzelner Sprecher als Zweisprachigkeit zu bezeichnen, wenn beide Sprachen bei der täglichen Kommunikation gebraucht werden, und nicht etwa dann, wenn man eine Fremdsprache als Schulfach lernt und sie nur ansatzweise beherrscht, ohne sich ihr im Alltag zu bedienen. Eine solche Definition ist in Glücks Lexikon Sprache zu finden (Glück 2000: 6284).
Im Gegensatz zur Diglossie[5] als einem „Charakteristikum der gesellschaftlich bestimmten Verteilung bestimmter Funktionen auf verschiedene Sprachen oder Varietäten“ (Fishman 1975: 106) ist der Bilingualismus im Wesentlichen ein Charakteristikum individueller linguistischer Gewandtheit (ebd.). Nach der Hypothese von Weinreich (1976: 75 ff.) können zwei Sprachen im Individuum auf unterschiedliche Weise koexistieren:
- Derselbe Begriff wird durch je ein Strukturenelement in beiden Sprachen gespeichert (man spricht hier von „zusammengesetztem“, „kompositionellem“ oder „kombiniertem“ Bilingualismus). So sind z.B. das englische Wort „book“ und das russische „книга“ mit demselben semantischen Konzept „Buch“ verknüpft. Das geschieht, wenn beide Sprachen im gleichen Kontext erlernt werden, z. B. von einem Kind, das in einer bilingualen Familie aufwächst, wo zwei Sprachen von denselben Personen in den gleichen Situationen gesprochen werden (Fishman 1974: 116).
- Die zweite Weise des „Zusammenlebens“ von Sprachen bei bilingualen Menschen ist der Fall, wenn beide Sprachen in funktional differenzierten Kontexten erworben werden. Dann spricht man von „koordiniertem“ Bilingualismus; das heißt, beide Sprachen werden separat verarbeitet und mit jeweils unterschiedlichen Konzepten verknüpft. Außerdem haben die Menschen unterschiedliche Sprachfähigkeiten und können nicht immer beide Sprachen gleich gut beherrschen (vgl. Weinreich 1976: 21).
Ferner kann der Bilingualismus primär (beide Sprachen werden gleichzeitig im Kinderalter erworben) und sekundär sein (man erwirbt die zweite Sprache später als die Muttersprache, z.B. Gastarbeiter, Emigranten usw.).
Das sprachliche Verhalten bilingualer Sprechern, die in verschiedenen sozialen Bereichen verschiedene Sprachen oder Sprachvarietäten zur Kommunikation nutzen, ist der Gegenstand der Domänenforschung. Fishman bezeichnet soziolinguistische Domänen als „umfassende Regularitäten, die zwischen Varietäten und gesellschaftlich anerkannten Funktionen herrschen“ (Fishman 1975: 50) und verwendet diesen Begriff sowohl in Bezug auf einzelne zweisprachige Individuen, als auch auf bilinguale Gruppen. Er betont, dass es Unterschiede zwischen bilingualen Sprechern im Hinblick auf die Zahl und die Überlappung von Domänen gibt, in denen sie gewohnheitsmäßig jede ihrer beiden Sprachen verwenden (ebd. S. 116). Die individuelle Sprach- bzw. Varietätenwahl sind meistens durch den soziokulturellen Rahmen des Sprachenkontaktes bedingt: Erstens kann es in verschiedenen Gruppen, die das Sprachumfeld des Individuums bilden, unterschiedliche Anzahl an Sprechern verschiedner Sprachen geben (z. B. überwiegend Russischmuttersprachler in der Familie, ausschließlich Deutschmuttersprachler in der Schule und ein bilingualer Freundeskreis); zweitens können Sprachen unterschiedlichen Stellenwert sowie unterschiedliche assoziative und affektive Bindungen zu den jeweiligen charakteristischen Situationen haben. Je nach Gesellschaftsform können die Domänen verschieden definiert und gegeneinander abgegrenzt werden. So lassen sich zum Beispiel folgende charakteristische Situationen und Umgebungen grob unterscheiden:
1. Öffentlicher Bereich
a. Aktiver schriftlicher sowie mündlicher Sprachgebrauch: Bank, Post, Kirche, Behörden, Einkauf, Arztbesuch usw.
b. Passiver Sprachgebrauch: Medienkonsum (Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen, Internet, Bücher usw.)
2. Bildung und Beruf: Kommunikation mit Klassenkameraden, Kommilitonen, Kollegen sowie Lehrern, Dozenten oder Vorgesetzten.
3. Privater Bereich: Kommunikation mit Familienmitgliedern, Verwandten und Freunden.
4. Individualbereich, welcher der direkten Kontrolle durch Kommunikationspartner entzogen ist (Zählen, Rechnen, Träumen, Fluchen usw.).
Den ersten zwei Bereichen wird meistens ein höheres Prestige zugeordnet, während mit dem privaten und dem Individualbereich solche Werte wie Vertrautheit, Nostalgie, Ungezwungenheit und Freundschaft verbunden werden (vgl. Bechert/Wildgen 1991: 60).
