Ausgerechnet Schnitzlers Traumnovelle als Vorlage für eine Untersuchung zum Fremd- und Selbstverständnis einer Ehefrau als Individuum zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu wählen, könnte auf den ersten Blick als etwas unglücklich erscheinen. Insofern nämlich, dass der Rezipient in meist (Kapitel zwei bis sieben) personaler Er-Erzählung den Handlungsablauf aus der subjektiven Sicht Fridolins, also des Ehemannes, und nicht aus dem Blickwinkel der Ehefrau Albertine erfährt. Arthur Schnitzler gewährt uns Einblick in das Seelenleben dieser einzelnen Person, andere Personen erscheinen nur durch Spiegelung im Bewusstsein dieser Person1. Wie kann also dennoch das Selbstverständnis Albertines untersucht werden? Ermöglicht aber nicht gerade die stark subjektive Vermittlung der Ereignisse dem Rezipienten, Abstand zu nehmen?
Inhalt
1. Eine Einführung
1.1 Die Traumnovelle als Musterbeispiel für einen Rollenkonflikt? – Mögliche Problemstellungen und Fragen an den Text
1.2 Die Frau in der Wiener Gesellschaft um 1900
2. Der Konflikt von Eros und Ethos
2.1 Albertine im Fremdverständnis Fridolins
2.2 Albertines Selbstverständnis
2.2.1 Albertines Umgang mit ihren Wünschen auf realer Ebene
2.2.2 Die Verarbeitung ihres Konfliktes im Traum
3. Eine abschließende Betrachtung
3.1 Löst sich Albertines Konflikt?
Literaturverzeichnis
1. Eine Einführung
1.1 Die Traumnovelle als Musterbeispiel für einen Rollenkonflikt? – Mögliche Problemstellungen und Fragen an den Text
Ausgerechnet Schnitzlers Traumnovelle als Vorlage für eine Untersuchung zum Fremd- und Selbstverständnis einer Ehefrau als Individuum zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu wählen, könnte auf den ersten Blick als etwas unglücklich erscheinen. Insofern nämlich, dass der Rezipient in meist (Kapitel zwei bis sieben) personaler Er-Erzählung den Handlungsablauf aus der subjektiven Sicht Fridolins, also des Ehemannes, und nicht aus dem Blickwinkel der Ehefrau Albertine erfährt. Arthur Schnitzler gewährt uns Einblick in das Seelenleben dieser einzelnen Person, andere Personen erscheinen nur durch Spiegelung im Bewusstsein dieser Person[1]. Wie kann also dennoch das Selbstverständnis Albertines untersucht werden? Ermöglicht aber nicht gerade die stark subjektive Vermittlung der Ereignisse dem Rezipienten, Abstand zu nehmen?
Weiterhin sehen einige Interpreten[2] allein in der symmetrischen Anlage der Novelle – mit dem ursprünglichen Arbeitstitel „Doppelnovelle“[3] - bereits eine Art Gleichstellung der Ehepartner impliziert. Interessant für eine Untersuchung ist gemeinhin jedoch eher die konfliktreiche, d.h. dem Ehemann über- oder untergeordnete Stellung der Frau in der Ehe, was bei der Annahme der Gleichstellung nicht gegeben wäre. Ist durch den doppelten Kreislauf, durch die Parallelität des Ablaufs der Erlebnisse aber nicht lediglich angelegt, dass die Eheleute am Ende der Novelle „erwacht“[4] zueinander finden? Muss dies eine Lösung der Rollenproblematik einschließen? Ein weiterer Einwand könnte sein, dass im Werk Arthur Schnitzlers - auf die gesellschaftliche Rolle der Frau bezogen - um einiges konfliktreichere Prosa existiert, wie etwa die Erzählung „Fräulein Else“, die die Schranken der individuellen Entfaltung als Frau deutlicher zu thematisieren scheint. Bei Else kommt es jedoch nicht zur Sozialisation durch Eheschließung. Hier scheitert die Protagonistin bereits früh an ihrem Willen, über ihre eigene Sexualität verfügen zu können[5]. Aber gerade die Ehe als Institution schränkt die Frau um 1900 als Individuum in ganz eigener Weise ein, ist sie doch gleichzeitig die einzig sozialisierte Möglichkeit zur persönlichen, insbesondere zur sexuellen Entfaltung für eine Frau. Und diesen individuellen