Das menschliche Innenleben entzieht sich einer konkreten, unmittelbaren Anschaulichkeit. Was im Kopf eines Menschen vor sich geht, welche inneren Konflikte er durchmacht, kommt nur bedingt hinter der physischen Fassade zum Vorschein. Zwar können teilweise emotionale Stimmungen und Bewusstseinsinhalte jemandem „ins Gesicht geschrieben stehen“ oder auch anderweitig in der Körpersprache und in Verhaltensweisen andeutungsweise zum Ausdruck kommen, aber hauptsächlich und möglichst differenziert lassen sich Gedankengänge, Assoziationen, Gefühle und Erinnerungen nur dadurch vermitteln, indem man sie in Worte zu fassen versucht. Die Versprachlichung innerer Vorgänge wiederum setzt eine gewisse Selbstkenntnis voraus – bzw. eine Kenntnis des Mitmenschen, dessen Psyche man zu analysieren gedenkt. Weiterhin erfordert sie eine gewisse Artikulationsfähigkeit sowie das persönliche Interesse an einer ehrlichen Wiedergabe.
Welche vielfältigen Möglichkeiten dagegen das Theater besitzt, um subjektives Erleben anschaulich vorzuführen, beweist der große amerikanische Dramatiker Arthur Miller (*1915, †2005) in seinen Dramenwerken. Als Beispiele bieten sich vier seiner Bühnenstücke an, die sich aufgrund ihrer thematischen bzw. formalen Verwandtschaft besonders gut vergleichen lassen. Dazu gehören das realistisch-analytische Stück All my Sons, mit dem Miller 1947 seinen ersten Bühnenerfolg verzeichnete, die beiden Bewusstseinsdramen Death of a Salesman und After the Fall, und nicht zuletzt The Price, mit dem Miller 1968 wieder ein realistisches Drama auf die Bühne brachte. Während All my Sons innerhalb der Konventionen des Realismus nur indirekt auf Bewusstseinsprozesse eingehen kann, ist das spätere realistische Stück mit hohem Symbolgehalt bereichert, durch den innere Vorgänge auch assoziativ verdeutlicht werden. Die Bewusstseinsdramen verschaffen dem Zuschauer hingegen durch szenische Darstellung einen direkten Einblick in den Kopf des Protagonisten. So hieß das Stück Death of a Salesman vor der Uraufführung im Jahre 1949 auch zunächst The Inside of His Head. Aus welchen Gründen dieser Arbeitstitel am Ende verworfen wurde und inwiefern dieses „The Inside of His Head“ Motiv in dem 1964 uraufgeführten After the Fall eine konsequente Umsetzung findet, wird im weiteren Verlauf herauszustellen sein.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Millers dramentheoretische Position
II.1. Millers Dramenverständnis, seine Grundthematik und seine Rolle als Autor
II.2. Grundzüge des Realismus und des Expressionismus
III. Einführung in die Thematik der Stü>
III.1. Joe Keller in der Doppelrolle des uneinsichtigen Verbrechers und sympathischen Familienvaters, und Kate Keller als Komplizin und Mutter
III.2. Fragwürdige Lebensträume eines Willy Loman
III.3. Die Identitätskrise Quentins
III.4. Die konträren Lebenswege der Brüder Franz
IV. Die dramaturgische Umsetzung innerer Konflikte und Bewusstseinsvorgänge
IV.1. Präsentation innerer Vorgänge in All my Sons
IV.1.1. Plot und Verhaltensmuster bei Joe Keller
IV.1.2. Sprache, Dialog und Gebärde
IV.1.3. Raumgestaltung
IV.1.4. Darstellung des Konflikts zwischen Illusion und Hellsichtigkeit bei Kate Keller
IV.2. Das „The Inside of His Head“ Motiv in Death of a Salesman
IV.2.1. Plot, Erinnerungsszenen und Halluzinationen
IV.2.2. Sprache, Dialog und szenische Bilder
IV.2.3. Raumgestaltung
IV.2.4. Geräuschkulisse und optische Signale
IV.3. Das „The Inside of His Head“ Motiv in After the Fall
IV.3.1. Fehlender Plot und dramatisierte Gedankengänge
IV.3.2. Monolog, Sprache und szenische Bilder
IV.3.3. Raumgestaltung
IV.3.4. Geräuschkulisse und optische Signale
IV.4. Präsentation innerer Vorgänge in The Price
IV.4.1. Der Plot und seine Symbolik
IV.4.2. Sprache, Dialog und Gebärde
IV.4.3. Raumgestaltung
V. Bewertung der Dramenformen im Hinblick auf eine gelungene Darstellung des seelischen Dilemmas der Protagonisten
V.1. Joe Kellers allzu plötzlicher Sinneswandel
V.2. Der Einblick in den Kopf des geistig verwirrten Willy Loman
V.3. Der Einblick in das hoch entwickelte Bewusstsein Quentins
V.4. Die konträren Standpunkte der Brüder Franz im offenen Schlagabtausch
VI. Abschließendes Fazit
Bibliographie
Primärtexte:
Sekundärtexte:
I. Einleitung
Das menschliche Innenleben entzieht sich einer konkreten, unmittelbaren Anschaulichkeit. Was im Kopf eines Menschen vor sich geht, welche inneren Konflikte er durchmacht, kommt nur bedingt hinter der physischen Fassade zum Vorschein. Zwar können teilweise emotionale Stimmungen und Bewusstseinsinhalte jemandem „ins Gesicht geschrieben stehen“ oder auch anderweitig in der Körpersprache und in Verhaltensweisen andeutungsweise zum Ausdruck kommen, aber hauptsächlich und möglichst differenziert lassen sich Gedankengänge, Assoziationen, Gefühle und Erinnerungen nur dadurch vermitteln, indem man sie in Worte zu fassen versucht. Die Versprachlichung innerer Vorgänge wiederum setzt eine gewisse Selbstkenntnis voraus – bzw. eine Kenntnis des Mitmenschen, dessen Psyche man zu analysieren gedenkt. Weiterhin erfordert sie eine gewisse Artikulationsfähigkeit sowie das persönliche Interesse an einer ehrlichen Wiedergabe.
Welche vielfältigen Möglichkeiten dagegen das Theater besitzt, um subjektives Erleben anschaulich vorzuführen, beweist der große amerikanische Dramatiker Arthur Miller (*1915, †2005) in seinen Dramenwerken. Als Beispiele bieten sich vier seiner Bühnenstücke an, die sich aufgrund ihrer thematischen bzw. formalen Verwandtschaft besonders gut vergleichen lassen. Dazu gehören das realistisch-analytische Stück All my Sons, mit dem Miller 1947 seinen ersten Bühnenerfolg verzeichnete, die beiden Bewusstseinsdramen Death of a Salesman und After the Fall, und nicht zuletzt The Price, mit dem Miller 1968 wieder ein realistisches Drama auf die Bühne brachte. Während All my Sons innerhalb der Konventionen des Realismus nur indirekt auf Bewusstseinsprozesse eingehen kann, ist das spätere realistische Stück mit hohem Symbolgehalt bereichert, durch den innere Vorgänge auch assoziativ verdeutlicht werden. Die Bewusstseinsdramen verschaffen dem Zuschauer hingegen durch szenische Darstellung einen direkten Einblick in den Kopf des Protagonisten. So hieß das Stück Death of a Salesman vor der Uraufführung im Jahre 1949 auch zunächst The Inside of His Head. Aus welchen Gründen dieser Arbeitstitel am Ende verworfen wurde und inwiefern dieses „The Inside of His Head“ Motiv in dem 1964 uraufgeführten After the Fall eine konsequente Umsetzung findet, wird im weiteren Verlauf herauszustellen sein.
