Kaum eine andere politische Entscheidung, seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren unter Bundeskanzler Adenauer, führte zu ähnlich kontroversen Diskussionen in Deutschland, wie der NATO -Doppelbeschluss von 1979. Dieser enthielt ein Programm zur Modernisierung und Verstärkung der Nuklearsysteme und gleichzeitig signalisierte er Verhandlungsbereitschaft, sowie Initiativen zum Vorantreiben der Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion.
Mit dem Beschluss sollte dem durch Aufrüstung und Modernisierung der sowjetischen Seite entstandenen militärischem Ungleichgewicht in Europa begegnet werden. Innenpolitisch wurde er von starken Protesten, hervorgerufen durch die Angst eines nuklearen "Overkills" , begleitet. Trotz dieses Widerstandes setzte Helmut Schmidt sich für die Entwicklung der "ERW" ein und später für den Doppelbeschluss.
Im Folgenden soll deshalb erörtert werden, warum Schmidt an seiner Forderung nach Nachrüstung festhielt und welche Entwicklung dem Beschluss vorausging. Hierfür wird es notwendig sein, Schmidts Gleichgewichtsphilosophie genauer zu betrachten. Sein Buch "Strategie des Gleichgewichts", sowie seine Londoner Rede von 1977 sind dafür besonders geeignet. Ebenso zu untersuchen sein wird die Bedeutung des "Neutronenwaffen"-Debakels, und die sicherheitspolitische Lage in einem groben Überblick, sowie schließlich der Beschluss selber, seine Folgen und ob hierdurch ein bedeutender Beitrag zur Abrüstung und Entspannung geleistet werden konnte, und inwieweit Schmidt selber hierfür verantwortlich war.
Von der reichlich vorhandenen Literatur zu diesem Thema stechen "Sicherheit und Stabilität. [...]" von Helga Haftendorn, sowie "Erinnerungen" von Hans-Dietrich Genscher und die Rede Helmut Schmidts in London 1977 besonders hervor, da diese
einen sehr detaillierten Überblick zu der Thematik bieten.
Durch die Komplexität des Themas können nicht alle Aspekte der Diskussion um die "Neutronenwaffe" und den NATO-Doppelbeschluss betrachtet und erklärt werden. Vor allem die innerparteilichen Kontroversen werden nur kurz beleuchtet, und die Positionen der Protagonisten Großbritanniens (James Callaghan) und Frankreichs (Giscard d´Estaing) nicht behandelt.
[...]
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Helmut Schmidts politisches Denken.
a) Die Strategie des Gleichgewichts...
b) Der Politiker als Verantwortungsethiker
c) Schmidts Rede vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien
III. Die sicherheitspolitische Lage
a) Die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik.
b) Das Debakel um die „Neutronenwaffe“.
c) Die SALT und MBFR Abrüstungsverhandlungen und die Entstehung der „Grauzonenproblematik“
IV. Der NATO-Doppelbeschluss
a) Die Entstehungsphase
b) Der doppelte Beschluss..
c) Das doppelte Missverständnis
d) Die unmittelbaren Folgen des Beschlusses
V. Ein Rückblick aus heutiger Sicht (Schlussbetrachtung).
VI. Literaturverzeichnis
a) Quellen, Dokumente
b) Sekundärliteratur
I. Einleitung
Kaum eine andere politische Entscheidung, seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren unter Bundeskanzler Adenauer, führte zu ähnlich kontroversen Diskussionen in Deutschland, wie der NATO[1] -Doppelbeschluss von 1979. Dieser enthielt ein Programm zur Modernisierung und Verstärkung der Nuklearsysteme und gleichzeitig signalisierte er Verhandlungsbereitschaft, sowie Initiativen zum Vorantreiben der Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion.
Mit dem Beschluss sollte dem durch Aufrüstung und Modernisierung der sowjetischen Seite entstandenen militärischem Ungleichgewicht in Europa begegnet werden. Innenpolitisch wurde er von starken Protesten, hervorgerufen durch die Angst eines nuklearen „Overkills“[2], begleitet. Trotz dieses Widerstandes setzte Helmut Schmidt sich für die Entwicklung der „ERW“[3] ein und später für den Doppelbeschluss.
Im Folgenden soll deshalb erörtert werden, warum Schmidt an seiner Forderung nach Nachrüstung festhielt und welche Entwicklung dem Beschluss vorausging. Hierfür wird es notwendig sein, Schmidts Gleichgewichtsphilosophie genauer zu betrachten. Sein Buch „Strategie des Gleichgewichts“, sowie seine Londoner Rede von 1977 sind dafür besonders geeignet. Ebenso zu untersuchen sein wird die Bedeutung des „Neutronenwaffen“-Debakels, und die sicherheitspolitische Lage in einem groben Überblick, sowie schließlich der Beschluss selber, seine Folgen und ob hierdurch ein bedeutender Beitrag zur Abrüstung und Entspannung geleistet werden konnte, und inwieweit Schmidt selber hierfür verantwortlich war.
