Peter Weiss löst mit seinem Drama Die Ermittlung vor der Uraufführung im Jahre 1965 bei der Kritik heftige Proteste aus. Viele der Rezensenten assoziieren mit dem Bühnenwerk unmittelbar den Ausspruch Adornos: „[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch [...].“ – Gemäß diesem vielzitierten Diktum des Frankfurter Philosophen, welches wohl auf alle literarischen Gattungen und ebenso auf andere Kunstformen übertragen werden kann und in aktuellen Diskussionen über das Gedenken an den Holocaust noch immer angeführt wird –, wäre eine Literatur nach Auschwitz und erst Recht ein Theaterstück über Auschwitz nicht denkbar.
Peter Weiss gibt Adorno Recht darin, daß Auschwitz als Ganzes nicht faßbar sei, sondern lediglich ein Ausschnitt aus dieser Thematik künstlerisch umgesetzt werden könne. Allerdings ist für Weiss, gerade wegen der Unfaßbarkeit des Holocausts, die künstlerische Darstellung solcher Ausschnitte nötig, da der Fakt, daß die Schoah stattgefunden hat, „Bestandteil unseres Lebens ist“.
Der Dramatiker Weiss ist sich der Problematik der literarischen Ästhetisierung des Holocausts spätestens bei Erscheinen des Hochhuth Dramas Der Stellvertreter aus dem Jahr 1963, in dem der letzte Akt im Lager Auschwitz spielt, vollkommen bewußt. Noch 1964 schreibt er: „Wir müssen etwas darüber sagen. Doch wir können es noch nicht.“ Im Gespräch mit Girnus / Mittenzwei bemerkt er ebenfalls dazu: „Das Lager Auschwitz oder welches Lager auch immer auf der Bühne darzustellen, ist eine Unmöglichkeit. Ja eine Vermessenheit, es überhaupt nur zu versuchen, man kann diesen Gedankenkomplex überhaupt nur von heute aus im Rückblick beobachten und versuchen zu analysieren, was da vorgegangen ist.“
Weiter notiert er in den Anmerkungen zur Ermittlung, daß die Rekonstruktion des Prozesses über die Auschwitz-Täter ihm anfänglich ebenso unmöglich erschien, „wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.“ (9) Doch bereits kurz nach Beginn des Frankfurter Prozesses revidiert Weiss seine Ansicht in dieser Beziehung und merkt an: „zuerst dachte ich, es ließe sich nicht beschreiben, doch da es Taten sind, von Menschen an Menschen begangen –“ So entschließt sich Weiss, Auschwitz als Chiffre für das Äußerste, was Menschen anderen Menschen antun können, in der Ermittlung indirekt über den Frankfurter Prozeß auf die Bühne zu holen. In der Wahl seiner Mittel, die, wie er oben einräumt, dem Thema Holocaust nur sehr schwer gerecht werden können, geht er einen anderen Weg als Hochhuth. Er reduziert ihren Einsatz auf ein Minimum – ein Versuch, dem er übrigens sehr kritisch gegenübersteht, denn er äußert die Befürchtung, die Darstellung der Schrecken könne dem Rezipienten eine „heile Welt“ vorgaukeln – was natürlich nicht Sinn der Ermittlung sein soll. So rechtfertigt Weiss in seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des Lessingpreises der Freien Hansestadt Hamburg am 23. April 1965 die Form der Ermittlung und stellt fest: „daß die Verwendung dieser kaum mehr tauglichen Mittel besser ist als das Schweigen und die Fassungslosigkeit.“
Die Art und Weise wie Peter Weiss das ihm vorliegende Material verarbeitet, interpretiert und auf die Bühne bringt, soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Daneben wird der Frage nachgegangen, welche Gestaltungsmittel der Autor benutzte und welche aufgrund des Themas Auschwitz versagen müssen. Abschließend soll Die Ermittlung im Kontext aktueller politischen Debatten um Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik betrachtet werden.
Im folgenden werden jedoch zunächst die biographischen Bezüge Weiss’ zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und zum Ort Auschwitz aufgezeigt, dann in einem Exkurs das dokumentarische Theater als beliebtes Genre der sechziger Jahre vorgestellt und schließlich das Rohmaterial für Die Ermittlung, der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, knapp skizziert.