Um Millers Stücke dramentheoretisch einordnen zu können, wird im zweiten Kapitel zunächst ein kurzer Überblick über Millers Vorstellungen von Drama, seine Theorie über Mensch und Gesellschaft und sein Selbstverständnis als Autor gegeben. Im Kontrast zum traditionellen realistischen Drama werden zudem die wesentlichen Merkmale des expressionistischen Bewusstseinsdramas aufgezeigt. Im dritten Kapitel wird in die Thematik der Stücke eingeführt, indem die Protagonisten und deren innere Krise vorgestellt werden, bevor das vierte Kapitel untersucht, welcher dramatischer Techniken sich Miller jeweils bedient, um die Gedankenwelt des Protagonisten und seine inneren Erfahrungen auf der Bühne zu illustrieren. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Kernfiguren und die Darstellung ihrer Erinnerungen, auf den Plot, den Dialog, die Sprache und die Gebärde sowie auf die Raumgestaltung, die Geräuschkulisse und die Beleuchtung der Bühne. Durch die Gegenüberstellung der Protagonisten und ihrer jeweiligen Probleme wird im fünften Kapitel die unterschiedliche Wahl der dramatischen Mittel begründet und bewertet, dem mit dem sechsten Kapitel noch ein abschließendes Fazit folgt.
An dieser Stelle sei noch auf die ein oder andere Formalität hingewiesen. Zum einen beschränkt sich die vorliegende Untersuchung größtenteils auf eine psychologisch-individuelle Interpretation der Dramen, da deren nicht zu unterschätzender gesellschaftskritischer Gehalt den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Weiterhin sind die folgenden dramentheoretischen Begrifflichkeiten und Analysekriterien im Sinne von Manfred Pfisters Dramentheorie zu verstehen, die er in seiner Monographie Das Drama (2001 [1977]) dargelegt hat. So wie er selbst von seiner konkreten Handlungsdefinition als „einzelne[r] Handlung einer Figur in einer bestimmten Situation“ (269) bei gewissen Komposita abweicht (409/410), so wird auch hier in bestimmten Kontexten der Begriff Handlung mit dem übergreifenden Handlungszusammenhang des ganzen Stückes gleichgesetzt, zum Beispiel, wenn von äußerer Handlung oder der Handlungsstruktur die Rede ist. Als Letztes sei angemerkt, dass sämtliche Hervorhebungen in den zitierten Textabschnitten originalgetreu übernommen worden sind, weshalb auf entsprechende Vermerke im Einzelfall verzichtet wird.
II. Millers dramentheoretische Position
II.1. Millers Dramenverständnis, seine Grundthematik und seine Rolle als Autor
In seinem Vorwort zu den Collected Plays legt Arthur Miller (1996 [1957]: 113ff) ausführlich sein Verständnis von Drama dar und versucht sowohl sich als Autor als auch die seinen Stücken zugrunde liegende Intention einzuordnen. Er sieht sich demnach als Künstler und experimentierfreudiger Autor, der sich aber auch mit den bestehenden Theatertraditionen beschäftigt und auskennt. So spielen bei ihm auch Aristoteles Begriffe der „katharsis“ und der „hamartia“ eine große Rolle. Seine Dramen sollen beim Zuschauer Furcht und Mitleid hervorrufen und behandeln einen tragischen Fehler, der durch die Fügung des Schicksals noch begünstigt wird. Insbesondere die Leidenschaft, mit der die Problematik des Protagonisten dargestellt wird und wodurch die Emotionen des Publikums erweckt werden, ist nach Miller ausschlaggebend für gutes Drama. Dagegen lehnt er die vom klassischen Drama postulierte Fallhöhe des Helden ab, da die Zeiten der antiken Könige und deren Landeseroberungen der heutigen Gesellschaft nicht mehr entsprechen. Millers Hauptfigur ist sozusagen ein „mittlerer“ Held, bei dem es darauf ankommt, dass er Statur hat, also dass er eine interessante Persönlichkeit darstellt. Auch die Einheit von Raum und Zeit sowie das Festhalten an der klassischen Handlungsstruktur sind für Miller nicht zwingend.
Der formale Aufbau seiner Stücke ist nicht auf einen bestimmten Dramentyp festgelegt. Die Wahl der Form ist stattdessen themenbedingt, und führt bei Miller nicht selten zu einer Vermischung von Stilmitteln verschiedener Dramentypen. Als eine weitere wesentliche Voraussetzung eines guten Dramas im Sinne Millers steht die originelle Idee, die von Anbeginn des Schreibens vorhanden sein soll, aber während des Schreibprozesses noch reifen muss. Dabei drehen sich seine Themen immer um das paradoxe Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt: Einerseits kann der Mensch nur innerhalb einer Gesellschaft sich selbst verwirklichen, gleichzeitig wird er aber von ihr bedroht, da sie eine Selbstentfremdung des Menschen provoziert, indem sie dazu tendiert, das Individuum durch gesellschaftliche Normen zu konditionieren. Nach Millers Anschauung ist der Mensch ein selbständiges, rationales Wesen, das für das eigene Leben und innerhalb der Gesellschaft eine gewisse Verantwortung trägt und so auch zur Verantwortung gezogen werden kann.
Dieses Bild eines verantwortlichen Menschen liefert drei Hauptthemen. Zum einen geht es in Millers Werken um den Grad der Einsicht in diese Verantwortung. Die Charaktere werden mit der Frage konfrontiert, ob sie ihren Verpflichtungen nachgekommen sind, und stehen vor der Entscheidung, sich der Frage entweder zu stellen oder ihr auszuweichen. Das Letztere führt konsequenter-weise zu einem weiteren zentralen Aspekt, der bei Miller in den verschiedensten Facetten präsentierten Schuldthematik. Er hält es für unausweichlich, dass man im Laufe seines Lebens Schuld auf sich lädt und er verlangt dem Menschen ab, dass er sich seine Schuld bewusst eingesteht und dadurch seine Verantwortung akzeptiert. Nur so kann der Mensch sich dem Manipulationsapparat gesellschaftlicher Institutionen entziehen, die mit Begnadigung durch Unterwerfung locken und damit die menschliche Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit ausnutzen. Schuld im Sinne bereits begangener Fehler verweist gleichzeitig als drittes Hauptthema auf den Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der Mensch soll bei Miller erkennen, dass die Gegenwart durch die Geschichte kausal bedingt ist. Millers Figuren, die davor die Augen verschießen, werden in den Stücken von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ihre Lebenslügen, mit denen sie vergangene Fehler verdrängen und als Ursache gegenwärtiger Folgen leugnen, müssen abgebaut werden. Nur wenn es ihnen gelingt, werden sie ihrer Verantwortung gerecht und gewinnen sie an Menschenwürde.
Mit dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Menschen und der Gesellschaft beabsichtigt Miller, dem Publikum die eigene gesellschaftliche Anpassung bewusst zu machen. Er versteht sich als Moralist, dem es um Kritik an der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit geht. Dabei sieht er das Theater als Mittel, bei den Zuschauern das Bewusstein für mögliche eigene Entfremdung anzuregen. Die (dramatische) Kunst losgelöst von ethischen Aspekten ist für Miller dagegen bedeutungslos. So lässt Miller sich auch nicht als Vertreter eines bestimmten, von ihm als künstlerisch vollkommen angesehenen Dramentyps einordnen. Seine Kunst liegt vielmehr darin, durch Experimentieren eine Kombination von dramatischen Stilmitteln zu finden, mit der sich seine Idee am wirkungsvollsten umsetzen lässt und die die zugrunde liegende Moral des Stückes am besten zum Ausdruck bringt.