Je nach typischen Verwendungsdomänen, sowie nach Bedeutung und Reihenfolge des Erlernens, werden Sprachen in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur grundsätzlich in folgende Typen unterteilt:
- Erstsprache (L1) ist die Sprache, in der das Kind sprechen lernt. In der Regel, aber nicht unbedingt, ist dies die Sprache der Mutter. Meistens lernt das Kind in dieser Sprache zählen und zählt in ihr sein ganzes Leben lang. Der Begriff setzt potentielle Mehrsprachigkeit voraus (vgl. Zemskaja 2001: 33; Glück 2000: 2748).
- Muttersprache wird oft als Synonym zur Erstsprache verwendet. In der russischen Sprachwissenschaft zieht man allerdings in einigen Fallen Differenz zwischen „ материнский язык ” (also der Sprache, die das Kind von seiner Mutter lernt) und „ родной язык“ – der Sprache, die das Kind in früher Kindheit von den Eltern und/oder der nahen Umwelt unbewusst lernt. Es kann vorkommen, dass das Kind mehr als eine Muttersprache im Sinne von „родной язык“ hat (z.B. wenn Mutter und Vater verschiedene Sprachen sprechen), diese Sprache muss auch nicht unbedingt seine Erstsprache der Reihenfolge nach sein (wenn das Kind die Sprache nicht von seinen Eltern, sondern von anderssprachigen Personen lernt, z.B. von einem Kindermädchen oder einer Gouvernante, die das Kind im Babyalter pflegen) (vgl. Zemskaja 2001: 33 ff).
- Familiensprache nennt man die Sprache, die im häuslichen Umfeld gesprochen wird. In Migrantenfamilien gibt es oft mehr als eine Familiensprache (ebd.).
- Fremdsprache ist die Sprache, die nach der/den Muttersprache(-n) erlernt wird, und zwar außerhalb des Landes der Kommunikationsgemeinschaft (Götze 1986: 31).
- Zweitsprache (L2): Eine Sprache, die Menschen nach der Muttersprache oder Erstsprache im Lande der Kommunikationsgemeinschaft erwerben (ebd.; vgl. auch Glück 2000: 11203).
- Hauptsprache ist der Begriff, der sich am schwersten definieren lässt. Geht man davon aus, dass dies die Sprache ist, in der man denkt, wird man mit dem Fakt konfrontiert, dass multilinguale Menschen je nach Domäne oder nach Gesprächspartner in verschiedenen Sprachen denken können. Zemskaja bezeichnet mit diesem Terminus die Sprache, die in mündlicher und schriftlicher Form sowie in aller Breite funktioneller und stilistischer Register verwendet wird, also nicht nur als gesprochene Familiensprache (vgl. Zemskaja 2001: 33).
Die Verhältnisse zwischen diesen Sprachtypen, ihre gegenseitige Wirkung und Prozesse des Spracherwerbs, der Spracherhaltung und des Sprachtodes stehen im Mittelpunkte der Bilingualismusforschung.
2.2.2 Zweitspracherwerb
Das entscheidende Kriterium für die Definition des Zweitsprachenerwerbs ist, dass der Erwerb einer Zweitsprache im Kindes-, Jugend- oder Erwachsenenalter erst nach dem vollständigen oder zumindest partiellen Abschluss des Erstspracherwerbs einsetzt (dabei kann der Erstspracherwerb in einer, aber auch mehreren Sprachen erfolgen: Man spricht dann von zwei- oder mehrsprachigem Erstspracherwerb).[6]
Die Soziolinguistik und die Psycholinguistik entwickelten verschiedene Modelle, die Prozesse und Ergebnisse des Zweitspracherwerbs erklären. Es handelt sich dabei um die Kontrastivhypothese, die Identitätshypothese, die Interlanguage-Hypothese und die Monitortheorie.
1. Die Kontrastivhypothese wurde von Fries (1947) initiiert und von Lado (1957) weitergeführt. Laut dieser Hypothese beeinflusst die Grundsprache des Lerners seinen L2-Erwerb insofern, dass identische Elemente und Regeln leichter zu erlernen sind (Strukturidentität), während sich unterscheidende Elemente Lernschwierigkeiten und Fehler verursachen.
2. Die Identitätshypothese wurde von Dulay/Burt (1974) in Bezug auf Chomskys These, dass die menschliche Sprachfähigkeit genetisch angelegt sei, entwickelt. Diese Theorie besagt, dass es für den Spracherwerb irrelevant ist, ob bereits eine Sprache gelernt wurde oder nicht, denn der Lernprozess ist durch gleiche psychische Strategien bestimmt (daher die Bezeichnung Identitätshypothese). Die Struktur des Lernobjekts, also die Grammatik der Zielsprache, sei für die Fehler im Lernprozess entscheidend.
3. Die Interlanguage-Hypothese ist mit dem Namen Selinker (1972) verbunden. Die Grundannahme dieser These besteht darin, dass der Lerner bei dem Zweitspracherwerb zunächst ein spezifisches Sprachsystem (Interlanguage) herausbildet, welches Züge der Erst- und der Zweitsprache sowie neue, unabhängige sprachliche Merkmale aufweist. Dieses System ist sehr flexibel und unterliegt keinen willkürlichen Regeln, sondern lernerspezifischen individuellen Prozessen, Strategien und Gesetzmäßigkeiten.