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung: Die Ermittlung – ein Theaterstück nach Auschwitz über Auschwitz?
I. Peter Weiss und Auschwitz
II. Exkurs: Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre
III. Das historische Material der Ermittlung: Die Strafsache gegen Mulka u. a.
IV. Die Ermittlung als dokumentarisches Theaterstück
V. „Ganz normale Männer“ – Die Täter im Frankfurter Prozeß und in der Ermittlung
V.1 Der Angeklagte Mulka
V.2 Der Angeklagte Broad
V.3 Der Angeklagte Stark
V.4 Der Angeklagte Dr. Lucas
VI. Kritik an der Ermittlung und am Dokumentarischen der Ermittlung
VII. Resümee
VIII. Literaturverzeichnis
a) Werke, Dokumentationen, Gespräche
b) Literatur (Bibliographie)
Einleitung: Die Ermittlung – ein Theaterstück nach Auschwitz über Auschwitz?
Peter Weiss löst mit seinem Drama Die Ermittlung vor der Uraufführung im Jahre 1965 bei der Kritik heftige Proteste aus.[1] Zeitgenössische Rezensenten assoziieren mit dem Bühnenwerk unmittelbar den Ausspruch Adornos: „[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch [...].“[2] Gemäß diesem vielzitierten Diktum des Frankfurter Philosophen, welches auf alle literarischen Gattungen und ebenso auf andere Kunstformen übertragen werden kann und in aktuellen Diskussionen über das Gedenken an den Holocaust noch immer angeführt wird, wäre eine Literatur nach Auschwitz und erst Recht ein Theaterstück über Auschwitz nicht denkbar.[3]
Peter Weiss gibt Adorno Recht darin, daß Auschwitz als Ganzes nicht faßbar sei, sondern lediglich ein Ausschnitt aus dieser Thematik künstlerisch umgesetzt werden könne. Allerdings ist für Weiss, gerade wegen der Unfaßbarkeit des Holocausts, die künstlerische Darstellung solcher Ausschnitte nötig, da der Fakt, daß die Shoah stattgefunden hat, „Bestandteil unseres Lebens ist“.[4]
Der Dramatiker Weiss ist sich dabei der Problematik der literarischen Ästhetisierung des Holocausts, spätestens bei Erscheinen des Hochhuth Dramas Der Stellvertreter aus dem Jahr 1963, dessen letzter Akt im Lager Auschwitz spielt,[5] vollkommen bewußt. Noch 1964 schreibt Weiss: „Wir müssen etwas darüber sagen. Doch wir können es noch nicht.“[6] Im Gespräch mit Girnus/Mittenzwei bemerkt er ebenfalls dazu: „Das Lager Auschwitz oder welches Lager auch immer auf der Bühne darzustellen, ist eine Unmöglichkeit. Ja eine Vermessenheit, es überhaupt nur zu versuchen, man kann diesen Gedankenkomplex überhaupt nur von heute aus im Rückblick beobachten und versuchen zu analysieren, was da vorgegangen ist.“[7] Weiter notiert der Dramatiker in den Anmerkungen zur Ermittlung, daß die Rekonstruktion des Prozesses über die Auschwitz-Täter ihm anfänglich ebenso unmöglich erschien, „wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.“ (9)[8]
Doch bereits kurz nach Beginn des Frankfurter Prozesses revidiert Weiss seine Ansicht in dieser Beziehung und merkt an: „zuerst dachte ich, es ließe sich nicht beschreiben, doch da es Taten sind, von Menschen an Menschen begangen –“[9] So entschließt sich Weiss, Auschwitz als Chiffre für das Äußerste, was Menschen anderen Menschen antun können, in der Ermittlung indirekt über den Frankfurter Prozeß auf die Bühne zu holen. In der Wahl seiner Mittel, die, wie er oben einräumt, dem Thema Holocaust nur sehr schwer gerecht werden können, geht er einen anderen Weg als Hochhuth. Er reduziert ihren Einsatz auf ein Minimum – ein Versuch, dem er übrigens sehr kritisch gegenübersteht, denn er äußert die Befürchtung, die Darstellung der Schrecken könne dem Rezipienten eine „heile Welt“[10] vorgaukeln, was natürlich nicht Sinn der Ermittlung sein soll. So rechtfertigt Weiss in seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des Lessingpreises der Freien Hansestadt Hamburg am 23. April 1965 die Form der Ermittlung und stellt fest: „daß die Verwendung dieser kaum mehr tauglichen Mittel besser ist als das Schweigen und die Fassungslosigkeit.“[11]
Die Art und Weise wie Peter Weiss das ihm vorliegende Material verarbeitet, interpretiert und auf die Bühne bringt, soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Daneben wird der Frage nachgegangen, welche Gestaltungsmittel der Autor benutzt und welche aufgrund des Themas Auschwitz versagen müssen. Abschließend soll Die Ermittlung im Kontext aktueller politischen Debatten um Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik betrachtet werden.
