Ich orientiere mich an der Theorie von Michael Walzer, wie er sie in seinen „Sphären der Gerechtigkeit“ entwickelt und werde im ersten Teil der Arbeit sein Konzept kurz darlegen. Diese Wahl beruht einerseits darauf, dass uns Walzer einen Begriff der Gerechtigkeit übergeben hat, der die Forderung nach einem modernen und umfassenden Verständnis der Gerechtigkeit erfüllt. Andererseits bin ich der Überzeugung, dass sein Konzept der Gerechtigkeit den meisten anderen Konzepten, und was modernere Schriften betrifft besonders der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls, überlegen ist. Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ ist eines der grossen Werke in der Geschichte der modernen Philosophie und jedes Konzept der Gerechtigkeit muss sich mit seinem Werk messen.5
Danach mache ich mich auf die Suche nach der Gerechtigkeit bei Adam Smith. Im zweiten Teil der Arbeit wende ich mich dem Menschenbild von Adam Smith zu. Ich werde die moralischen Subjekte, das heisst die Individuen als Träger der Gerechtigkeit, beschreiben und ebenso die institutionelle Ausprägung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ergebnis dieser Analyse dient mir im dritten Teil der Arbeit dazu, Smiths Vorstellungen über die gesellschaftliche Zusammenarbeit durch die Matrize der distributiven Gerechtigkeit, wie sie Walzer vorschlägt, auf ihren Gehalt zu untersuchen. Zu beweisen, ob sich Smith tatsächlich, wie es die oben erwähnte Übereinstimmung der Prämissen impliziert, in eine kommunitaristische Denktradition einordnen lässt, ist nicht das primäre Ziel dieser Arbeit.
Inhalt
Prolog
I. Theoretische Grundlagen der Gerechtigkeit
Eine Theorie der sozialen Güter
Ungerechtigkeit
Einfache Gleichheit
Komplexe Gleichheit
Distributionsprinzipien
Freier Austausch
Das Verdienst
Bedürfnisse
Abschluss der Theorie
II. Die zivile Gesellschaft bei Adam Smith
Das Individuum
Wohlwolle, Mitgefühl und Menschenliebe
Die Grenzen der Menschenliebe
Der Mensch zwischen Altruismus und Egoismus
Grundlagen der zivilen Gesellschaft
Freiheit und Rechtstaatlichkeit
III. Sphären der Gerechtigkeit
Kommutative Gerechtigkeit
Freiheit und Eigentum
Distributive Gerechtigkeit
Eigentum und Macht
Macht und Wohlstand
Bedürfnisse und komplexe Gleichheit
Die Gemeinschaftsversorgung
IV. Adam Smith – ein Kommunitarist?
Individualismus vs. Kommunitarismus
Epilog
Anhang
Quellen
Literatur
Prolog
Adam Smith gilt gemeinhin als einer der wichtigsten Vertreter der klassischen politischen Ökonomie. Er stellt dem Merkantilismus ein ökonomisches Prinzip entgegen, welches in der wirtschaftlichen Freiheit der nach persönlichem Gewinn strebenden Individuen, so die gängige Interpretation, einen höheren Gewinn für die Gesellschaft als Ganzes prognostiziert. Gegen diese Interpretationsart, welche primär Smiths wirtschaftliche Analysen durchleuchtet und ihn in die Tradition des „Laissez-Faire-Prinzips“ stellt, wehren sich andere Rezensenten. Sie betonen die sozialen Komponenten und den moralphilosophischen Gehalt in seinem Gesamtwerk.[1] Mit der vorliegenden Arbeit will ich keineswegs widerlegen, dass Adam Smith ein liberaler Denker war und bis zu einem gewissen Grade eine freie Marktwirtschaft postulierte. Ebenso liegt es mir fern, den moralischen Gehalt in seinem Werk zu widerlegen. Stattdessen schlage ich eine alternative Smithrezension vor.