4. In seiner Monitortheorie geht Krashen (1989) davon aus, dass Erwachsene über zwei verschiedene Systeme des Zweitspracherwerbs verfügen, nämlich über den unbewussten und den bewussten Zweitspracherwerb . Das Regelwissen über die L2, das der Lerner im Verlauf seines Lernprozesses aufbaut, bezeichnet als Monitor. Diese Informations- und Kontrollinstanz wird unter günstigen Bedingungen bei der Produktion von Äußerungen in der L2 aufgerufen und befragt. Auf diese Weise wird die Zweitsprachproduktion kontrolliert und gesteuert.
Nach den äußeren Bedingungen, unter denen Zweitspracherwerb erfolgt, wird zwischen gesteuertem und ungesteuertem Zweitspracherwerb unterschieden.
Unter ungesteuertem Zweitspracherwerb (oft als „natürlicher L2-Erwerb“ bezeichnet) versteht man das Erlernen einer Zweitsprache ohne geplante äußere Eingriffe, d. h. ohne formale Sprachlehrverfahren (vgl. Felix 1982: 9; Wode 1988: 29; Glück 2000: 10310). Der Lerner erwirbt die Sprache ausschließlich durch Kontakt mit der zweitsprachigen Bevölkerung im Lande der Kommunikationsgesellschaft, der Kontakt findet dabei in alltäglichen Kommunikationssituationen statt. Die Definition „ungesteuert“ ist insofern problematisch, da informeller Spracherwerb selbst dann durch viele Faktoren gesteuert wird, wenn das Erlernen der Sprache ohne den Besuch einer Lehranstalt, ohne Lehrer und ohne Lehrmittel erfolgt. Zu diesen Faktoren gehören die Personen, die dem Lerner das Sprachmaterial vorgeben, dessen Rezeption Grundlage seines Lernprozesses ist; die Gesprächspartner, die durch Korrekturen, Kommentare und Wiederholungen unbewusst steuernden Einfluss auf den Erwerbprozess ausüben; die Situationen, in denen der Sprachkontakt erfolgt (direkte Kommunikation oder passive Beobachtung der Kommunikation anderer Personen); die Domänen des Sprachkontakts sowie die Form, in der dem Lernenden die Zweitsprache präsentiert wird (schriftlich oder mündlich) (Glück 2000: 10310). Ein solcher Spracherwerb ist also lediglich in dem Sinne ungesteuert, dass die zu erlernende Sprache nicht als Ziel, sondern nur als Mittel der alltäglichen Kommunikation, die sich als spracherwerbsfördernd erweist, vom Lernenden und von seinen zweitsprachigen Kommunikationspartnern wahrgenommen wird. Im Gegensatz dazu ist es für den gesteuerten Spracherwerb charakteristisch, dass Lehrpersonen in didaktisch und methodisch geplanten Unterrichtssituationen (Sprachkurse, Schule) das Erlernen der Zweitsprache bewusst steuern (das Selbststudium gehört ebenfalls dazu, sofern es mit didaktisch aufbereiteten Lehrmaterialien durchgeführt wird) (vgl. Glück 2000: 3484). Auch der Terminus „gesteuerter Spracherwerb“ ist nicht ganz unproblematisch, denn die Frage, ob und inwieweit der Lernprozess im Sprachunterricht das Ergebnis einer direkten und präzisen Steuerung/Kontrolle ist, bleibt immer noch offen (vgl. Felix 1982: 117). Gesteuerter Spracherwerb umfasst sowohl Zweitspracherwerb, als auch Fremdspracherwerb, da er auch außerhalb des Landes der Kommunikationsgemeinschaft erfolgen kann (s. Kapitel 2.2.1). Eine Zwischenform des gesteuerten und ungesteuerten Spracherwerbs stellt die Immersion, auch „Sprachbad“ genannt, dar: Dabei fungiert die zu lernende Sprache nicht nur als Unterrichtsgegenstand, sondern als Unterrichtsmedium. Bei Migranten, die in einem fremden Land eine Fremdsprache im Sprachunterricht und in natürlicher Umgebung lernen, liegt auch häufig ein Grenzfall vor, da der Zweitspracherwerb unter verschiedenen Bedingungen (z. B. mit Hilfe von Sprachlehrern und Lernmitteln in einem Sprachkurs und ohne jegliche formelle Steuerung und Kontrolle in der Freizeit) gesteuert und ungesteuert geschieht. Hess-Lüttich weist aber darauf hin, dass das Interesse der deutschen Sprachwissenschaftler, die sich mit dem Problem des Zweitspracherwerbs der Migranten seit der Mitte der 70er Jahre auseinandersetzten, eher auf den ungesteuerten Spracherwerb gerichtet war, da die Arbeitsmigranten aus den südeuropäischen Ländern die Sprache ihres Gastlandes zuerst nicht in Sprachkursen o. ä., sondern in der alltäglichen Kommunikation, lernten. Umso wichtiger seien deshalb die sozialen Faktoren, deren Zusammenhang mit sprachlichen Daten zum Ausgangspunkt der soziolinguistischen Beobachtungen wurde (Hess-Lüttich 1987: 156).
Nach den Ergebnissen des Heidelberger Projektes, bei dem die Relevanz der sozialen Faktoren an der Syntax- und Phonologieentwicklung gemessen wurde, hängt der Sprachlernprozess mit folgenden Faktoren – in abnehmender Bedeutung – zusammen:
- Kontakt mit L1-Deutschen in der Freizeit
- Einreisealter (Alter beim ersten Kontakt)
- Kontakt zu L1-Deutschen am Arbeitsplatz
- Ausbildungsstand (Berufsausbildung und Schulbesuch)
- Aufenthaltsdauer (vgl. Dittmar/Klein 1975, zitiert nach Wode 1988: 326 ff.)