Im folgenden werden jedoch zunächst die biographischen Bezüge Weiss’ zur nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und zum Ort Auschwitz aufgezeigt, dann in einem Exkurs das dokumentarische Theater als populäres Genre der sechziger Jahre vorgestellt und schließlich das Rohmaterial für Die Ermittlung, der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, knapp skizziert.
I. Peter Weiss und Auschwitz
Peter Weiss wurde 1916 als Sohn eines ursprünglich ungarischen Kaufmanns mit tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft und einer Schweizer Schauspielerin mit französischen Eltern in Nowawes bei Berlin geboren. Die Kindheitsjahre verbrachte er in der bürgerlich aufstrebenden Familie in Deutschland. Der Vater war ein getaufter Jude, weshalb die Familie 1934 angesichts zunehmender antisemitischer Diskriminierungen nach London emigrierte, von wo Peter Weiss 1936 ohne seine Eltern nach Prag zog. Vor dem drohenden „Anschluß der Resttschechei“ floh er 1938 erneut vor den Nationalsozialisten über Zürich, mit seinem tschechischen Paß dann durch Deutschland, nach Schweden.[12] Diese bewegte Biographie läßt Peter Weiss in einem Interview auf die Frage nach seiner Nationalität antworten: „Ich war nie Deutscher.“[13]
Welcher Ortschaft für ihn in seinem Leben die prägendste Bedeutung zukommt, beantwortete er 1965 in dem erschütternden Auschwitz-Essay Meine Ortschaft folgendermaßen:
Nur diese eine Ortschaft, von der ich seit langem wußte, doch die ich erst spät sah, liegt gänzlich für sich. Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren. Ich habe keine andere Beziehung zu ihr als daß mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten. Zwanzig Jahre danach habe ich diese Ortschaft gesehen. Sie ist unveränderlich. Ihre Bauwerke lassen sich mit keinen anderen Bauwerken verwechseln.[14]
Peter Weiss deutet Auschwitz, das er im Rahmen des Frankfurter Prozesses besucht hatte, als den bestimmenden Bezugspunkt seiner persönlichen Lebensgeschichte. Die Auschwitzproblematik thematisiert er erstmalig in seinem Prosawerk Fluchtpunkt (1961), in dem er seine Reaktionen auf Dokumentarfilme über Auschwitz schildert. Während seines eintägigen Besuchs am 13. Dezember 1964 „inventarisiert“ er den Ort des Grauens wie folgt:
Waschraum, Fußboden geteert. Schwarze Rohre. Große Schaufeln. Eine Bahre aus Leinwand. Die Tröge an den Wänden wie für Vieh. Schubkarren. Unheimliche Stangen. [...]
4 Stehzellen. Größe 50 mal 50 cm. Höhe 2m. Luftloch 5:8 cm. Betonboden. Die schwere Eichentür hat unten eine Klappe zum Hineinkriechen. Eiserne Verschläge an der Tür und Guckloch. [...]
Der Hof: Boden aus glattgewalztem Sand zu den Seiten steinerner Saum, darin die Abflußrinne.[15]
Die Perspektive des zufällig Überlebenden erleichtert es ihm jedoch keineswegs über die Ereignisse zu schreiben. Schuldgefühle plagen ihn, der der Vernichtungsmaschinerie – anders als einige seiner engen Jugendfreunde – entkommen war, zeitlebens. Die intensive Beschäftigung mit dem Holocaust bewirkte bei Weiss zunächst „eine fundamentale Sprach- und Fassungslosigkeit und die Erfahrung eines totalen Sinnverlustes.“[16], die er aber, wie eingangs erwähnt, während des Frankfurter Prozesses überwinden sollte.