II.2. Grundzüge des Realismus und des Expressionismus
Da in All my Sons, Death of a Salesman, After the Fall und The Price insbesondere die Einflüsse des realistischen und expressionistischen Dramas dominieren, sollen hier die Hauptmerkmale dieser zwei Grundtypen des modernen Dramas skizziert werden, bevor im vierten Kapitel ihre konkrete Verwirklichung in den vorliegenden vier Stücken untersucht wird. Wie der Begriff Realismus schon andeutet, geht es bei diesem Dramentyp um eine möglichst mimetische Abbildung eines Lebensausschnitts. Der Zuschauer soll sozusagen vergessen, im Theater zu sein, und sich der Illusion hingeben können, dass er gerade Augenzeuge eines realen Vorgangs sei. Dafür ist die Einheit von Raum und Zeit von Bedeutung, denn durch große Zeitsprünge und extreme Ortswechsel wird eine lebensechte Darstellung unglaubwürdig. Die Raumgestaltung zeichnet sich dadurch aus, den Spielort wirklichkeitsgetreu abzubilden, und ist dementsprechend aufwendig und reich im Detail. Ebenso gilt für die Licht- und Tonregie, dass sie eine reale Geräuschkulisse und Beleuchtung schaffen, zum Beispiel dunkle Beleuchtung in der Nacht oder die Signale eines Zuges am Bahnhof. Die Guckkastenbühne ist durch ihren Illusionscharakter als Bühnenform für das realistische Drama optimal geeignet. Manfred Pfister sieht den beleuchteten Bühnenraum und den verdunkelten Zuschauerraum durch eine imaginäre vierte Wand getrennt, die den Illusionierungseffekt unterstützt:
Bühnenbild, Kostüme, Requisiten, Schauspielstil und Sprache sind auf getreue Wirklichkeitsnachahmung angelegt, und der Vorhang erspart die Erschütterung der Illusion beim Wechsel des Bühnenbilds. Man blickt gleichsam in einen Raum, in dem eine Wand fehlt – ohne daß dies den Personen in diesem Raum bewußt wäre. (2001 [1977]: 44)
Die Anzahl der Personen wird vorzugsweise gering gehalten; dafür handelt es sich überwiegend um runde, vielschichtige Figuren, die ihren Charakter im Verlauf des Stückes durch die Konfrontation mit anderen Figuren enthüllen. Sie vermitteln vergangene Geschehnisse im Dialog und die Glaubwürdigkeit des Gesagten wird durch das Verhalten der Figuren überprüfbar. Im Kontrast zum klassischen Theater vertraut man im modernen Drama nicht mehr auf die Ausdrucksfähigkeit, Selbstkenntnis oder auch Ehrlichkeit des Menschen, weshalb Gestik, Mimik und das Sprechverhalten der Figuren eine große Rolle spielen. Dagegen übernimmt das realistische Drama wiederum die klassische Handlungsstruktur, unterteilt das Stück jedoch nur noch in drei Akte, wobei eine lange Einführungsphase typisch ist. Ihre Aufgabe besteht darin, in eine bereits laufende Handlung einzuleiten und den Anschein eines alltäglichen Vorgangs zu erwecken, obwohl schon auf mögliche Probleme hingedeutet wird. Der präsentierte Alltag offenbart in der Regel zwischenmenschliche Konflikte und Gesellschaftsprobleme, die insbesondere auf psychologischer Ebene betrachtet werden. In Ibsens analytischen Drama geht es dabei immer um eine in der Vergangenheit begangene Schuld, die in der Gegenwartshandlung sukzessive aufgearbeitet wird und bei ihm immer tragisch endet.
Die Expressionisten stehen dem Realismus ablehnend gegenüber, da dieser durch objektive Beschreibung von Wirklichkeit nicht die individuell vollzogene subjektive oder emotionale Erfahrung von Wirklichkeit wiedergeben kann. Die Ausdruckskraft des subjektiven Erlebens gilt dagegen als Hauptkriterium des Expressionismus. Der Mensch wird aus der Perspektive seiner persönlichen Wahrnehmungen und Empfindungen dargestellt, die nicht selten im Widerspruch mit der objektiven Außenwelt stehen. Im Gegensatz zu den oben genannten Beispielen kann hier die dunkle Beleuchtung am helllichten Tag eingesetzt werden, um die düstere Stimmung einer Figur zu symbolisieren; und die Zugsignale können zum Beispiel für die Erinnerung an eine bereits vergangene Szene am Bahnhof stehen. Hierbei geht es oft um die Darstellung menschlicher Vereinsamung, Einengung und innerer Zerrissenheit bis hin zur Schizophrenie. Die expressionistische Literatur, die insbesondere von 1910-1925 in Deutschland hervortrat, „versteht sich somit in erster Linie als Plattform für Assoziationen, Emotionen und Projektionen des angesichts zeitgeschichtlicher Entwicklungen zutiefst desorientierten, verängstigten und frustrierten Menschen“ (Nieragden 1998: 141). Zu diesen zeitgeschichtlichen Merkmalen gehören unter anderem ein selbstzufriedenes, geistig erstarrtes Bürgertum, die fortschreitende Technisierung in allen menschlichen Bereichen, das Elend in den Großstädten und der Werteverfall im Allgemeinen. Der Expressionismus rebelliert dagegen, indem er seine Auflehnung durch die Sprengung konventioneller Formen deutlich werden lässt, wie zum Beispiel durch die Auflösung des Satzgefüges, der Typisierung von Personen und durch visionäre Bildhaftigkeit, die sich von der objektiven Realität abhebt.
Als Spielart des expressionistischen Dramas ist das Bewusstseinsdrama zu nennen, das für die anstehenden Untersuchungen relevant ist. Nach Martina Wächters (1989: 60-63) Definition des Bewusstseinsdramas zeichnet sich dieser Spieltyp dadurch aus, dass er das menschliche Innenleben in den Vordergrund rückt. Subjektive Wahrnehmungen sowie Erinnerungen werden im Gegensatz zum realistischen Drama szenisch realisiert, und die Vergangenheit wird als Bewusstseinsinhalt einer Figur dargestellt. Damit wird der Vorgeschichte eine eigene Spielebene zugeordnet, die durch Einblendung in die Gegenwartshandlung die chronologische Abfolge der Geschehnisse aufbricht. Eine weitere Konsequenz ist die Visualisierung subjektiven Erlebens, die den Vorteil größerer Anschaulichkeit und Intensität hat, und nicht zuletzt können Informationen und Ereignisse übermittelt werden, die von den Figuren aus den verschiedensten Gründen nicht zur Sprache gebracht werden können. Außerdem muss die Raumgestaltung neu durchdacht werden; jedoch hängt die konkrete Darstellung von Bewusstseinsinhalten vom jeweiligen Stück ab. Beispiele hierfür sind Death of a Salesman und After the Fall, die beide Bewusstseinsdramen sind, aber deren Raumgestaltung sehr unterschiedlich ausfällt.