Ein kleines Detail in seinem Werk bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtung. Smith schreibt, dass die Gesellschaft um „ihrer selbst willen erhalten werde“ und sie ein menschliches Bedürfnis sei.[2] Mit dieser Aussage finden wir Smith in der Tradition von Autoren, welche gemeinhin dem Kommunitarismus (!) zugerechnet werden. Michael Walzer betont, dass „eines unserer Bedürfnisse (…) ausgerechnet die Gemeinschaft selbst“ sei und ebenso definiert Charles Taylor das Gemeinwesen als ein Gut an sich, das als solches respektiert und gepflegt wird.[3] Des Weiteren lesen wir bei Smith: „Gerechtigkeit (…) ist der Hauptpfeiler der das ganze Gebäude stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, muss der gewaltige (…) Bau der menschlichen Gesellschaft (…) in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen.“[4] Wenn nun also die Gesellschaft ein menschliches Bedürfnis ist und diese ohne Gerechtigkeit nicht bestehen kann, ist die Gerechtigkeit ebenso ein menschliches Bedürfnis. Diese fordernden Aussagen über die Gerechtigkeit führen zur Frage, ob und inwiefern sich bei Smith ein Konzept der Gerechtigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Zusammenarbeit feststellen lässt.
Ich orientiere mich dabei an der Theorie von Michael Walzer, wie er sie in seinen „Sphären der Gerechtigkeit“ entwickelt und werde im ersten Teil der Arbeit sein Konzept kurz darlegen. Diese Wahl beruht einerseits darauf, dass uns Walzer einen Begriff der Gerechtigkeit übergeben hat, der die Forderung nach einem modernen und umfassenden Verständnis der Gerechtigkeit erfüllt. Andererseits bin ich der Überzeugung, dass sein Konzept der Gerechtigkeit den meisten anderen Konzepten, und was modernere Schriften betrifft besonders der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls, überlegen ist. Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ ist eines der grossen Werke in der Geschichte der modernen Philosophie und jedes Konzept der Gerechtigkeit muss sich mit seinem Werk messen.[5]
Danach mache ich mich auf die Suche nach der Gerechtigkeit bei Adam Smith. Im zweiten Teil der Arbeit wende ich mich dem Menschenbild von Adam Smith zu. Ich werde die moralischen Subjekte, das heisst die Individuen als Träger der Gerechtigkeit, beschreiben und ebenso die institutionelle Ausprägung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ergebnis dieser Analyse dient mir im dritten Teil der Arbeit dazu, Smiths Vorstellungen über die gesellschaftliche Zusammenarbeit durch die Matrize der distributiven Gerechtigkeit, wie sie Walzer vorschlägt, auf ihren Gehalt zu untersuchen. Zu beweisen, ob sich Smith tatsächlich, wie es die oben erwähnte Übereinstimmung der Prämissen impliziert, in eine kommunitaristische Denktradition einordnen lässt, ist nicht das primäre Ziel dieser Arbeit. Ich schlage lediglich einen alternativen Zugang zu seinem Werk vor, in der Hoffnung, wir mögen daraus einige interessante Ergebnisse gewinnen, die uns einen neuen Zugang zu seinem Werk ermöglichen. Es dürfte bereits ein wertvoller Beitrag zur Smithdiskussion sein, wenn sich die These von Hayek relativieren lässt, dass sich individuelle Freiheit und distributive Gerechtigkeit kaum zufriedenstellend vereinbaren lassen.[6]
Um Smith gerecht zu werden, dürfen wir seine Schriften nicht isoliert betrachten. Smith betonte, dass der „Reichtum der Nationen“ als ein Teil einer grösseren Abhandlung über die allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung zu verstehen sei.[7] Er selbst betrachtete stets seine „Theorie der ethischen Gefühle“ als sein Hauptwerk.[8] Seine beiden grossen Abhandlungen stehen also nicht unabhängig nebeneinander, sondern müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Leider hinterliess uns Smith trotz seiner sehr bestimmten Forderung nach Gerechtigkeit kein Werk mit dem Titel „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (o.ä.). In seiner literarischen Hinterlassenschaft findet sich ebenso kein Kapitel, in dem er uns ein kohärentes Bild von einem Konzept der Gerechtigkeit präsentiert. Zeit seines Lebens plante er eine umfassende Abhandlung über die Prinzipien des Rechts und der Regierung. Seine eigene Prophezeiung hat sich aber leider bewahrheitet: „Mein bereits sehr vorgerücktes Alter lässt mir (…) sehr wenig Hoffnung, dass ich noch jemals im Stande sein werde, dieses grosse Werk so, wie ich es wünschen würde, auszuführen.“[9] Glücklicherweise verfügen wir heute über eine Abschrift einer im Jahre 1763 in Glasgow gehaltenen Vorlesung über die Rechts- und Staatswissenschaften, welche als authentisch gilt.[10] So haben wir, nebst den zahlreichen Stellen in seiner Moraltheorie und in seiner ökonomischen Abhandlung, welche sich mit Themen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit befassen, einen zusammenhängenden Text vor uns, der wohl nicht die wissenschaftliche Qualität seiner Abhandlungen aufweist, aber weitere Hinweise geben kann. So muss die Suche nach einem Konzept der Gerechtigkeit in Smiths Gesamtwerk in einem Aufspüren der einzelnen Fragmente bestehen, welche sich verstreut in seinem Werk finden lassen.