II. Exkurs: Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre
Das Genre des dokumentarischen Theaters erfreute sich in Deutschland besonders in den zwanziger und sechziger Jahren – zwei Jahrzehnten, in denen die sozialen und politischen Probleme von den Zeitgenossen als sehr komplex empfunden wurden – einer erhöhten Popularität. Die scheinbar nicht zu bewältigende Komplexität der Themen mündete in der Vorstellung, daß Fiktion nicht mehr in der Lage sei, gewisse Aspekte der Realität angemessen darzustellen. Die Autoren dieser Epoche griffen deshalb zum dokumentarischen Element, das dazu benutzt wird, „die sonst bestehende Trennung zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzuheben und die gesellschaftliche bzw. politische Funktion des Theaters stärker hervorzuheben.“[17] Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre knüpfte damit an die Tradition Piscators[18] und Brechts an und betonte die didaktische Funktion des Theaters.
Das dokumentarische Theater verneinte zunächst alle ästhetischen Postulate der Theatertradition. Die Verfasser setzten Dokumente in das Zentrum ihrer Dramen, die unterschiedlich montiert oder vom Autor gegebenenfalls geringfügig modifiziert wurden.[19] Sie stellten sogar ganze Stücke lediglich aus Dokumenten zusammen, was dazu führte, daß der Schriftsteller hinter dem verarbeiteten Material nahezu verschwand. Er war lediglich noch Monteur des Materials, mit welchem er ein erklärendes Weltbild liefern wollte, dem der Zuschauer dann nicht empathisch, sondern äußerst distanziert gegenüberstehen sollte. Ebenso wie der Autor verschwand das Individuum, dessen Schicksal nicht im Vordergrund steht, hinter dem Material. Die Qualität der zu verarbeitenden Dokumente und deren Belegbarkeit waren für das dokumentarische Theater von enormer Bedeutung. Peter Weiss definierte in seinen „Notizen zum dokumentarischen Theater“ dieses wie folgt:
Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder. Im Unterschied zum ungeordneten Charakter des Nachrichtenmaterials, das täglich von allen Seiten auf uns eindringt, wird auf der Bühne eine Auswahl gezeigt, die sich auf ein bestimmtes [...] Thema konzentriert. Diese kritische Auswahl, und das Prinzip, nach dem die Ausschnitte der Realität montiert werden, ergeben die Qualität der dokumentarischen Dramatik.[20]
Der Begriff „dokumentarisch“ meint allerdings nicht, daß das Theaterstück zu einer wissenschaftlichen Abhandlung wird und ausschließlich dokumentiert, sondern „dokumentarisch“ deutet den Versuch der Annäherung an die Wirklichkeit an, die nicht wahrheitsgetreu sein muß.
Als wichtigster Vertreter des dokumentarischen Theaters der Bundesrepublik der sechziger Jahre gelten neben Peter Weiss und Heinar Kipphardt, die in der sogenannten „Prozeß-Form“ schrieben, Rolf Hochhuth, der Dokumente und Fiktion zur sogenannten „Berichtform“ mischte.[21] Wie Weiss erschien manch anderem seiner Zeitgenossen mehr das Schweigen über Auschwitz als ein Schreiben nach Auschwitz als das zentrale Problem zu Beginn der sechziger Jahre, weshalb die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die im Kontext des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik Deutschland und dem Beginn des Kalten Krieges systematisch verdrängt wurde, deshalb in den Werken dieser Autoren thematisch im Vordergrund stand. Die von Adenauer betriebene „Vergangenheitspolitik“ rascher „Normalisierung“ sollte sich auch mit seiner Ablösung des Kanzlers im Jahr 1963 durch den ehemaligen Wirtschaftsminister Erhard, nicht grundlegend ändern.[22]
Das dokumentarische Theater stellte dabei kein spezifisch deutsches Genre dar. In den USA, England und Rußland wurden in den 60er Jahren ebenfalls vermehrt dokumentarische Theaterstücke geschrieben.[23]