III. Einführung in die Thematik der Stü>
Welche Dramenform Miller schließlich für ein spezifisches Stück wählt, entscheidet sich maßgeblich durch die Disposition des Protagonisten: „In each of my plays the central creating force ist the character [...]. And the form comes as a result of the texture of what I feel about that person“ (Miller 1996 [1985]: 424). Ausgangspunkt eines jeden Dramenstückes ist bei Miller also immer genau eine Hauptfigur, auch wenn in seltenen Fällen – wie vielleicht bei den Brüdern Franz in The Price – sich zwei oder mehrere Charaktere von fast ebenbürtiger Bedeutung finden: „[Because] basically the story is carried forward by one individual wrestling with his dilemma“ (Miller 1996 [1985]: 421). Analog zu diesem Vorgehen des Autors sollen hier zunächst die jeweiligen „Individuen“ aus All my Sons, Death of a Salesman, After the Fall und The Price vorgestellt werden. Dabei handelt es sich stets um in Amerika lebende Männer, deren fiktionale Gegenwart mit der Zeit der jeweiligen Uraufführung der Theaterstücke übereinstimmt. Neben einer Charakterisierung soll die Grundlage ihres persönlichen Dilemmas erörtert werden, bevor sich das nächste Kapitel den formalen Konsequenzen widmet. Abgesehen von den Protagonisten Joe Keller, Willy Loman, Quentin und Victor Franz werden auch Kate Keller aus All my Sons und Walter Franz aus The Price berücksichtigt, da auch sie einen „inneren Kampf“ durchmachen, dessen dramatische Umsetzung zum Vergleich herangezogen werden soll.
III.1. Joe Keller in der Doppelrolle des uneinsichtigen Verbrechers und sympathischen Familienvaters, und Kate Keller als Komplizin und Mutter
Alle vier zu untersuchenden Werke führen den Protagonisten in den einleitenden Bühnen- und Regieanweisungen als Erstes ein, wobei All my Sons eine vergleichsweise recht ausführliche explizit-auktoriale Charakterisierung liefert. Den vage gehaltenen deskriptiven Angaben zum Alter und Aussehen Joe Kellers folgen interpretative Deutungen seines Erscheinungsbildes, seiner Verhaltensweisen und seines Intellekts:
Keller is nearing sixty. A heavy man of stolid mind and build, a business man these many years, but with the imprint of the machine-shop worker and boss still upon him. When he reads, when he speaks, when he listens, it is with the terrible concentration of the uneducated man for whom there is still wonder in many commonly known things, a man whose judgments must be dredged out of experience and a peasant-like common sense. A man among men. (58/59)
Dieses Charakterprofil eines kräftig gebauten, sturköpfigen Mannes, der sich vom einfachen Arbeiter zum Firmenchef hochgearbeitet hat, wird in den folgenden Dialogen und Regieanweisungen des Stückes deutlich untermauert und ausgebaut. Mit nur zehn Jahren wurde Joe Keller von zu Hause fortgeschickt, um sich seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Dementsprechend konnte er sich nicht mehr als den Besuch einer Abendschule leisten. Seine rudimentäre Bildung zeigt sich nicht nur implizit durch seinen teilweise inkorrekten Sprachgebrauch, sondern Keller gibt auch selber offen zu, relativ unwissend zu sein. Außerdem neckt ihn sein Sohn wegen seiner mangelnden Bildung und fehlenden Französischkenntnisse, und seine Ehefrau geht noch einen Schritt weiter, wenn sie behauptet: „Dad and I are stupid people. We don’t know anything“ (90). Es offenbart sich so ein einfacher, schlichter Mensch, der in Zeitungen ausschließlich die Werbeannoncen liest und der über alltägliche Dinge überrascht sein kann. Darüber hinaus weist sich Joe Keller als charismatischer und allseits beliebter Mensch aus. Er hat immer einen humorvollen Spruch auf der Zunge und albert mit den Nachbarsjungen herum, während er sich mit den Vätern zum Kartenspiel trifft, die ihn auch sonst gerne besuchen. Sein Sohn Chris verehrt ihn und nennt ihn stolz „a great guy“ (83).
Was die meisten trotz aller Sympathien für Keller vermuten, was aber nicht ausgesprochen wird und darum auch für den Zuschauer erst im Verlauf des Stückes enthüllt wird, ist die Tatsache, dass Keller zu Kriegszeiten wissentlich defekte Zylinderköpfe für Flugzeugmotoren verkauft hat und damit das Leben von 21 Soldaten auf dem Gewissen hat. Vor Gericht hatte Keller jegliche Verantwortung abgestritten und stattdessen seinen Geschäftspartner und Nachbarn Deever beschuldigt, dieser habe die fatale Entscheidung alleine und in seiner Abwesenheit getroffen, als er selber krank zu Hause geblieben war. Wegen mangelnder Beweise wurde Keller in zweiter Instanz freigesprochen, während Deever zu Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die Krankheit war jedoch nur vorgetäuscht, um nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können, während Keller per Telefon dem fügsamen Partner strikte Anweisungen zur Auslieferung der beschädigten Flugzeugteile gab. Mit einer kaum zu überbietenden Selbstverständlichkeit sieht Joe Keller in dem Dokument über seinen Freispruch die Bestätigung seiner Unschuld, und durch sein selbstbewusstes Auftreten hat er die Akzeptanz in der Nachbarschaft zurückgewinnen können.
Das erfolgreiche Totschweigen dieses skrupellosen Verbrechens wird durch den Besuch der ehemaligen Nachbarstochter gefährdet. Ann Deever ist nicht nur die Verlobte von Larry Keller, dem zweiten Sohn der Familie, der jedoch aus dem Krieg nicht heimgekehrt ist und als vermisst gemeldet wurde, sondern sie ist ausgerechnet die Tochter des von Keller betrogenen und seit Jahren in Haft sitzenden Geschäftspartners. Von der Korrektheit des Richterurteils anscheinend überzeugt, kommt sie ohne Hass zu den Kellers. Im Gegenteil ist sie auf Einladung von Chris zurückgekehrt und in der hoffnungsvollen Ahnung, dass er sie heiraten möchte. Diese Heiratsabsichten sind nun der Auslöser für Kellers Dilemma, der dem Wunsch des Sohnes an sich nichts entgegenzusetzen hätte, wäre da nicht seine Ehefrau, die eine Heirat zwischen den beiden entschieden ablehnt. Kate Keller zeigt sich als einzige fest davon überzeugt, dass der vermisste Sohn Larry noch am Leben ist und zurückkommen wird. Aus diesem Grund verlangt sie von Ann, genau wie sie selbst auf Larrys Rückkehr zu warten. Bis zu diesem Zeitpunkt haben Joe und Chris nichts gegen Kates verzweifeltes Wunschdenken unternommen, doch wo jetzt die Heirat auf dem Spiel steht, fordert Chris die Desillusionierung der Mutter. Dafür benötigt er die Unterstützung des Vaters, der sich jedoch unwillig zeigt. Keller spürt, dass Kate seine kriminelle Vergangenheit nicht so wie er verdrängen kann, und er muss befürchten, dass sie ihn nicht mehr decken wird, wenn man ihr den Glauben an die Heimkehr des Sohnes zerstört.
Tatsächlich klammert sich Kate krampfhaft an diese Illusion, da sie den Selbstmord Larrys ahnt, der sich nach Zeitungsberichten über die Verhaftung des Vaters mit seinem Flugzeug in den Tod stürzte. Sie streitet letztendlich deshalb den Tod des Sohnes so vehement ab, um nicht in ihrem Mann den Mörder des eignen Sohnes sehen zu müssen. Sein Überleben ist für sie gewissermaßen entscheidend für den Zusammenhalt der Familie – und für sie gibt es nichts wichtigeres. Sie stellt sozusagen die Inkarnation der Familie dar und wehrt sich gegen alles, was die Familie zerbrechen würde. Diese Rolle wird schon dadurch signalisiert, dass sie in den Regieanweisungen nicht wie bei den anderen Figuren üblich mit ihrem Namen, sondern als „Mother“ bezeichnet wird: „Mother appears on porch. She is in her early fifties, a woman of uncontrolled inspirations and an overwhelming capacity for love“ (69). Zum Schutz der Familie verschweigt sie ihr Wissen darüber, dass ihr Mann an dem entscheidenden Tag gar nicht krank gewesen ist. Mit dem Tod des eigenen Sohnes, den sie mit dem Verbrechen Kellers verknüpft, kann sie dagegen nicht fertig werden: „[I]f he’s not coming back, then I’ll kill myself“ (73). Mord unter den eigenen Familienmitgliedern – sei er auch indirekt und ungewollt begangen – ist für sie nicht zu verkraften. So flüchtet sie sich in eine Welt der Illusionen und des Aberglaubens und besteht darauf, dass auch Joe und Chris „act like he’s coming back“ (73). Sie sieht darin die einzige Möglichkeit für das Weiterbestehen der Familie.