Wie man aus der Liste sehen kann, spielt die Aufenthaltsdauer für den Zweitspracherwerb die geringste Rolle. Die Relevanz dieses Faktors darf aber nicht missachtet werden, denn sie ändert sich im Laufe der Zeit. In den ersten ein bis zwei Jahren wird nämlich ein gewisses Lernniveau aufgebaut, dessen Weiterentwicklung von den übrigen oben genannten Faktoren abhängt, so dass die Bedeutung des Faktors Kontaktdauer nach Ablauf von 2 bis 2,5 Jahren abnimmt.
Für den Bereich der Phonologie ist das Alter bei erstmaligem Kontakt mit der Zweitsprache außerordentlich wichtig, der Einfluss des Faktors Kontakt zu L1-Sprechern in der Freizeit ist dagegen besonders groß für den Syntaxbereich, die Phonologie ist in geringerem Maße betroffen. Intensiver Kontakt zu L1-Sprechern außerhalb des Arbeitsplatzes (beim Einkauf, in der Familie usw.) sorgt für ein quantitativ und qualitativ breiteres Spektrum an sprachlichem Input, als es berufliche Situationen bieten könnten, und für eine lernbegünstigende affektive Grundlage.
Die Faktoren Ausbildungsstand und Kontakt zu L1-Deutschen am Arbeitsplatz stehen im Zusammenhang miteinander, denn je komplexer und diffiziler die Arbeitsabläufe sind, desto intensiver und umfangreicher ist der sprachliche Kontakt zu den L1-sprachigen Kollegen. Außerdem, so Wode, werden hochqualifizierte Immigranten deutlich schneller von der heimischen Bevölkerung akzeptiert (vgl. Wode 1988: 327 ff.).
Wie bereits erwähnt, wird Zweitspracherwerb von mehreren außersprachlichen Faktoren beeinflusst. Im Falle der Einwanderer handelt es sich dabei um Einflüsse, die nicht nur für die Sprachfähigkeiten der Migranten an sich, sondern auch für ihre interethnischen Kommunikationsmöglichkeiten und soziale Integration/Assimilation, als Erklärungsfaktoren dienen. Laut Essers Eingliederungsmodell (1980: 213) gibt es folgende individuelle und soziale Faktoren, die für die Assimilation von Migranten bedeutend sind:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Assimilation(nach Esser 1980: 213)
Die Variablen setzen sich wie folgt zusammen:
- „Motivation (Struktur der Herkunftsregion, Mobilitätschancen, Wanderungsmotiv und –typ, Bezugsgruppenbildung, Ausbildung, Alter, Geschlecht etc.)
- Kognition (kulturelle Ähnlichkeit der beiden Länder, soziale Schicht im Herkunftsland, Aufenthaltsdauer, Anwesenheit von Bezugspersonen etc.)
- Typ der Attribuierung (Ausbildung im Herkunftsland, Mobilitätserfahrung, Alter, Geschlecht etc.)
- Widerstand (Familienstand, Familienvollständigkeit im Aufnahmegebiet, Bezugsgruppen, Segregation, Ausbildung, Kognition, Flexibilität etc.)
- („assimilierte“) Opportunitäten (kulturelle Ähnlichkeiten, Bevölkerungsdefizite, Arbeitsmarktüberlastung, formale Rechte, ungeplante, unvermeidliche, zufällige Kontakte, Anwesenheitsdauer, soziale Schicht, Alter, Geschlecht etc.)
- Barrieren (Vorurteile, Diskriminierungen, Mobilitätschancen, Segregation, ethnische Kolonien, Wanderungsdistanz etc.)
- Alternativen (Zahl der Mitwanderer, ethnische Kolonien, Wanderungsdistanz, kulturelle Ähnlichkeiten zu anderen nicht assimilierten Gruppen etc.)“ (Biehl 1987: 12)
Alle diese Faktoren sind nur in begrenztem Maße unabhängig voneinander. Meistens ergänzen sie sich bzw. hängen auf eine gewisse Weise voneinander ab. Deswegen sollten sie bei soziolinguistischen Untersuchungen und empirischen Forschungen in Verbindung miteinander betrachtet werden.
2.2.3 Spracherhalt
Ein weiteres soziolinguistisches Problem, das im Zusammenhang mit der Migration und dem damit verbundenen Bilingualismus erscheint, ist das Festhalten einer Sprachgemeinschaft bzw. eines Individuums an ihrer/seiner Erstsprache in einer anderssprachigen Umgebung. Wie man aus Zemskajas Klassifizierung der Sprachen sieht (s. Kapitel 2.2.1), haben Kontaktsprachen unterschiedlichen relativen Status für das Individuum. Dabei ist es zu untersuchen, welche der Sprachen eines Zwei- bzw. Mehrsprachigen die dominante ist. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass es mehrere Kriterien gibt, aufgrund welcher eine Sprache als dominant bezeichnet werden könnte. Weinreich (1976: 101 ff.) zählt folgende mögliche Dominanzkriterien auf:
1. Die relative sprachliche Leistung ist das Kriterium, das relativ leicht zu messen ist, wenn die dazu geeigneten Leistungstests zur Verfügung stehen (d.h. Tests, die nicht durch Normen präskriptiver Sprachpflege geprägt sind). Ferner sollte die Leistung für einen bestimmten Zeitpunkt im Leben des Zweisprachigen und in allen Sprachbereichen wie Verstehen, Ausdruck und stumme innere Rede getrennt gemessen werden.