Von der reichlich vorhandenen Literatur zu diesem Thema stechen „Sicherheit und Stabilität. [...]“ von Helga Haftendorn, sowie „Erinnerungen“ von Hans-Dietrich Genscher und die Rede Helmut Schmidts in London 1977 besonders hervor, da diese
einen sehr detaillierten Überblick zu der Thematik bieten.
Durch die Komplexität des Themas können nicht alle Aspekte der Diskussion um die „Neutronenwaffe“ und den NATO-Doppelbeschluss betrachtet und erklärt werden. Vor allem die innerparteilichen Kontroversen werden nur kurz beleuchtet, und die Positionen der Protagonisten Großbritanniens (James Callaghan) und Frankreichs (Giscard d´Estaing) nicht behandelt.
II. Helmut Schmidts politisches Denken
a) Die Strategie des Gleichgewichts
Die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik trug ab 1969 die Handschrift von Helmut Schmidt, des damaligen Bundesverteidigungsministers. Nach dem Prinzip des
Harmel-Konzepts[4] beruhte sie auf einem „Standbein“, der militärischen Verteidigung der Allianz und ließ dabei der Entspannung, dem „Spielbein“, Raum zur Entfaltung.[5]
In seiner Regierungserklärung vom 17.Mai 1974, einem Tag nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, wies er auf die Bedeutung der NATO für die Bundesrepublik hin: „Das atlantische Bündnis bleibt elementare Grundlage unserer Sicherheit, und es bleibt der notwendige politische Rahmen für unsere Bemühungen um Entspannung in der Welt.“[6]
Die NATO stellte für Schmidt hierbei also den Anker in allen außenpolitischen Gleichgewichtsüberlegungen der Bundesrepublik dar. Die Notwendigkeit des militärischen Gleichgewichtes zwischen Ost und West, betont Schmidt ausdrücklich in seinem Buch „Strategie des Gleichgewichts“[7], da diese für eine sichere und friedliche Koexistenz der beiden Blöcke (NATO- auf der einen, Warschauer-Pakt-Staaten auf der anderen Seite), unumgänglich sei.
Für entspannungspolitische Überlegungen sei Gleichgewicht ebenso unabdingbar, da Entspannungspolitik ohne Gleichgewicht, mit Unterwerfung gleichzusetzen sei, wie Schmidt von Werner Link in dem Buch „Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt“ zitiert wird.[8]
Nach seiner Auffassung nützen Abrüstung und Entspannung also nur dann, wenn das Gleichgewicht zwischen den Mächten bestehen bleibt.
b) Der Politiker als „Verantwortungsethiker“
Als Schmidt 1974 Bundeskanzler[9] wurde, drohte sich das Machtgleichgewicht in Europa zu verschieben. Die in der SPD geschürte Entspannungseuphorie, schien nüchterne Überlegungen auf der Strecke bleiben zu lassen. Das im Rahmen der Ostpolitik, unter Bundeskanzler Willy Brandt, gestiegene Bedürfnis der Deutschen nach allseitiger Harmonie und Friedensstiftung, erfasste spätestens jetzt auch das Verhältnis zur Sowjetunion. Währenddessen rüstete diese jedoch, auch im Namen der Entspannung, alle Teilbereiche ihrer Streitkräfte massiv auf.[10]
Schmidt versuchte dieser Schieflage durch realistische Gleichgewichtsüberlegungen entgegenzuwirken. Im Sinne von Immanuel Kant und Max Weber sah er sich selbst als „Verantwortungsethiker“[11], im Gegensatz zu den ihm stets fremd gebliebenen „Gesinnungsethikern“[12]. Hier zeigte sich der rational und pragmatisch denkende Mensch Schmidt. Für ihn war also nicht die gute Absicht, sondern vernunftorientiertes Handeln wichtig, immer im Bewusstsein möglicher Folgen dieser Handlung. Er stand der Politik seines Vorgängers Willy Brandt und dessen Vision einer gesamteuropäischen Friedensordnung und den entspannungspolitischen Plänen skeptisch gegenüber, da er diese als zu optimistisch einschätzte. Schmidt orientierte sein Handeln vielmehr an den militärischen und strategischen Notwendigkeiten der politischen Realität.