Somit treibt Keller zwischen Szylla und Charybdis, denn Chris droht damit, Ann auch ohne Zustimmung der Mutter zu heiraten und mit ihr fortzuziehen. Einerseits muss Joe die Bedingung seiner Ehefrau einhalten, um sich ihrer Verschwiegenheit sicher zu sein, andererseits bedeutet ebendiese Tat, dass er seinen Sohn als Nachfolger seiner Firma verliert, die er in vierzig Jahren aufgebaut hat. Sein ganzer Lebenssinn besteht darin, diese Firma an seinen Sohn weiterzuvererben, sein Lebenswerk fortgeführt zu wissen und etwas für seinen Sohn geschaffen zu haben. Diese ausweglose Lage offenbart sich Joe Keller bereits im ersten Akt von All my Sons und löst Reaktionen in ihm aus, die es im weiteren Verlauf zu untersuchen gilt.
III.2. Fragwürdige Lebensträume eines Willy Loman
Obwohl eine Reihe von äußeren Gemeinsamkeiten zwischen Joe Keller und Willy Loman in Death of a Salesman bestehen, erweisen sich die Nöte des Handlungsreisenden von andersartiger, komplexerer Natur. Erneut steht ein Familienvater im Mittelpunkt, der mit seinen 63 Jahren – analog zur zeitlichen Distanz zum Vorgängerstück – nur zwei Jahre älter als Keller ist. Auch er hat zwei erwachsene Söhne im gleichen Alter, von denen einer zu seinem Vater auf Konfrontationskurs geht. Wie Keller ist er ein einfacher, schlichter Mann, der sich ebenso mit seinem Nachbarn zum Kartenspielen trifft, und der von denselben Idealvorstellungen durchdrungen ist, wie insbesondere ein guter Vater zu sein und einen nennenswerten materiellen Erfolg zu haben. Angetrieben vom American Dream eifert er vergeblich seinem großen Vorbild David Singleman nach, der noch als 84-jähriger Handlungsreisender über das Telefon erfolgreich Geschäfte machte, und der dank seiner überwältigenden Popularität dabei seine Wohnung nicht mehr verlassen musste.
Während der wohlhabende und allgemein beliebte Keller sich zu Beginn von All my Sons noch in Selbstzufriedenheit sonnen kann, begegnet dem Zuschauer in Death of a Salesman gleich zu Anfang ein niedergeschlagener Willy Loman, dessen Ideale sich weder auf familiärer noch auf beruflicher Ebene verwirklicht haben. Seine finanzielle Situation bereitet ihm Sorgen, da das Haus noch nicht abbezahlt ist und er bereits Schwierigkeiten hat, die Rechnungen für alltägliche Reparaturen zu begleichen. In seinen Söhnen Biff und Happy findet er auch keine Entlastung, denn beide haben sich zu verantwortungslosen Taugenichtsen entwickelt. Im Gegenteil ist der Besuch des mittlerweile 34-jährigen Sohnes Biff im Elternhaus ausschlaggebend für den wachsenden Tumult in Lomans längst angeschlagenem Seelenleben, weil dieser sich vorzuwerfen hat, am unerwünschten Werdegang seiner Söhne nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. Durch Biffs Gegenwart drängen sich unliebsame Erinnerungen in Loman auf, wovon das einschneidendste Ereignis circa fünfzehn Jahre zurückliegt, als Biff seinen Vater mit einer Geliebten im Hotelzimmer antraf. Dieser Vorfall zerstörte schlagartig das Bild des zuvor idolisierten Vaters und dessen propagierte Werte von Erfolg und Beliebtheit. Resigniert wandte sich der junge Sohn von seinem Vater ab, er versuchte gar nicht mehr, seinen Schulabschluss zu machen, und hat sich seitdem mit schlecht bezahlten Aushilfsjobs durchgeschlagen.
Da Willy Loman diese Zwietracht zwischen sich und dem Sohn, seine Schuldgefühle und die wirtschaftlichen Sorgen nicht verkraften kann, flüchtet er sich in Illusionen und Erinnerungen an bessere Zeiten. Dafür muss er über 15 Jahre in die High-School-Zeit seiner Söhne zurückgehen, als diese ihn noch verehrten, Biffs sportliches Talent eine vielversprechende Laufbahn verhieß und Loman selber noch voller Hoffnung bezüglich seiner eigenen Karriere war. Seine Phantasie geht so weit, dass er sich noch in der dramatischen Gegenwart ernsthaft vormacht, diesen überall beliebten Erfolgsmenschen tatsächlich zu verkörpern, von dem er immer geträumt hat.
Ähnlich wie die Mutter in All my Sons kann der Handlungsreisende die Realität einerseits nur durch die Flucht in eine Illusionswelt ertragen, andererseits spürt auch Willy Loman im tiefen Unterbewusstsein – und damit bei weitem nicht so klarsichtig wie Kate Keller –, dass seine Traumwelt sich jeglicher faktischer Grundlage entzieht. Beide leiden sowohl psychisch als auch physisch unter dieser Situation, doch für Loman, der in seiner Traumwelt schon zu sehr verstrickt ist, als dass er sie als solche letztendlich begreifen könnte, ist die Lage fatal. Er nimmt die Realität oft gar nicht mehr richtig wahr und versetzt sich weniger aktiv in Erinnerungsszenen an vergangene glücklichere Tage, sondern verliert sich eher in diesen, wobei auch lang verdrängte Ereignisse wieder aufleben. Miller charakterisiert den Seelenzustand seines Protagonisten in dem Vorwort zu den Collected Plays folgendermaßen:
He was the kind of man you see muttering to himself on a subway, decently dressed, on his way home or to the office, perfectly integrated with his surroundings excepting that unlike other people he can no longer restrain the power of his experience from disrupting the superficial sociality of his behavior. Consequently he is working on two logics which often collide. For instance, if he meets his son Happy while in the midst of some memory in which Happy disappointed him, he is instantly furious at Happy, despite the fact that Happy at this particular moment deeply desires to be of use to him. He is literally at that terrible moment when the voice of the past is no longer distant but quite as loud as the voice of the present. (1996 [1957]: 138)
Es grenzt also streckenweise an Schizophrenie, wenn Loman Traumwelt und Wirklichkeit nicht mehr trennen kann. Seine seelische Labilität wird schon in den einleitenden Regieanweisungen angekündigt, in denen als Charaktermerkmale „his mercurial nature, his temper, his massive dreams and little cruelties“ (6) genannt werden. Neben der Erwähnung seines ungefähren Alters und seines unauffälligen Kleidungsstils konzentriert sich die Beschreibung seines ersten Auftritts auf seine körperliche und mentale Erschöpfung. Willy Loman ist kräftemäßig am Ende und bereits zu Beginn des Stückes auf dem Höhepunkt einer psychischen Krise. Und wie Lübbren feststellt, knüpft Miller mit der Darstellung dieser Krise an seine ursprüngliche Idee an, im Vorgängerstück den Konflikt von Kate Keller in den Mittelpunkt zu rücken: In Death of a Salesman erhebt Miller schließlich den „psychologischen Sachverhalt [...] zum bestimmenden Element sowohl seiner Hauptfigur als auch der dramatischen Struktur“ (Lübbren 1969 [1966]: 34). Inwiefern Lomans psychische Verwirrung in der Konzeption der Hauptfigur begründet liegt und durch die gewählte Dramenform bestmöglich zutage tritt, soll in den folgenden Kapiteln behandelt werden.