I. Theoretische Grundlagen der Gerechtigkeit
Bereits Aristoteles wusste, dass der ganze „Zank und Streit [innerhalb einer Gesellschaft] eben daher [kommt], dass entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und geniessen“.[11] Das Problem der distributiven Gerechtigkeit dreht sich seit der Antike um die Fragen, was wir unter Gleichheit verstehen und nach welchen Kriterien wir die Güter verteilen.[12] Dabei verändert sich angesichts des Partikularismus in der Geschichte die Vorstellung über das Wesen der Verteilprinzipien je nach Zeit und Ort. Gerechtigkeit ist ein menschliches Konstrukt und unterschiedliche Ideologien und unterschiedliche politische Ordnungen rechtfertigen eine Diversität der sozialen Rollen und ebenso unterschiedliche Distributionsprinzipien.[13] Diese Prinzipien distributiver Gerechtigkeit sind mit historisch bedingten, ideologischen Konzeptionen des menschlichen Guten verbunden, insbesondere mit verschiedenen Auffassungen hinsichtlich der Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft bei der Verwirklichung des Guten.[14] Das Ziel der distributiven Gerechtigkeit ist also nicht einfach die Forderung nach einer absoluten Egalität und nach einem universellen Gerechtigkeitsbegriff, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise über den Modus der Güterverteilung in einem konkreten historischen Umfeld.
Eine Theorie der sozialen Güter
Die menschliche Gesellschaft, so Walzer, ist eine Distributionsgesellschaft: Menschen verteilen Güter an andere Menschen. Diese Güter verfügen dabei über bestimmte Eigenschaften. Alle Güter, die von Belang sind für die distributive Gerechtigkeit, sind soziale Güter, das heisst sie haben infolge ihrer Auswirkung auf soziale Prozesse eine gemeinschaftliche Bedeutung. Jedes Individuum gewinnt in diesem Prozess seine soziale Identität über die Art und Weise wie Güter ersinnt, produziert und besitzt werden. Es ist dabei nicht möglich, ein singuläres Set von sozialen Grundgütern aufzustellen; was eine Gesellschaft konkret als solche definiert, hängt von Zeit und Ort ab.[15] Es gibt also Subjekte und Objekte der Gerechtigkeit und der Modus des Austausches von Objekten zwischen den Subjekten bestimmt das Wesen der Gerechtigkeit. Diese Regeln der gesellschaftlichen Zusammenarbeit (der Modus) sind das Ergebnis von einem diskursiven Prozess und erlangen in jeder Gesellschaft ihre spezifische Ausprägung. So konstituiert jedes soziale Gut, bzw. jedes Set von sozialen Gütern, seine eigene Distributionssphäre, innerhalb derer sich die Kriterien der Verteilung entfalten, so wie es eine Gesellschaft als gerecht empfindet.[16] Gewisse Güter, wie zum Beispiel Macht, Geld oder Bildung, neigen dazu, dominante Güter zu werden, das heisst, sie werden von der Gesellschaft anhand von Interessen und Vorstellungen höher bewertet, als deren intrinsischer Wert es zulassen würde. So erlangen diese Güter einen Einfluss auf andere Güter. Geld kann beispielsweise die Güter Ansehen, Macht oder auch Bildung beherrschen. Dominate soziale Güter verursachen einen Kampf um die Distribution, weil Personen oder Personengruppen danach streben, ein Monopol über ein gewisses Gut zu erreichen, wogegen sich andere Personen durch Gegenforderungen zur Wehr setzen.