c) Schmidts Rede vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien
Bei seiner Rede[13] vor dem IISS in London am 28.Oktober 1977 wies Schmidt auch auf die Bedeutung der Weltwirtschaft als sicherheitspolitischen Faktor hin, wobei er die Ölkrisen und Rezession der siebziger Jahre im Gedächtnis hatte.[14]
Für die Entwicklung jedoch, die schließlich zum NATO-Doppelbeschluss führte, waren seine Hinweise auf die Gefahr einer eurostrategischen Disparität zwischen den beiden Bündnissen wesentlich bedeutsamer. Er warnte vor einer sich hieraus ergebenden Verschiebung des Kräftegleichgewichtes, wenn im Zuge der SALT[15] Verhandlungen dieses Ungleichgewicht nicht abgebaut werden könne: „Wir verkennen nicht, dass sowohl den USA als auch der Sowjetunion zu gleichen Teilen daran gelegen sein muss, die gegenseitige strategische Bedrohung aufzuheben. Aber: eine auf die Weltmächte [...] begrenzte strategische Rüstungsbeschränkung muss das Sicherheitsbedürfnis der westeuropäischen Bündnispartner gegenüber der in Europa militärisch überlegenen Sowjetunion beeinträchtigen, wenn es nicht gelingt, die in Europa bestehenden Disparitäten parallel zu den SALT Verhandlungen abzubauen.“[16]
Die Entspannung zwischen den Supermächten musste also nicht zwangsläufig Entspannung für Europa beinhalten, sondern konnte hier eindeutig als gegenläufig bezeichnet werden.
Schmidt befürchtete ein militärisches Abkoppeln der USA von Westeuropa, während in Washington seine wiederholten Hinweise auf das militärische Ungleichgewicht in Europa, als Bedürfnis der Bündnispartner nach Auf- und Nachrüstung verstanden wurde. Schmidt ging es aber nicht um Aufrüstung, sondern um die Herstellung von Parität: „Man könnte [zur Wiederherstellung des Kräftegleichgewichtes] massiv aufrüsten. [...] Man könnte aber auch auf der Seite der NATO wie des Warschauer Paktes die Streitkräfte reduzieren. [...] Meine Präferenz hat die Reduktion.“[17]
III. Die sicherheitspolitische Lage
a) Die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik
Die NATO hatte bis in die 60er Jahre hinein Sicherheit primär militärisch definiert. Sie beruhte auf der militärischen Bedrohung und der nuklearen Abschreckung gegenüber der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Paktes, durch die USA und das atlantische Bündnis. Seit der Erklärung des Harmel-Berichts 1967 kam die Komponente der politischen Bemühungen um Entspannung hinzu. Für die Bundesrepublik war dies die Grundlage zur Vermeidung von Konflikten zwischen ihrer Ost- und Westpolitik. Die Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten konnte angestrebt werden, ohne dass die Bündnistreue angezweifelt würde.
Seither ruhte die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik auf drei Elementen:
- auf dem Beitrag der Bundeswehr zur konventionellen Verteidigung des Westens
- auf der Betonung der engen Verbindung zu den USA und deren nuklearen Verteidigungspotentials und drittens
[...]
[1] NATO = North Atlantic Treaty Organisation
[2] nuklearer Overkill = Auslöschung des menschlichen Lebens auf der Erde
[3] „ERW“ = Enharenced Radiation Weapon (dt. “Neutronenwaffe”)
[4] Im sog. Harmel-Bericht der NATO vom Dezember 1967, benannt nach dem belgischen Außenminister Pierre Harmel, erklärten die Bündnispartner die militärische Verteidigungsfähigkeit und politische Bemühungen um Entspannung als miteinander vereinbar („Zwei-Pfeiler-Doktrin“). Der militärischen wurde nun also die politische Dimension des Sicherheitsbegriffes hinzugefügt. Hiermit sollte „eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien“ erreicht werden.
[5] Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen?, 3. Auflage, Berlin 1997, S.229.
[6] Helmut Schmidt, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, in: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 60 vom 18. Mai 1974, S593-599.
[7] Helmut Schmidt, Strategie des Gleichgewichts. Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte, Stuttgart 1969
[8] Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Schmidt, in: Wolfgang Jäger/Ders., Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S.324.
[9] Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, S.92-93.
[10] Hacke, Außenpolitik, S.231.
[11] Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Berlin 1987, S.10.
[12] Nach Max Weber ist jedes ethisch orientierte Handeln entweder gesinnungs- oder verantwortungsethisch. Handeln ist gesinnungsethisch geprägt, wenn seine Konsequenzen einer höheren Macht oder dem Schicksal zugeschrieben werden. Verantwortungsethisch geprägt ist es, wenn die handelnde Person die Verantwortung für mögliche Folgen trägt. Die Folgen können also, wenn voraussehbar gewesen, nicht auf andere abgewälzt werden. Die scheinbar unauflösliche Spannung besteht hier zwischen absoluter Ethik und kühlem Agnostizismus.
[13] Das IISS ist eine private Einrichtung und eines der hochgeschätztesten Institute seiner Art in Europa
[14] Helga Haftendorn, Sicherheit und Stabilität. Außenbeziehungen der Bundesrepublik zwischen Ölkrise und NATO-Doppelbeschluss, München 1986, S.23-28.
[15] SALT = Strategic Arms Limitation Talks
[16] Helmut Schmidt, Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit, in: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 112 vom 8.November 1977. S.1013-1020.
[17] Schmidt, Politische Aspekte der westlichen Sicherheit, S.1013-1020.
- Arbeit zitieren
- Alexander Blum (Autor:in), 2001, Helmut Schmidt und der NATO-Doppelbeschluß, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7649
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