III.3. Die Identitätskrise Quentins
Nach Joe Keller und Willy Loman stellt After the Fall den mindestens 10-15 Jahre jüngeren Rechtsanwalt Quentin vor, der sich in einer tiefen Identitätskrise befindet. Seine zwei Scheidungen lassen ihn an seiner Beziehungsfähigkeit zweifeln, und so steht er vor der quälenden Entscheidung, ob er sich eine dritte Heirat zutrauen sollte. Denn er hat eine Frau kennen gelernt, mit der er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen könnte. Ihr anstehender Besuch zwingt ihn zu einem endgültigen Entschluss, den er monatelang vor sich her geschoben hat: „I’m a little afraid. ... Well, of who and what I’m bringing to her“ (13). Quentin ist sich selbst fremd geworden und hat sogar seine erfolgreiche Karriere an den Nagel gehängt, da er sich mit seiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr identifizieren kann („It all lost any point“ (12)). Seine Orientierungslosigkeit resultiert „aus dem Verlust glaubwürdiger Ideale und Heilserwartungen“ (Lengeler 1976: 21), worunter einmal für ihn Gott, der Sozialismus und Liebe zählten. Quentins Illusion, dass eine übermenschliche Macht über das Leben des Einzelnen richtet und ihm damit einen Sinn verleiht, zerbrach nach seinen Angaben, als er eines Tages aufschaute, „and the bench was empty. No judge in sight. And all that remained was the endless argument with oneself – this pointless litigation of existence before an empty bench. Which, of course, is another way of saying – despair“ (13/14). Inmitten dieser existentiellen Verzweiflung verspürt Quentin jedoch einen unerklärlichen Funken Hoffnung, dem er auf den Grund zu gehen gedenkt: „I thought – if I could corner that hope, find what it consists of and either kill it for a lie, or really make it mine ...“ (14) – dann könnte das Leben einen Sinn zurückerhalten. Somit entwirft Miller in After the Fall einen Menschen, der verzweifelt nach einem eigenen Standpunkt sucht (1996 [1966]: 283), und der danach ringt, seine persönliche Verantwortlichkeit für sein Leben zu erkennen (1996 [1964]: 256).
Quentins bewusste Auseinandersetzung mit seiner eigenen Person, die sich durch das ganze Stück vollzieht, führt ihn zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit seiner Vergangenheit. Dabei tauchen Erinnerungen von seiner frühen Kindheit bis zur nahen Gegenwart auf, die er zu deuten versucht. Er beleuchtet die problematischen Beziehungen zu seiner Familie, zu seinen Exfrauen Louise und Maggie, und zu seinen Freunden Mickey und Lou, indem er nach den Ursachen dieser zwischenmenschlichen Schwierigkeiten forscht. Quentin, der in den einführenden Regieanweisungen kurzum als „a man in his forties“ (12) beschrieben wird, ist Sohn einer wohlhabenden Familie, die in Folge des Börsenkrachs von 1929 ihr ganzes Geld verliert. Die gebildete Mutter, unglücklich verheiratet mit dem aus einfachen Verhältnissen stammenden und reich gewordenen Vater, einem Analphabeten, macht diesem den geschäftlichen Ruin zum Vorwurf. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Verachtung ihres Mannes und setzt ihren ganzen Ehrgeiz daran, Quentin zu einem Erfolgsmenschen zu erziehen, der wie sie auf „Verlierertypen“ wie ihren Mann herabschaut. So lässt Quentin seinen Vater schließlich im Stich und geht auf ein College, während der Vater seine Hilfe dringend benötigt, um das Geschäft wieder aufzubauen. Nach seiner Ausbildung macht er als Rechtsanwalt Karriere und tritt zeitweise einer kommunistischen Partei bei. Seine erste Ehe mit Louise scheitert nach knappen zehn Jahren daran, dass sie eine Zuneigung fordert, die er ihr nicht zu geben vermag: „eine Liebe, die nichts neben sich duldet, die Aufrichtigkeit verlangt, sich aber verletzt fühlt, sobald diese Aufrichtigkeit ihre Relativität enthüllt“ (Lübbren 1969 [1966]: 97). Ihre ständigen Vorwürfe und die daraus resultierenden Schuldgefühle kann Quentin nicht ertragen. Seine zweite Frau, die attraktive, naiv-natürliche Maggie, sehnt sich nach Geborgenheit und vermeint sie in Quentin gefunden zu haben. Doch auch Maggie muss feststellen, als sie ein berühmter Musikstar wird, dass ihr vermeintlicher „Göttergatte“ („Quentin – you’re like a god!“ (84)) einer vollkommenen Liebe nicht mächtig ist. Sie braucht jedoch absolute Zuwendung und Hingabe als seelischen Ausgleich im rücksichtslosen Showbusiness. Seine Bemühungen um sie können Maggie nicht vor dem menschlichen Ruin bewahren. Während sie sich mit Drogen langsam hinrichtet, distanziert sich Quentin von ihr, um nicht in diesen Selbstzerstörungsprozess mit hineingezogen zu werden. Einen zweiten Selbstmord, an dem Quentin sich mitschuldig fühlt, begeht sein Freund Lou. Dieser kann mit dem gesellschaftlichen Druck nicht umgehen, der in der McCarthy-Zeit auf kommunistische Sympathisanten ausgeübt wird. Quentin sieht sich zu dem Versprechen genötigt, Lou vor Gericht zu verteidigen (wozu es wegen des Freitods jedoch nicht kommt), auch wenn er damit seinen Ruf riskiert. Im Grunde aber empfindet er wie sein anderer Freund Mickey, der sich aus der Affäre zieht, indem er sich den Anordnungen des Komitees gegen unamerikanische Umtriebe beugt und die Namen von Parteigenossen preisgibt. Da Quentin sich jene Gleichgesinnung nicht eingestehen will, überwirft er sich auch mit Mickey.
Wie schon in den beiden Stücken zuvor hat sich der Protagonist mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen, nur diesmal geschieht es bewusst und aus eigenem Antrieb. Der grundlegende Unterschied zwischen Keller, Loman und Quentin besteht darin, dass die ersten beiden von Idealen vereinnahmt sind, die ihre Sichtweise und ihr Handeln maßgeblich determinieren. Eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit bedeutet in ihren Fällen zwangsläufig, das persönliche Scheitern an diesen Idealen zu akzeptieren, wozu weder der Geschäftsmann noch der Handlungsreisende geistig und psychisch in der Lage ist. Quentin dagegen, der um einiges jüngere Intellektuelle, hat seine Ideale längst aufgegeben. Er ist sowohl mit der Kraft als auch mit dem Verstand ausgestattet, seinen Lebensweg kritisch zu hinterfragen. Dabei muss er nicht befürchten, bezüglich irgendwelcher Lebensziele versagt zu haben, denn es fehlt ihm gerade an diesen. Dennoch ist auch er nicht ganz frei von Illusionen. Im Verlauf des Stückes muss Quentin erkennen, dass sein Handeln durch ein blindes Streben nach einem unschuldigen Dasein beherrscht wird, dass zum Beispiel seine Scheu vor einer weiteren Heirat eng mit der Sorge verknüpft ist, erneut Schuld auf sich zu laden: „[T]hrough Quentin’s agony in this play there runs the everlasting temptation of Innocence, that deep desire to return to when, it seems, he was in fact without blame“ (Miller 1996 [1964]: 256). Andererseits ist seine Verzweiflung an der empfundenen Sinnlosigkeit der eigenen Existenz und dem Scheitern seiner engsten zwischenmenschlichen Beziehungen „too serious, too deadly to permit him to blame others for it“ (Miller 1996 [1964]: 256). Konsequent und schonungslos geht der Rechtsanwalt mit sich selbst ins Gericht, um die Berechtigung seines Hoffens zu klären (Lengeler 1976: 16). In seiner inneren Zerrissenheit zwischen Verzweiflung und Hoffnung vollzieht Quentin einen Erkenntnisprozess, der die persönliche Ebene transzendiert und die Schuldigkeit und Verantwortung des Menschen im allgemeinen auf den Prüfstein legt.