2. Schriftliche oder mündliche Form des Gebrauchs: Die visuelle Verstärkung im Sprachgebrauch durch das Lesen und Schreiben kann diese Sprache in eine dominante Stellung gegenüber einer Sprache bringen, die ausschließlich in gesprochener Form gebraucht wird.
3. Die Reihenfolge der Erlernung: Trotz der verbreiteten Meinung, dass die Muttersprache (die erstgelernte Sprache) per definitionem die dominante ist, kommt es nicht selten vor, dass Zweisprachige im Laufe der Zeit des Kontaktes von L1 und L2 aufgrund bestimmter Umstände ihre Muttersprachleistung in der zweiten Sprache durchaus übertreffen.
4. Das Alter zur Erlernungszeit beeinflusst nicht nur die relative sprachliche Leistung in der Zweitsprache (s. 2.2.2), sondern auch die Selbstidentität des Individuums mit der jeweiligen Sprache.
5. Die Nützlichkeit für Verständigungszwecke kann nicht nur als Lernmotivation angesehen werden, sondern auch zur Quelle von Interferenz werden.
6. Eine affektive Bindung wird von vielen Personen zu der Sprache entwickelt, die sie als erste erlernten. Mit der Muttersprache werden meist Begriffe wie „reich“, „ausdrucksstark“, „schön“ verbunden. Durch die Erstsprache wird es dem Menschen möglich, sich als Ich zu begreifen und zu artikulieren, „die enge Bindung des Selbstkonzepts an die Erstsprache führt dazu, dass manche Menschen Hemmungen haben, eine andere Sprache zu lernen und zu sprechen, weil dies für sie eine Gefährdung ihrer mit der Erstsprache verknüpften Welt darstellt, die Bindung an Familie und Herkunft zu bedrohen scheint. Der mit Migration verbundene Sprachwechsel wird teilweise als Gefährdung der eigenen Identität, als Verlust der eigenen Biographie gesehen“ (Krumm 2004: 21). Ein typisches Beispiel ist der Vergleich der ersten und der vierten Welle der russischen Emigration von Zemskaja: „Они [эмигранты IV волны] не относятся к русскому языку как к святыне (что было свойственно эмигрантам I волны). Они используют его как удобное, легкое для них средство общения, но лишь немногие из них берегут его, стараются сохранить и передать своим детям“ (Zemskaja 2005). Jedoch können affektive Bindungen des späteren Lebens durchaus konkurrierende oder sogar stärkere Bände hervorbringen.
7. Der Wert einer Sprache für soziales Fortkommen oder Prestige ist mehr als jedes andere Dominanzkriterium sozial determiniert und bezieht sich in erster Linie auf die soziale Hierarchie entsprechend Macht und Sozialschichtung (vgl. Glück 2000: 7554). Besitzt eine Sprache ein niedriges Ansehen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie weniger gesprochen wird, als die mit einem höheren Prestige. Besonders deutlich ist dies bei Migrantenkindern zu sehen, die sich weigern, die Sprache ihrer Eltern zu sprechen, denn diese Sprache (und die damit verbundene Gruppenzugehörigkeit) bedeutet für sie automatisch den Verlust des Ansehens ihrer Mitschüler, Freunde usw. In Deutschland z.B. genießt die englische Sprache ein viel höheres Prestige, als die russische, die auch im Bildungssystem kaum gefördert wird.
8. Eng mit dem sprachlichen Prestige und der Einstellung verbunden ist der literarisch-kulturelle Wert der Sprache, die intellektuelle oder ästhetische Wertschätzung des Zweisprachigen für die literarische Kultur, die sich in dieser Sprache artikuliert. In vielen Ländern legt man einen hohen Wert auf Mehrsprachigkeit, die mit Kultiviertheit und hoher Bildung assoziiert wird. Dies kann für einen Migranten ebenfalls ein Anreiz sein, die Erstsprache weiterhin zu erhalten und zu pflegen. Wenn man auf Zemskajas Untersuchung zurückgreift, fällt die Bedeutung dieses Faktors für den Spracherhalt sofort auf: Wenn es bei der ersten (nach der Oktoberrevolution 1917 ausgewanderten), zweiten (Zweiter Weltkrieg) und der dritten (1970er Jahre) Emigrantenwelle meistens (1., 3.) oder sehr oft (2.Welle) um hochgebildete Menschen handelt, die auch im Ausland ihre Russischkenntnisse bewahren, so besitzen viele Emigranten[7] der vierten Welle (seit den 1980er Jahren) keinen Hochschulabschluss, sind niedrig qualifiziert und zeigen kein Interesse daran, ihre Russischkompetenzen zu behalten (vgl. Zemskaja 2001: 35 ff.).