III. Das historische Material der Ermittlung: Die Strafsache gegen Mulka u. a.
„[...] Auschwitz. Das war weit ab, das lag da hinten in Polen.“, bemerkt der Lagerkommandant Rudolf Höß in seinen Memoiren.[24] Vor nunmehr über 40 Jahren, am 20. Dezember 1963, wurde die westdeutsche Bevölkerung mit dem Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, der in einem mehrjährigen, schwierigen und ungewöhnlich aufwendigen Ermittlungsverfahren vorbereitet worden war, in ihrer vorweihnachtlichen Freude gestört und daran erinnert, daß Auschwitz eben doch nicht so weit ab liegt, wie Rudolf Höß wähnte.
Ins Rollen kam der Auschwitz-Prozeß, wie schon der Ulmer Einsatzgruppenprozeß von 1958, dagegen eher zufällig. Im März 1958 stellte ein ehemaliger Auschwitzhäftling, der eine Gefängnisstrafe wegen eines Betrugdeliktes verbüßte, bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft Anzeige wegen Mordes. Im Rahmen der Ermittlungen bezüglich dieser Anzeige wurden bis 1960 etwa 350 Personen verhört. Anfang 1960 konnten weitere SS-Täter, unter ihnen der Rapportführer Oswald Kaduk, der Lagerapotheker Dr. Victor Capesius, der Höß-Adjutant Robert Mulka, der dem Prozeß seinen Namen gab und der letzte Lagerkommandant Richard Baer, der jedoch noch unmittelbar vor Prozeßbeginn starb, festgenommen werden.
Nachdem dann bis 1963 knapp 1300 Personen angehört worden waren, legte die Staatsanwaltschaft eine 700 Seiten umfassende Anklageschrift gegen 24 Personen vor, die beschuldigt wurden zwischen 1940 und 1945 eine nicht genau bestimmbare Zahl von Menschen getötet zu haben. In der Hauptverhandlung, die aus Platzmangel zunächst im Frankfurter Römer, dem Ort der Krönungsbankette der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, stattfand, standen sich 20 Verteidiger, vier Staatsanwälte und drei Nebenkläger gegenüber. Im Verlauf des Prozesses wurden 248 ehemalige Häftlinge des Lagers und 91 ehemalige SS-Angehörige, die aus unterschiedlichen Gründen, wie z. B Krankheit, nicht mehr belangt werden konnten, vernommen.[25]
Sträubten sich die Frankfurter Richter anfänglich noch gegen den zynisch-euphemistischen Lagerjargon der Beschuldigten, so adaptierten sie im Verlauf der Vernehmungen deren Diktion und gebrauchten ebenfalls Begriffe wie „Rampe“, „Muselmann“, „Selektion“ oder „Spritzen“. Wenn in den Befragungen Ortsbezeichnungen wie „Kanada“ oder „Mexiko“ fielen, wußten die Anwesenden kurz nach Prozeßbeginn bereits, daß damit die Sonderlager gemeint waren.[26] Des Weiteren wurden 70 andere Zeugen, unter ihnen Bahnbeamte und Industrielle, gehört sowie die Protokolle von 50 weiteren Zeugen verlesen. Schließlich umfaßten die Akten über 18.000 Seiten.
[...]
[1] So z. B. Joachim Kaiser: Plädoyer gegen das Theater-Auschwitz, in: Süddeutsche Zeitung vom 4./5. September 1965, 212.
[2] Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1949], S. 65, in: Ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main 1975, S. 46–65. Die Passage bei Adorno lautet: „Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“
[3] Die Formel modifiziert Adorno auch unter dem Eindruck der Lyrik Celans nur geringfügig und schreibt 1962: „Den Satz nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, möchte ich nicht mildern [...].“ Theodor W. Adorno: „Engagement“ [1962], in: Ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 422.
[4] Peter Weiss: Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache, S. 93, in: KIiedaisch, Petra (Hrg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995, S. 92–98.
[5] Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter, Reinbeck bei Hamburg 1963, bes. S. 178. Zur Kritik an Hochhuths Auschwitzdarstellung vgl. Brian Barton: Das Dokumentartheater, Stuttgart 1987, S. 94–99.