III.4. Die konträren Lebenswege der Brüder Franz
Auch in The Price wird der Protagonist mit seiner Vergangenheit konfrontiert und gezwungen, seine Lebensentscheidungen erneut zu rechtfertigen. Victor Franz kehrt in die Wohnung seines seit Jahren verstorbenen Vaters zurück, um die verbliebenen Möbel zu verkaufen, bevor das ganze Haus abgerissen werden soll. Die alten Einrichtungsgegenstände wecken in ihm Erinnerungen an seine Jugendzeit. Wie bei Quentins Eltern treibt die Weltwirtschaftskrise den vermögenden Vater Franz in den wirtschaftlichen Ruin. Von der Mutter zusätzlich gedemütigt verlässt ihn jeglicher Lebenswille, und er vegetiert in dem ihm verbliebenen Dachgeschoss seines früheren Eigentums vor sich hin. Analog zu Dan in After the Fall steht ihm sein Sohn Victor unterstützend zur Seite, während der Bruder Franz (wie Quentin) das Elternhaus verlässt, um nach einem Medizinstudium als Chirurg Karriere zu machen. Als der naturwissenschaftlich begabte Victor sein Studium später nachholen will, weigert sich Walter, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Stattdessen verweist er auf den verarmten Vater, der laut Walter verschweigt, noch genügend Geld über die Depressionszeit gerettet zu haben, und der ihn deshalb unterstützen solle. Doch jener kann über Walters Vorschlag nur lachen.
Somit behält Victor seine unspektakuläre Stelle im Polizeidienst und hadert mit seinem Schicksal. Die Bedeutung seines Berufs in diesem Stück wird schon in den einleitenden Regieanweisungen aufgezeigt, die auf keine weiteren Merkmale eingehen: „Police Sergeant Victor Franz enters in uniform“ (4). Mit seinen 49 Jahren bereits pensionsberechtigt, sieht er sein Talent vergeudet und die sichere Chance einer Karriere verpasst. Seine Unzufriedenheit zeigt sich unter anderem darin, dass er sich davor sträubt, in Rente zu gehen, obwohl ihm nichts an seinem Beruf mit dem bescheidenen Einkommen liegt. Der Ruhestand markiert für ihn das endgültige Aus für seine schlummernden Ambitionen, und es graut ihm davor, sich in letzter Konsequenz eingestehen zu müssen, ein unbedeutendes Leben geführt zu haben (Weales 1982 [1969]: 104). Erschwerend hinzu kommt der Frust seiner ansonsten loyalen Ehefrau Esther, die unter dem eingeschränkten Lebensstil leidet. Obwohl sie beide auf ihren Sohn und Collegestipendiaten Richard stolz sein können, lässt sich für Victor kein Sinn in seinem Leben erkennen: „I look at my life and the whole thing is incomprehensible to me. I know all the reasons and all the reasons and all the reasons, and it ends up in – nothing“ (23). In Victors Augen liegen die Gründe für seinen nur mittelmäßigen Werdegang auf der Hand: Der Börsenkrach und die dadurch bedingte Hilfsbedürftigkeit des Vaters haben ihm keine andere Wahl gelassen. Außerdem schiebt er die Schuld auf seinen selbstsüchtigen Bruder Walter, der ihm jegliche finanzielle Unterstützung verweigerte. Als einzige Genugtuung gefällt er sich in der Opferrolle des pflichtbewussten, selbstlosen Sohnes, der für die Familie die eigenen Interessen zurückgesteckt hat, während der Bruder ausschließlich auf den persönlichen Vorteil bedacht gewesen ist.
Dessen Lebenslauf bildet dementsprechend einen deutlichen Kontrast. Auf familiärer Ebene steht Walter isoliert da, denn er ist von seiner Frau geschieden und von seinen Kindern entfremdet. Seinem beruflichen Ehrgeiz verdankt der Mittfünfziger zwar Ansehen und Reichtum, jedoch auf Kosten seiner Gesundheit. Nach einem schweren Nervenzusammenbruch, der ihm die Augen vor seinem bisherigen Leben geöffnet hat, ist er ernsthaft darum bemüht, einen neuen und würdigeren Anfang zu machen. Er trennt sich von seinen Altenheimen und widmet sich weniger profitablen ärztlichen Tätigkeitsbereichen. Im privaten Bereich baut er gleichzeitig neue Freundschaften auf. An die Selbstanalyse Quentins aus After the Fall erinnernd gelangt Walter zu der bedrückenden Erkenntnis, dass sein Karrierestreben auf die Angst zurückzuführen ist, genauso gesellschaftlich abzustürzen wie sein Vater: „And it was terror [...] directing my brains, my hands, my ambition – for thirty years.“ (84) – „Terror of [...] it ever happening to me – [...] as it happened to him [the father]“ (84). Er glaubt zu begreifen, dass Victor aus freier Entscheidung heraus diesem sozialen Wahn nicht wie er gefolgt ist, dass Victor sich vielmehr bewusst gegen einen Erfolg auf Kosten seiner Mitmenschen entschieden hat. Walter empfindet großen Respekt vor Victors Lebensweise und kommt zur Wohnungsauflösung mit der Absicht hinzu, sich mit Victor zu versöhnen.
Folglich treffen beide Brüder nach 16 Jahren wieder aufeinander – der eine voller Ressentiments, der andere mit dem Bedürfnis einer Aussöhnung. Ihre Aussprache wirft zwangsläufig einen Rückblick auf vergangene Ereignisse und führt zu einem „Prozeß der wechselseitigen psychischen Enthüllung und Analyse der Handlungs- und Verhaltensmotive [...], die die Brüder so unterschiedlich auf die damalige Situation im Elternhaus reagieren ließen“ (Brüning 1977: 51). Und wie in den Stücken zuvor basiert der Standpunkt des Protagonisten auf Illusionen, die er energisch verteidigt. Indem Victors aufopferungsvoller Einsatz für den Vater durch Walters Perspektive der ehemaligen Verhältnisse deutlich relativiert wird, gerät Victor unter Rechtfertigungszwang. Um seine moralische Integrität aufrecht erhalten zu können, braucht er seinen Bruder weiterhin als Sündenbock, wogegen sich Walter natürlicherweise wehrt. Somit geht es auch in The Price um falsche Schuldzuweisungen und die mangelnde Einsicht in die eigene Verantwortung. Während Quentin aus After the Fall freiwillig einen Klärungsprozess einleitet, werden Victor Franz, Joe Keller und Willy Loman durch äußere Umstände dazu genötigt, sich mit ihrer Vergangenheit und ihren Standpunkten erneut auseinander zu setzen. Die letzteren beiden aus All my Sons und Death of a Salesman sind bereits unentrinnbar in ihrer Lebenslüge verstrickt, bei Victor Franz erscheint jedoch eine Vergangenheitsbewältigung nicht ausgeschlossen. Seine körperlich-seelische Verfassung bildet kein Hindernis, es droht ihm keine Haft und er muss nicht die Verachtung seiner Familie befürchten. Im Gegenteil winkt ihm die Versöhnung mit dem ursprünglich geliebten Bruder. Was sich demzufolge in The Price in reinster Form abspielt, ist der innere Kampf um die persönliche Selbstachtung, wenn die zugrunde liegenden Werte als Illusionen entlarvt werden. Die Entwicklung und der Ausgang dieses innerlichen Konflikts, den alle vier Protagonisten auf unterschiedliche Weise durchmachen, und insbesondere deren szenische Darstellung sollen im Folgenden untersucht werden.