Weiterhin nennt Zemskaja (2001: 209 ff.) noch einige Faktoren, die den Erhalt der russischen Sprachen fördern, und zwar:
- Beruf, der den regelmäßigen Russischgebrauch erfordert (Übersetzer, Lehrer, Journalist, Wissenschaftler, Schriftsteller o. ä.). In diesem Fall wird das Russische zu einem Werkzeug, das gleichzeitig zum sozialen Fortkommen beiträgt;
- individuelle Fähigkeiten des Menschen: Seine Fähigkeiten und sein Interesse zu Sprachen und Literatur, Bildung, psychische Eigenschaften, Willensstärke, Gedächtnis usw. haben eine sehr große Wirkung darauf, ob die Person seine Erstsprache erhält oder aufgibt;
- eine große Rolle kann auch die russisch-orthodoxe Kirche spielen, die in vielen Städten ein Zentrum der russischen Kultur darstellt; die Zugehörigkeit zur orthodoxen Konfession sorgt nicht nur für die Festigung der russischen Selbstidentität und der Zugehörigkeit zur russischen Kulturschicht, sondern auch für mehr oder weniger regelmäßige Kommunikation mit Landesleuten in russischer Sprache.
In der Migrantenforschung ist es zu untersuchen, wie sehr jeweilige Migrantengruppen an ihrer Heimatsprache hängen. Dabei wären langfristige Untersuchungen aufschlussreich, die mehrere Generationen der Einwanderer in Betracht ziehen würden. Glück (2000: 9172) behauptet nämlich, dass es bei Migranten eine Übergangsphase von 2-3 Generationen gibt, „die häufig charakterisiert ist durch Bilingualismus, vielfältige Bemühungen um Spracherhalt und Orientierung der nachwachsenden Generation auf die (sich faktisch zunehmend abschwächende) „eigentliche“ Heimat- bzw. Muttersprache“. Der Sprachwechselprozess lässt sich anhand Abbildung 2 veranschaulichen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 Zweitspracherwerb – Sprachwechsel – Sprachverlust (erstellt nach Glück 2000: 8996, 9172 und Weinreich 1976: 141)
Dieser Vorgang kann sich sowohl innerhalb eines Menschenlebens, als auch über einige Generationen hinweg vollziehen. Wenn man diesen Prozess generationsübergreifend betrachtet, so spielt es offensichtlich eine große Rolle, ob die älteren Generationen Wert darauf legen, ihre Heimatsprache an ihre (Enkel-) Kinder weiterzugeben, und sich darum bemühen. Auch dies kann in Untersuchungen zum Sprachverhalten der Migranten miteinbezogen werden (s. Achterberg 2005: 212 ff.).
2.3 Empirische Studien zum Thema
In der Sprachwissenschaft liegt der Schwerpunkt der Kontaktlinguistik bzw. der Migrantenforschung entweder auf der sprachlichen Struktur, der sprachlichen Interferenzen und Sprachmischungen bzw. Mischsprachen (z.B. Weinreich 1976, Anders 1993, Berend 1998, Meng/Protassova 2005, Zemskaja 2001 und 2005) oder auf dem sozialen Rahmen der Zweisprachigkeit (Dittmar/Klein 1975, Biehl 1987 und 1996, Krumm 2004, Ostermann/Chlosta 2004, Achterberg 2005). Die älteren Untersuchungen befassen sich aber vorwiegend mit der Sprache süd- oder südosteuropäischer Migranten (was auch historisch erklärbar ist, denn Arbeitsmigranten gibt es in Deutschland seit ca. 50 Jahren, während es sich bei der Geschichte der jüdischen Einwanderung um weniger als 20 Jahre handelt), das Sprachverhalten der slavophonen Migranten in Deutschland war dagegen nur selten Forschungsgegenstand. Wenn doch, dann handelte es sich meistens um Spätaussiedler aus Osteuropa (Anders 1993, Biehl 1996, Berend 1998, Zemskaja 2001 und 2005, Meng/Protassova 2005) oder um alle slavischsprachigen Einwanderer (Achterberg 2005). Die Besonderheiten der zahlreichen Gruppe der jüdischen Emigranten aus den GUS-Staaten in sprachlicher Hinsicht blieben aber unerforscht. Es gibt lediglich einige soziologische Arbeiten zu Integrationsproblemen dieser Migrantengruppe (Mertens 1993, Runge 1995, Gruber 1999, Schoeps et al. 1996 und 1999b, Becker 2001, Sticken 2002, Gruber/Rüßler 2002, Weiss 2002, Kessler 2003, Haug 2005), die zwar unter anderem sprachliche Probleme der jüdischen Migranten behandeln, jedoch ohne darauf explizit einzugehen. In der Regel werden in solchen Werken nur die Deutschkenntnisse beurteilt sowie Probleme beim Deutscherwerb und ihre möglichen Ursachen angedeutet.
Obwohl bisher keine empirischen Untersuchungen zum sprachlichen Verhalten der jüdischen Kontingentflüchtlinge in Deutschland vorhanden sind, gibt es dennoch einige soziologische Arbeiten, die in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind. Dazu gehören vor allem die Umfragestudien von Schoeps et al., Gruber/Rüßler, Kessler und Sticken sowie die Interviewstudien von Runge und Becker.