Ungerechtigkeit
Der Ruf nach Gerechtigkeit kann innerhalb dieser Theorie auf verschiedene Weise erfolgen. Erstens: Das Monopol auf ein gewisses Gut ist ungerecht – gefordert wird eine gerechte Verteilung eines Gutes. So führt die Klage über ein Machtmonopol vielleicht dazu, dass nach demokratischen Reformen verlangt wird. Zweitens: Die Dominanz eines Gutes über andere Güter ist ungerecht. So kann die Klage, dass das Gut Bildung vom Gut Geld abhängig ist, dazu führen, dass der Schulbesuch unentgeltlich wird. Drittens: Die bestehende Herrschafts- und Monopolstruktur ist ungerecht. So kann die Forderung nach Gerechtigkeit eine Intensität erreichen, dass eine Revolution die Herrschaft über das Monopol der Macht von einer Gruppe auf die andere überträgt. Welche Forderung in welchem Fall erhoben wird, ist situativ bedingt.[17]
Ob nun eine Gesellschaft als gerecht eingestuft werden kann, hängt von der Akzeptanz ab, die ein Volk einer institutionellen Ordnung betreffend der Distributionsprinzipien entgegenbringt. Je weniger Gegenforderungen in einer Gesellschaft latent oder manifest vorhanden sind, desto gerechter ist eine Gesellschaft. Somit ist Gerechtigkeit ein gradueller Begriff. Welche konkrete Ausprägung die institutionelle Ordnung dabei hat, ist historische bedingt und ist insofern zweitrangig, als jede grössere zivile Gesellschaft irgendeine Form der „Organisation der Öffentlichkeit“[18] hervorbringt. Im Moment ist die relevante Bezugsgrösse der Nationalstaat, den auch Smith in seinem Werk vor Augen hatte. Gerechtigkeitsfragen stellen sich aber ebenso in jeder anderen Form der gesellschaftlichen Zusammenarbeit.
Einfache Gleichheit
Entscheidend für die Legitimität von Gegenforderungen ist das Konzept der Gleichheit, das innerhalb einer Gesellschaft verfolgt wird. Die unter Philosophen bevorzugte Anschauung ist das Konzept der einfachen Gleichheit, welche sich auf die erste Forderung bezieht. Wenn Gleiche Gleiches erhalten, entsteht kein Monopol betreffend eines sozialen Gutes, weshalb die Gesellschaft gerecht ist. Damit ist natürlich nichts darüber gesagt, wer als gleich mit wem bezüglich welchen Eigenschaften definiert wird. Auch die Vorstellung von Gleichheit ist letztendlich das Ergebnis eines diskursiven Prozesses und hängt von Zeit und Ort ab. Dieses System lässt sich in der Praxis unabhängig von der konkreten Vorstellung über Gleichheit nicht lange aufrecht erhalten, denn der Fortgang der Geschichte wird immer dazu führen, dass der natürliche Austausch von Gütern zu deren ungleichen Verteilung führt.[19] Dadurch müsste eine Gesellschaft das tolerierbare Ausmass der Ungleichheit festlegen und bei Bedarf entsprechende Umverteilungsmechanismen institutionalisieren. So lange wir an einer einfachen Gleichheit als Bezugsgrösse festhalten, kann es keine stabile Gerechtigkeit geben. Jegliche Form der konkreten Umsetzung eines absolut egalitären Prinzips muss unweigerlich in einem totalitären System enden, das infolge der unglaublichen Komplexität der Gesellschaft seine Aufgabe dennoch nur mangelhaft ausführen kann.[20] Der vielleicht umfassendste Versuch anhand der einfachen Gleichheit die Gesellschaft zu ordnen, ist wohl die „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls. Er versucht durch eine institutionelle Regelung das Prinzip der einfachen Gleichheit zu retten. Von seinen Kritikern, denen die Kommunitaristen beizurechnen sind, wird Rawls Theorie als realitätsfremd abgelehnt, da sie (u.a.) die historische Bedingtheit der Gesellschaft ignoriert.
Dennoch gibt es vielleicht Güter, bei denen es sinnvoll ist, von einer einfachen Gleichheit auszugehen. Ein Volk kann in einer konkreten historischen Situation einen Katalog an Grundgüter erstellen, die jedem Mitglied der Gesellschaft unterschiedslos in gleichem Ausmass zustehen. Die Verteilung dieser Grundgüter wird dann einer institutionellen Kontrolle unterworfen, welche mit der Gewalt ausgestattet wird, Gleichheit zu erzwingen. In unserem modernen Verständnis handelt es sich dabei um die Grundrechte, die jedem Bürger zustehen, wie zum Beispiel das Recht auf Bildung oder die Menschenrechte.