Konflikt zwischen Selbstentfaltung und gleichzeitiger Einschränkung thematisiert Schnitzler in seiner Darstellung des Unterbewussten, bzw. Halbbewussten[6], und Bewussten der Figuren der Traumnovelle, in das er dem Rezipienten Einblick gewährt. Die Darstellung der Tages- und Nachtseiten der Charaktere offenbart tiefe Einsicht in zu Beginn des 20.Jahrhunderts offensichtlich nicht aussprechbare Wünsche und Gedanken, die aber für eine Interpretation des Selbst- und Fremdverständnisses einer jungen Frau in der Darstellung eines Literaten der Wiener Moderne entscheidend sind. Der Tag zeigt das Alltagsgeschehen einer harmonierenden Kleinfamilie, erst die Nacht erhellt das Innere der Figuren. Möchte man daher den inneren Konflikten der zu betrachtenden Figur auf den Grund gehen, müssen insbesondere die nächtlichen Abenteuer Fridolins in traumähnlicher Realität und der lebensnahe Traum Albertines untersucht werden. In welchem soziokulturellen Kontext ist die Traumnovelle entstanden? Welche Vorgaben der sittlichen, durch Gewohnheit („ethos“[7] ) zu erwerbenden Tugenden sind es, die den Eros („Liebe“, auch "Jagd", "Begierde", "Verlangen"[8] ) einschränken? Wie versteht sich Albertine selbst, welche Erwartungen stellt die Gesellschaft, also auch ihr Ehemann, an sie als eine junge Frau bzw. Ehefrau? Löst sie ihren Rollenkonflikt? Antworten anhand des Textes selbst und seiner zeitlichen Einordnung in gesellschaftliche Umstände zu finden, soll im folgenden meine Aufgabe sein.
1.2 Die Frau in der Wiener Gesellschaft um 1900
„Alles an uns ist Toilette und am liebsten möchte man unseren armseligen Herzen, die die liebe Natur ja ganz so erschaffen hat, wie die der Männer, noch Handschuhe anziehen.“[9] Dieser Auszug aus einem Brief an Arthur Schnitzler enthält Vorwurf und Resignation zugleich. Olga Waissnix bringt auf den Punkt („Herzen wie die der Männer“), was Lessing seiner Heldin Emilia Galotti mehr als einhundert Jahre zuvor bereits in den Mund gelegt hatte, die erkennt: „Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne.“[10] Ihre erotische Lebendigkeit gesteht Emilia so vor ihrem Vater ein und sieht selbst als einzigen Ausweg aus diesem engen Korsett - dem moralischen Ethos - das die Gesellschaft ihr schnürt, den Tod.
Sexualität und Liebe sind an die Institution Ehe gebunden, die so die einzige Möglichkeit zur Triebbefriedigung innerhalb der Gesellschaft bietet[11], andere Formen der erotischen Selbstentfaltung existieren für eine Frau nicht. Dies hat sich auch auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert nicht geändert. In Auge sticht in diesem Zusammenhang jedoch die offensichtliche Doppelbödigkeit der Moral[12] des zeitgenössischen Bürgertums, das in leichtlebiger Genusssucht und selbstgenügsamer Zufriedenheit[13] die männliche Triebhaftigkeit (z.B. sexuelles Ausleben vor der Ehe) als gegeben hinnimmt, während weibliches Verlangen schlichtweg negiert wird. Schnitzlers Zeitgenosse August Bebel verurteilt die Wiener Gesellschaft zwischen Bürokratisierung[14], militaristischem Eifer und Antiintellektualismus[15] in folgendem Bild:
„Unsere bürgerliche Gesellschaft gleicht einer großen Karnevalsgesellschaft, in der einer den anderen zu täuschen und zum Narren zu halten versucht. Jeder trägt seine offizielle Verkleidung mit Würde, um nachher inoffiziell um so ungezügelter seinen Neigungen und Leidenschaften zu frönen. Und äußerlich trieft alles von Moral, Religion und Sittlichkeit.“[16]
Bebel beklagt das Nicht-Übereinstimmen zwischen nach außen getragener, sittlich verpackter „Verkleidung“ und tatsächlicher innerer Empfindung. Er greift hier zum Vergleich mit einer Karnevalsgesellschaft und liefert gleichzeitig ein Leitmotiv der Traumnovelle, das Maskieren.