IV. Die dramaturgische Umsetzung innerer Konflikte und Bewusstseinsvorgänge
Bei aller Unterschiedlichkeit der äußeren Bedingungen, die die persönliche Würde des kriminellen Joe Keller, des psychisch kranken Loman, des verzweifelten Quentin und des unzufriedenen Victor Franz bedrohen, lassen sich von Stück zu Stück auffallende Parallelen entweder zwischen den Protagonisten oder bei den jeweiligen Dramenformen feststellen. Millers erstes Erfolgsstück All my Sons ist ein klassisch realistisch gehaltenes analytisches Drama, dass in der Manier Ibsens die Schuld des sturköpfigen Joe Kellers in der dramatischen Gegenwart aufrollt. Sein Nachfolger Willy Loman, der sich nach Alter, sozialer Herkunft, Familienstand und bezüglich seiner Ideale kaum von Keller unterscheidet, will seine Schuld genauso wenig wahrhaben. Jedoch geht es bei ihm nicht um ein skrupelloses Verbrechen, sondern um falsche Lebensträume, die ihn in den psychischen Zusammenbruch treiben. Miller interessiert sich hier für die Veranschaulichung des krankhaften Seelenzustands, und lässt deshalb phasenweise Lomans Traumwelt auf der Bühne aufleben. Dafür modifiziert er die Form von All my Sons durch expressionistische Stilmittel und entwickelt in Death of a Salesman einen originellen Typ des Bewusstseinsdramas. Für sein zweites Bewusstseinsdrama After the Fall experimentiert Miller weiter und „break[s] down some more walls of realistic theatre“ (Miller 1996 [1985]: 424). Der Ausbau durch expressionistische Elemente ist notwendig, da dieses Stück sich nun vollständig im Kopf des Protagonisten abspielen soll. Das rational arbeitende Gewissen Quentins wird vorgeführt, das über die Verfehlungen in der eigenen Vergangenheit hinaus die globale Schuld der Menschheit betrachtet, um daraus wiederum Rückschlüsse für die eigene Verantwortung zu ziehen. Die Verhältnisse im Elternhaus, das Karrierestreben, Quentins Intelligenz und der verloren gegangene Lebenssinn stellen insgesamt Merkmale dar, die sich in der Figur des ungefähr gleichaltrigen Victor Franz wiederspiegeln. Im Gegensatz zum Rechtsanwalt ist er jedoch nicht zur Selbstkritik bereit und protestiert gegen die Aufdeckung einer persönlichen Verantwortung für seine unerfüllten Lebenspläne. Mit The Price schließt sich nunmehr der Kreis wieder, denn Miller greift auf die realistisch-analytische Dramenform zurück, um Victors Lebenslüge zu entlarven. Im Vergleich zu All my Sons geht es aber weniger um die Enthüllung von Fakten, als um die Analyse der inneren Konflikte und Charaktermerkmale der Brüder Franz, die zusätzlich mit geballter Symbolik assoziativ unterstützt wird. Somit liegen jeweils zwei realistisch-analytische Dramen und zwei Bewusstseinsdramen vor, die dennoch im konkreten Aufbau beträchtlich variieren, so dass man wie Miller berechtigterweise von verschiedenen Dramenformen sprechen kann: „I don’t think one can repeat old forms as such […]. Each is different, […] each moment called for a different vocabulary and a different organization of the material“ (1996 [1966]: 281). In der nachstehenden Erörterung der dramaturgischen Umsetzung innerer Konflikte und Bewusstseinsvorgänge werden die jeweiligen formalen Abweichungen der Stücke untereinander aufgezeigt.
IV.1. Präsentation innerer Vorgänge in All my Sons
Die Wahl des von Ibsen geprägten analytischen Dramentyps für All my Sons ist unter anderem damit zu begründen, dass sich der Konflikt des Stückes vor einem harmonischen Hintergrund entfalten soll. Miller erklärt in einem Interview, dass die realistische Form
best expressed what [he] was after, which was an ordinariness of the environment from which this extraordinary disaster was going to spring. The amoral nature of that environment; that is, people involved in cutting the lawn and painting the house and keeping the oil burner running; the petty business of life in the suburbs. (1996 [1985]: 421/422)
So präsentiert das Stück zu Beginn das freundschaftliche Verhältnis der Kellers zu den Nachbarn, die sich an einem idyllischen Sonntagmorgen zu Joe Keller in seinen Garten gesellen. Die angenehme Ruhe des Tages wird durch schwärmerische Kommentare unterstrichen: „Every Sunday ought to be like this“ (59). Völlig entspannt wird über Alltägliches wie das Wetter und Neuigkeiten aus der Zeitung geplaudert, so dass die Einführungsphase sogar für ein realistisches Drama extrem lang ausfällt. Miller verteidigt seinen gemächlichen Einstieg durch die Absicht, eine Alltagsatmosphäre zu schaffen, in die das Desaster völlig unerwartet, und deshalb um so schockierender hineinplatzt:
It was made so that even boredom might threaten, so that when the first intimation of the crime is dropped a genuine horror might begin to move into the heart of the audience, a horror born of the contrast between the placidity of the civilization on view and the threat to it that a rage of conscience could create. (1996 [1957]: 129/130)
Zudem sieht Miller den Vorteil in der „Ibsenschen Analyse“, dass sie die Geschehnisse auf der Bühne in einen größeren kausalen Zusammenhang setzt, indem sie in aller Ausführlichkeit die Vergangenheit der Figuren in der dramatischen Gegenwart aufrollt. Miller will in All my Sons aufzeigen, dass das Leben von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung bestimmt ist. Die spürbaren Auswirkungen in der Gegenwart – das Leiden der Mutter und Joe Kellers wachsende Misere – haben ihren Ursprung in einer vor Jahren begangenen Straftat. Diese vergangene Ursache muss aufgearbeitet werden, um ein Verständnis dafür zu erwecken, was Miller folgendermaßen beschreibt: „[The] consequences of action are as real as the actions themselves“ (1996 [1957]: 130) und „men cannot walk away from certain of their deeds“ (1996 [1957]: 131). Die Herausstellung des Bezugs von Handlung und ihren Konsequenzen, von Vergangenheit und Gegenwart, spielt für Miller eine wesentliche Rolle: „[B]ecause dramatic characters, and the drama itself, can never hope to attain a maximum degree of consciousness unless they contain a viable unveiling of the contrast between past and present, and an awareness of the process by which the present has become what it is“ (1996 [1957]: 133). Somit soll nicht nur den Zuschauern das Verhalten der Figuren auf der Bühne durch den familiengeschichtlichen Kontext verständlich gemacht werden. Auch die Figuren selbst sollen durch die Einsicht in die entscheidenden Prozesse, Veränderungen und Entwicklungen in ihrem Leben zu einem vollständigen Bewusstsein ihrer aktuellen Lage gelangen.
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- Quote paper
- Barbara Groß-Langenhoff (Author), 2005, Die Darstellung innerer Konflikte und Bewusstseinsvorgänge in Arthur Millers Dramen am Beispiel von "All my Sons", "Death of a Salesman", "After the Fall" und "The Price", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76578
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