[6] Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971,Bd. I, S. 211.
[7] Wilhelm Girnus, Werner Mittenzwei: Gespräch mit Peter Weiss, in: Sinn und Form 17(1965), S. 687 f.
[8] Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich im folgenden immer auf: Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt am Main 1991, (Erstaufl. 1965).
[9] Weiss: Notizbücher, S. 226.
[10] Ders. Laokoon, S. 92.
[11] Ebd.
[12] Zu den biographischen Angaben vgl. Jochen Vogt: Peter Weiss, Reinbeck bei Hamburg, S. 7–36.
[13] Peter Roos: Der Kampf um meine Existenz als Maler. Peter Weiss im Gespräch mit Peter Roos. Unter Mitarbeit von Sepp Hiekisch und Peter Spielmann. In: Der Maler Peter Weiss, Berlin 1981, S. 11. Zit. nach Vogt: Peter Weiss, S. 7.
[14] Peter Weiss: „Meine Ortschaft“, [1965], in: Freibeuter 1, Berlin 1979, S. 97.
[15] Ders.: Notizbücher 1960-1971, S. 324–326.
[16] Ders: Rapporte I, S. 136.
[17] Brian Barton: Das Dokumentartheater, S. 1. Grundlegend für die Genrebestimmung in diesem Kapitel, neben dem Werk von Barton: Döhl Reinhard: Dokumentarliteratur, in: Günther und Irmgard Schweikle (Hrgg.): Metzler-Literatur-Lexikon, Begriffe und Definitionen, Stuttgart 21990 S. 105f.
[18] Erwin Piscator und Peter Weiss begegneten sich Anfang der 60iger Jahre persönlich in Berlin. Piscator inszenierte auch die Uraufführung der Ermittlung in Ostberlin. Vgl. Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart 1972, S. 280.
[19] Erstmals finden sich dokumentarische Elemente in der deutschsprachigen Literatur bereits in Büchners Dantons Tod, in dem Protokolle von Nationalkonventsitzungen in den Text eingefügt wurden. Von einem dokumentarischen Theater im modernen Sinn kann aber noch keine Rede sein. Vgl. ebd. S. 279.
[20] Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, in: ders. Rapporte II, Frankfurt am Main 1971, S. 91.
[21] Vgl. Reinhard Döhl: Dokumentarliteratur, S. 106.
[22] Zur „Vergangenheitsbewältigung“ vgl. zum Beispiel: Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Köln 1987. Giordano spricht im Kontext der mangelnden Vergangenheitsbewältigung von einer „zweiten Schuld“. Einen konträren Standpunkt hierzu, den man wohl als funktionalistisch bezeichnen kann, nimmt Herman Lübbe ein, der nicht von einem Verdrängen spricht, sondern von einem „asymmetrisch diskreten Schweigen“. Lübbe hält die Integration NS-belasteter Eliten als unabdingbar notwendig für den Aufbau eines demokratischen Nachfolgestaates des „Dritten Reichs“. Vgl. Hermann Lübbe: Deutschland nach dem Nationalsozialismus 1945–90. Zum politischen Kontext des Falles Schneider alias Schwerte, in: Helmut König, Wolfgang Kuhlmann, Klaus Schwabe, (Hrgg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 182–206. Ein differenzierteres Bild von der Vergangenheitsbewältigung der Bundesrepublik besonders in den fünfziger Jahren zeichnen: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996 und Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. München 2001.
[23] Vgl. Reinhard Döhl: Dokumentarliteratur, S. 106.
[24] Zitiert nach: Bernd Naumann: Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt, Frankfurt am Main 1965, S. 7.
[25] Dem Leser der Ermittlung drängt sich bei einigen Passagen ebenfalls die Frage auf, warum die Zeugen nicht auf der Anklagebank sitzen. Peter Weiss liefert in der Ermittlung dafür keine konkrete Erklärung.
[26] Vgl. Reichel: Vergangenheitsbewältigung, S. 172.
- Quote paper
- Jens Tanzmann (Author), 2004, Die sprachliche Ästhetisierung des Holocaust in Peter Weiss' "Die Ermittlung", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77190
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