Komplexe Gleichheit
Die komplexe Gleichheit geht von der zweiten Gegenforderung aus. Erhoben wird das Postulat, dass die Autonomie der einzelnen Distributionssphären gewahrt werden muss und somit kein Gut eine Dominanz über ein anderes Gut entwickeln kann. Damit verbunden ist der Gedanke, dass innerhalb einer einzelnen Sphäre ein Monopol durchaus gerechtfertigt sein kann. Die Gerechtigkeit in einem System der komplexen Gleichheit ergibt sich dadurch, dass die „Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Gutes nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen Gutes.“[21] Es ist also nicht per se ungerecht, wenn beispielsweise der Zugang zu Ämtern in einer Personengruppe monopolisiert wird, so lange sich dieses Monopol nicht auf die Distribution von Bildung auswirkt. Auf das Wesentliche reduziert lautet das Distributionsprinzip der komplexen Gleichheit wie folgt: „Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die in Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und alleine deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen.“[22] Damit wird also bewusst Abstand genommen von einem egalitären Prinzip, das die einzelnen Distributionssphären überschreitet und der Bezugsrahmen ist eine pluralistische Gesellschaft. Im Hinblick auf die einzelnen Sphären suchen wir nach allgemein anerkannten Prinzipien der Distribution.
Distributionsprinzipien
Es dürfte unmöglich sein, Prinzipien der Distribution zu formulieren, welche unabhängig vom soziokulturellen Kontext universelle Gültigkeit beanspruchen können. Die Vielgestaltigkeit der sozialen Güter und der ideologische Pluralismus werden an jedem Ort und zu jeder Zeit unterschiedliche Kriterien hervorbringen. Allerdings gibt es drei Kriterien, welche sich als besonders tauglich etabliert haben. Alle drei Kriterien haben ihre situative Geltungskraft, aber keines kann Gültigkeit über alle Distributionssphären und alle historischen Konstellationen hinweg beanspruchen.[23]
Freier Austausch
Der freie Austausch setzt keine spezielle Verteilung von sozialen Gütern voraus und das Ergebnis der Distribution spiegelt die soziale Bedeutung eines Gutes. In einem idealen Markt gibt es weder Monopole noch dominante Güter und Geld ist das neutrale Medium des Tausches. Der ideale Markt ist „radikal pluralistisch in seinen Operationen und Resultaten“ und gleicht sich den Bedeutungen der sozialen Güter an.[24] Der Alltag des Marktes ist aber von der Theorie des idealen Marktes sehr verschieden. Geld ist an sich ein dominantes Gut, das sich in sehr viele andere Güter konvertieren lässt. Sehr schnell wird das Geld von den Begabten in der bürgerlichen Gesellschaft monopolisiert und aus der Gesellschaft wird der Ruf erhoben, dass bezüglich der Distribution von Geld nach dem Prinzip der einfachen Gleichheit eine Umverteilung erfolgen muss.
Der freie Austausch von Gütern ist also sicherlich kein allgemeingültiges Kriterium, kann aber in bestimmten Sphären durchaus zu gerechten Ergebnissen führen. Welche Güter dem freien Markt unterworfen werden, entscheidet die Gesellschaft als Ganzes. Gewisse Güter wurden zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichem Ausmass dem freien Austausch entzogen. So kann zum Beispiel das Gut „religiöse Geborgenheit“ vom Staat monopolisiert und dem Markt entzogen werden, wie es in einem theokratischen Staat der Fall ist. In einem liberalen Staat hingegen herrscht ein freier Markt für spirituelle Geborgenheit.