Auf dem Nährboden ernsthaft diskutierter pseudowissenschaftlicher Veröffentlichungen[17] wie „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ des Neurologen Paul Möbius und dem Erfolg von Frauen gänzlich Individualität absprechenden Thesen wie in Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“[18], kann eine solche Doppelmoral jedoch prächtig gedeihen. Auch intellektuelle Vorbilder und Autoritäten wie Schopenhauer und Nietzsche tragen zu einer emanzipationsfeindlichen Stimmung[19] bei. Der Rolle der quasi asexuellen Hausfrau und Mutter steht die der verkommenen amoralischen Weiblichkeit – die Frau als Objekt, nicht als Subjekt - gegenüber, individuelle Abstufungen werden nicht wahrgenommen[20]. Ein Leben in Erfüllung von Eros und Ethos ist für die Frau um 1900, wenn nicht unmöglich, dann nur in Ausnahmefällen denkbar und mit erheblichen Einschränkungen. Die Möglichkeit, ihre Neigungen und Leidenschaften inoffiziell auszuleben, hat sie nicht, ohne aus dem gesellschaftlichen Raster zu fallen. „Um die vom Sexus drohende Gefahr zu bannen, begnügt man sich mit der Domestizierung des weiblichen Triebes.“[21] [Hervorh. d. Verf.]
In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Vorgänge in der dargestellten Geheimgesellschaft von großem Interesse. Den sich entblößenden Frauen treten prachtvoll gekleidete Kavaliere gegenüber[22], einer Reduktion auf Genießer und Opfer, auf Nehmende und Gebende entsprechend.[23] Aber es handelt sich dennoch um eine sadistisches Auftreten der Frauen gegenüber einem masochistischen Verhalten der Männer[24]. Gleichzeitig ist es in dieser geheimen Gesellschaftsmaskerade geradezu überlebenswichtig, Individualität durch Verhüllung auszuschließen, während Nacktheit als Konvention gefordert wird. Bezeichnenderweise ist somit der Reiz, der zur orgiastischen Befriedigung führen soll, die Umkehr der alltäglichen gesellschaftlichen Verhältnisse[25]. Ein weiteres Indiz für eine im doppelten Sinne unbefriedigende Gesellschaftsstruktur, in der die Frau das größte Opfer bringen muss: ihren Eros.
[...]
[1] Rudolf Lantin: Traum und Wirklichkeit in der Prosadichtung Arthur Schnitzlers,
[2] William H. Rey: Arthur Schnitzler,
[3] Hartmut Scheible: Schnitzler,
[4] TN,
[5] Barbara Lersch-Schumacher: „Ich bin nicht mütterlich“,
[6] Michael Scheffel: „Ich will Dir alles erzählen“,
[7] Rafael Capurro: Einführung in die Ethik
[8] Claudia Althaus: Die Macht des Eros
[9] Barbara Gutt: Emanzipation bei Arthur Schnitzler,
[10] Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti,
[11] Barbara Gutt: Emanzipation bei Arthur Schnitzler,
[12] Ebd.
[13] Leiß/Stadler: Wege in die Moderne,
[14] Leiß/Stadler: Wege in die Moderne,
[15] Leiß/Stadler: Wege in die Moderne,
[16] August Bebel inBarbara Gutt: Emanzipation bei Schnitzler,
[17] Leiß/Stadler: Wege in die Moderne,
[18] Leiß/Stadler: Wege in die Moderne,
[19] Barbara Gutt: Emanzipation bei Schnitzler,
[20] Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler und die Aufklärung,
[21] Barbara Gutt: Emanzipation bei Schnitzler,
[22] TN,
[23] Michaela Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne,
[24] TN, S. 42 „Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern, die nach einem tiefen Weh klangen; [...] stürzten sie alle[...] zu den Frauen hin, wo ein tolles, beinahe böses Lachen sie empfing.“
[25] Michaela Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne,
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- Magistra Artium Katharina Kirsch (Author), 2002, Der Konflikt von Eros und Ethos - Fremd- und Selbstverständnis einer jungen Ehefrau zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Traumnovelle von Arthur Schnitzler, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7757
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