In den Jahren 1994 und 1998 wurden zwei Studien in verschiedenen deutschen Städten durch das Moses Mendelssohn Zentrum durchgeführt (Schoeps et al. 1996, 1999b). An der ersten Studie nahmen 413 Befragte teil, an der zweiten beteiligten sich 968 Personen. Das Ziel, das die Autoren verfolgten, war es, mit Hilfe von Fragebogen „den Integrationsverlauf beziehungsweise die Probleme der jüdischen Zuwanderer (…) zu ermitteln“ (Schoeps et al. 1999b: 38). Im Mittelpunkt der ersten Befragung stand die Frage nach den Migrationsgründen der jüdischen Einwanderer, während die zweite Befragung sich eher auf die berufliche Situation der Neuzuwanderer richtete. Dabei wurden soziologische Daten wie Alter, Herkunft, Bildung, Beruf, Wohnsituation und gesellschaftliche Kontakte erfasst, das Sprachverhalten wurde allerdings nur im Kontext der Sprachbarrieren erforscht. Beide Studien untersuchten unter anderem soziale Gründe für Sprachschwierigkeiten der jüdischen Immigranten, was sie auch für soziolinguistische Forschungen relevant macht.
Die Studie zur Integration jüdischer Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen, die das Hochschuldidaktische Zentrum der Universität Dortmund durchführte, (Gruber 1999, Gruber/Rüßler 2002) bezieht sich auf Fragen der beruflichen Qualifikation und der Arbeitsmarktintegration. Die Studie basiert zum einen auf einer Auswertung der Daten der eingereisten Kontingentflüchtlingen in der Landesaufnahmestelle Unna-Massen, zum anderen auf einer Befragung (in Interviewform) von 30 hochqualifizierten jüdischen Zuwanderern. Die Autoren kamen dabei zum Ergebnis, dass deutsche Sprachkenntnisse zwar ein notwendiger Faktor für die Integration seien, aber keine Schlüsselfunktion bei der Integration einnähmen. Ferner vermutet Gruber aufgrund der Umfrage von 30 jüdischen Migranten, dass ihre Motivation beim Deutschlernen etwas stärker ist, als die bei den (Spät-)Aussiedlern (Gruber 1999: 287).
Judith Kessler (2003) erarbeitete einen Fragebogen, der seit 1990 für jedes neuzugewanderte Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Berlin ausgefüllt wurde. Der Fragebogen umfasst u. a. demografische Daten wie Alter, Geschlecht, Geburts- und Wohnort, Familienstand usw. sowie Bildung, Beruf und Sprachkenntnisse. Das Problem an dieser Befragung besteht aber darin, dass nur Personen, die nach dem jüdischen Recht Juden sind, befragt wurden; deren nichtjüdische Familienmitglieder blieben unberücksichtigt, was die Studie nur bedingt repräsentativ macht. Wie auch in vielen anderen Werken über Kontingentflüchtlinge, wird hier das Thema des neuen Judentums in Deutschland und der Bereicherung der jüdischen Gemeinden durch die osteuropäischen Zuwanderer behandelt. Dabei enthält die Untersuchung wertvolle Angaben zum Spracherwerb der jüdischen Flüchtlinge, die Autorin beschreibt Korrelationen zwischen Alter, Geschlecht, Familienstand bzw. Familienzusammensetzung der Migranten und ihren Deutschkenntnissen. Sie bezeichnet den Umgang mit der deutschen Sprache als „eines der ersten und gleichzeitig dauerhaftesten Probleme“ und bemerkt, dass der Spracherwerb die Möglichkeiten in der neuen Umgebung beeinflusst, von ihnen seinerseits aber auch beeinflusst wird.
Die Umfrage von Sticken (2002) wurde in Aufnahmeheimen in Niedersachsen und Bayern durchgeführt und umfasste rund 450 Migranten. Der Autor untersucht mit einem umfangreichen Fragebogen ökonomische, soziale, politische und rechtliche Aspekte der Integration osteuropäischer Juden, die sprachlichen Aspekte werden aber nur am Rande erwähnt.
Die Arbeit von Irene Runge (1995) trägt den aussagekräftigen Titel „Ich bin kein Russe“ und beschäftigt sich mit der jüdischen Identität als solcher. Die Autorin stellt sich die Frage „Wer ist ein Jude?“ und setzt sich damit auseinander, indem sie die Geschichte der Juden in der Sowjetunion und ihrer Zuwanderung nach Deutschland untersucht und einige Zuwanderer unterschiedlichen Alters und Hintergrunds interviewt. In dieser Arbeit werden auch manche ethnolinguistische Ansätze behandelt, besonders die Rolle des Jiddischen als Zeichen der „Jüdischkeit“[8] sowie als eines der Faktoren, der das Deutschlernen erleichtern kann (vgl. Runge 1995: 29).
Drei Fallstudien, die von Becker (2001) durchgeführt wurden, „geben Aufschluss über die Spezifik eines Migrationsprozesses, der unter besonderen historischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen verläuft“ (Becker 2001: 220). Bei diesem Forschungsprojekt wurde die jüdische Zuwanderung als eine biographische Erfahrung betrachtet, die Hauptfragen ähnelten diesen von Runge (1995): Mit welcher Ethnizität identifizieren sich die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einreisenden Juden? Was heißt für sie „Jude sein“, „Russe sein“, „Deutsch sein“, „Einwanderer sein“? Lassen sich diese Identitäten miteinander vereinbaren? 21 Migranten wurden für die Studie interviewt, auch die deutsche Einwanderungspolitik wurde unter die Lupe genommen, um Eigen- sowie Fremdbilder der jüdischen Zuwanderer zu präsentieren. Sprachliche Probleme werden in Beckers Arbeit nicht behandelt, dafür wird aber der soziale Rahmen der jüdischen Migration detailliert dargestellt.