Das Verdienst
Wie der freie Austausch so scheint auch das Verdienst die Forderung nach Pluralität zu erfüllen. Es ist gerecht, so die verbreitete Meinung, dass jemand die Früchte seiner Arbeit oder seines Talentes geniessen darf. Das Problem dabei ist, inwiefern sich Verdienst als Forderung für ein Gut berechtigterweise anwenden lässt. Stellen wir uns vor, dass in einer Gesellschaft eine unzählige Anzahl Personen die Prüfung zum Buschauffeur mit der maximalen Punktzahl besteht, die Gesellschaft aber nur eine begrenzte Anzahl Buschauffeure benötigt. Es ist offensichtlich, dass in diesem Fall das Verdienst nicht automatisch das Anrecht auf das soziale Gut „Anstellung als Buschauffeur“ garantiert. Ob aus dem Verdienst eine rechtmässige Forderung abgeleitet werden kann, hängt also nicht nur von diesem Distributionskriterium ab. Das Verdienst scheint in einer besonderen Beziehung zu bestimmten Gütern, bestimmten Konstellationen und bestimmten Personen zu stehen, während Gerechtigkeit diesen Zusammenhang nicht unbedingt voraussetzt.[25]
Bedürfnisse
Das Bedürfnis erscheint als unangefochtenes Distributionskriterium innerhalb einer einfachen Gleichheit. Kaum jemand würde eine Gesellschaft gerecht nennen, welche ihren Mitgliedern nicht das Recht auf hinreichende Ernährung zugesteht. Allerdings gibt es zahlreiche Distributionssphären, bei denen sich das Bedürfnis als untaugliches Kriterium erweist. Selbst was ein Grundbedürfnis ist, unterliegt dem sozialen Wandel. Wie sollte sich also das Bedürfnis als universelles Kriterium behaupten? Zwei Beispiele: Im Falle einer unterdrückten Minderheit kann Macht ein Bedürfnis sein; in einem Wohlfahrtsstaat hingegen, in dem es allen Menschen gut geht, verringert sich das Bedürfnis nach Macht. In einer industrialisierten Gesellschaft kann technologisches Wissen ein Bedürfnis sein, bei einem Naturvolk ist kaum ein Bedürfnis nach diesem Gut vorhanden. Im Grunde genommen verlangt das Kriterium „Bedürfnis“ eine andere Gerechtigkeitsformel. Entscheidend für die Distribution ist oft nicht das Vorhandensein von Y, sondern die Abwesenheit von X in einem bestimmten Kontext.[26]
[...]
[1] Die initiale Anregung zu dieser Arbeit verdanke ich: Ulrich, Peter; 2002
[2] TMS; Seite 131
[3] Walzer, Michael; 2006; Seite 109; ebenso Seite 62 / Taylor, Charles; 2002; Seite 16
[4] TMS; Seite 129
[5] Ob sich diese Behauptung aufrecht erhalten lässt, kann ich nicht beurteilen. Der Verlauf der Geschichte wird darüber entscheiden, welchen Platz Walzer in der Ahnenreihe der Philosophen einnehmen wird.
[6] Hayek, F.A.; Individualismus und wirtschaftliche Ordnung; Zürich 1952; Seite 35
[7] TMS: Im Vorwort zur 6. Auflage
[8] Eckstein, Walter; in: Adam Smith; Theorie der ethischen Gefühle; übersetzt und eingeleitet von Walter Eckstein; Hamburg 2004; Seite XXIII
[9] TMS: Im Vorwort zur 6. Auflage; Im Jahr nach der Niederschrift dieser Zeilen ist Smith gestorben.
[10] Brühlmeier, Daniel; in: Adam Smith; Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften; übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Daniel Brühlmeier; Sankt Augustin 1996
[11] Aristoteles; Nikomachische Ethik; 1131a
[12] Weber, P.; 2006; Seiten 3-7
[13] Walzer; 2006; Seite 28ff
[14] Taylor; 1988; Seite 147
[15] Walzer; 2006; Seiten 32 - 35
[16] Walzer; 2006; Seite 36
[17] Walzer; 2006; Seite 40
[18] Dewey; 1996; Seite 42
[19] Walzer; 2006; Seite 41
[20] Walzer; 2006; Seite 43 / Dazu auch: Hayek, F.A.; 1983; Seite 122, 297f
[21] Walzer; 2006; Seite 49
[22] Walzer; 2006; Seite 50
[23] Walzer; 2006; Seite 51
[24] Walzer; 2006; Seite 53
[25] Walzer; 2006; Seite 55
[26] Walzer; 2006; Seite 57
- Citation du texte
- Patrick Weber (Auteur), 2007, Adam Smith und die Gerechtigkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76952
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