Eine besondere Stellung unter den sprachwissenschaftlichen Werken zur Migrantensprache in Deutschland, die in der Einleitung vorliegender Arbeit aufgezählt werden, nehmen die Untersuchungen von Biehl (1996) und Achterberg (2005) ein.
Die linguistischen Untersuchungen innerhalb des Duisburger Projekts zur „Eingliederung von Aussiedlern“ behandeln den Zweitspracherwerb und die Entwicklung der Mehrsprachigkeit von aus Polen stammenden Spätaussiedlern. Dabei wurden 224 Eltern befragt und um Auskünfte über ihre Sprachkenntnisse und ihr Sprachverhalten gebeten. Zusätzlich wurden mündliche und schriftliche Sprachdaten von 171 Grundschülern erhoben und ein Lückentext sowie eine Bildergeschichte entwickelt, die grammatische und lexikalische Kenntnisse sowie Sprachproduktion ermitteln sollten. Die Fragen zum sozialen Hintergrund bezogen sich auf folgende Bereiche: Aufenthaltsdauer, Schulbesuchdauer in Polen und in Deutschland (Kinder), Herkunft der Familie (Stadt-Land), Gründe für die Ausreise, Schulbildung der Eltern, Berufe der Eltern im Herkunftsland und in Deutschland, Deutschkenntnisse im Elternhaus, Stellenwert der deutschen im Vergleich zur polnischen Sprache, Kontakt zu Deutschen, Wohnverhältnisse, religiös-kulturelle Bindungen der Familie, Heimatkontakte (vgl. Biehl 1996: 179). Es wurde also versucht, die Interdependenz sozialer und sprachlicher Daten bei den relativ inhomogenen Gruppen[9] der polnischen Aussiedler zu ermitteln.
Eine umfassendere Untersuchung im Bereich der slavischen Migrationsidiome stellt das Werk von Achterberg (2005) dar. Es basiert auf der Grundlage einer Enquete, die 2003-2004 am Institut für Slavistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wurde. An der empirischen Befragung zum Thema Vitalität slavischer Idiome in Deutschland nahmen ca. 500 slavophone Zuwanderer teil, die Angaben zu ihren soziographischen (Herkunftsland, Alter und Geschlecht, Einreisealter und Aufenthaltsdauer, Konfession, Familienstand und interethnische Ehen, Netzwerk und soziale Stellung) sowie sprachsoziologischen Daten machten. Unter den letzteren befanden sich folgende Bereiche: sprachliche Primärsozialisation, Sprachkompetenz in Erst-, Zweit- und Fremdsprachen, Sprachgebrauch im Herkunftsland und in Deutschland, Identität, Religion und Ethnokultur, Attitüden zu Sprachen sowie Heimat- bzw. Einreiseland. Das Ziel der Arbeit war die Erforschung des aktuellen Sprachverhaltens von slavophonen Einwanderern und die Bestimmung der Vitalität ihrer Muttersprachen in der Diaspora. Der Schwerpunkt der gründlichen theoretischen Fundierung und der umfangreichen empirischen Studie lag auf der Problematik des Spracherhalts.
[...]
[1] Teilstatistik: „Ausländer- und Flüchtlingszahlen“
[2] Nach Angaben von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften:
Siehe auch Statistik der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung für Migration und Flüchtlinge (S. 5, Abb. 1)
[3] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Integration.
[4] Uriel Weinreich versteht unter Sprachenkontakt die Sprachen, die „von einunddenselben Personen abwechselnd gebraucht werden“ (Weinreich 1976: 15).
[5] Glück und Bußmann definieren Diglossie als eine weitere Form von Zweisprachigkeit, die sich nicht auf zwei eigenständige Sprachen, sondern nur auf Varietäten derselben Sprache bezieht (s. Glück 2000 : 2267 und Bußmann 2002 : 167)
[6] vgl. Glück (2000: 11204) und Felix (1982: 10).
[7] „Но особенно много их в Германии среди той части эмиграции, которую составляют так называемые «русские немцы», т.е. немцы, возвращающиеся на свою историческую родину в Германию из Поволжья, Казахстана, Сибири, и члены их семей“ (Zemskaja 2001: 43)
[8] Jüdischkeit (oder Jiddischkeit) ist ein jüdischer Begriff und bedeutet die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, zu jüdischer Kultur, den „Geist des Judeseins“.
[9] „Dabei reicht die Skala von jenen Sprechern, die über die Grammatik der Standardvarietät des Deutschen weitgehend verfügen, über jene, deren Umgangsvarietät dem Deutschen in der Bundesrepublik wenigsten so nahe ist, dass Verständigungsprobleme gering sind, bis zu jenen, die sich nur mühsam oder – am Anfang gar nicht – verständlich machen können oder sprachliche Äußerungen anderer verstehen können“ (Biehl 1996: 176)
- Quote paper
- M. A. Olena Kyselova (Author), 2007, Probleme bei der sprachlichen Integration der Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77617
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