Diese Arbeit widmet sich den theatralen Einflüssen im Film anhand dreier Filmbeispiele. Während der erste Teil der Arbeit eine kategorisierte Trennlinie der Medien Film und Theater vornimmt, erfolgt im zweiten Teil die beispielhafte Analyse anhand Baz Luhrmanns "Moulin Rouge", Takeshi Kitanos "Dolls" und Lars von Triers "Dogville".
Gutachten des Professors: "Dem Verfasser ist zu bescheinigen, dass Besseres und Kompetenteres zum Thema lange Zeit nicht zu lesen war."
Inhaltsverzeichnis - Band I - Textteil
I. Vorhang auf!
1. Die Anfänge des Films
1.1. Wegbereiter der Filmkunst. Lumière und Méliès
1.2. Konstitution einer emanzipierten Filmsprache. D.W. Griffith
2. Film ist nicht Theater?
2.1. Raum im Theater und Film
2.2. Drehbuch und Drama
2.3. Filmsprache und Filmsemiotik
2.4. Gegenwart, Körper und Schauspielkunst
2.5. Rezeption
2.6. Ton
II. Auf- und Abgänge
1. Kitano: DOLLS
1.1. Das Bunraku Puppenspiel
1.2. Stilistik und Realismus: Kitanos Prolog und Überblendung
1.3. Die Etablierung des Bunraku im filmischen Gewand
1.3.1. Menschliche Puppen
1.3.2. Übersteigerte Realität und stilisiertes Tableau
1.4. Fazit: Die Negation einer authentischen Wirklichkeit
2. Baz Luhrmann: MOULIN ROUGE
2.1. Traditionslinien
2.1.1. Musicals
2.1.2. Melodrama
2.1.3. Französische Filmfarce
2.2. Spiel im Spiel
2.3. Larger than life
2.4. Fazit: Negation einer authentischen Wirklichkeit
3. Lars von Trier: DOGVILLE
3.1. Cinemascope Kino durch Imagination
3.2. Einheit und Bewegung im Raum
3.3. Bigger than Brecht?
3.4. Fazit: Die Negation einer authentischen Wirklichkeit
III. Vorhang zu!
IV. Literaturverzeichnis
I. Vorhang auf!
Ein Vorhang. Der Titel: Sommernachtstraum von William Shakespeare. Der Zuschauer sieht, mit Beginn des Spiels, einen jungen Mann durch die dunkle Strasse einer Großstadt wandern, bis er auf eine Gang trifft, die ihn wegen seines Äußeren anpöbelt. „Täuscht mich mein Auge? Soll das ein Beinkleid sein?“ Zettel: „Und wenn es so ist, spricht etwa Neid aus eurem Blick?“[1] Selbstsicher geht Zettel weiter bis er auf die schöne Titania trifft, die im Angesicht seiner Gestalt sofort in Liebe verfällt. „Weckt mich ein Engel von meinem Blumenbett? Ich bitt euch, holder Sterblicher singt weiter. Mein Ohr ist ganz verliebt in eure Melodie. Auch ist mein Aug betört von eurer schönen Form. Ich liebe euch.“[2]
Diese Zeilen von Shakespeares Sommernachtstraum sind kein Zitat einer modernen Theaterinszenierung des rund vierhundert Jahre alten Stückes, sondern vielmehr des neuesten Levis Werbespots, der zu Zeit in Kinos und im Fernsehen ausgestrahlt wird. Was Levis hier als Konzept entwickelt hat, ist im höchsten Maße theatral. Zum einen beginnt der Werbespot mit einem roten Vorhang in der statischen Perspektive einer Guckkastenbühne. Zum anderen verwendet er den Originaltext von Shakespeares Sommernachtstraum und etabliert damit eine Kunstsprache innerhalb des Lokalkolorits der dunklen Viertel von Los Angeles. Dies ist im Ergebnis kein Naturalismus des filmischen Mediums, das allein konsumierend wahrgenommen wird. Durch die Widersprüchlichkeit von historischer Sprache, dem theatralen Rahmen, dem innovativen Image von Levis und durch die filmische Auflösung im zeitgenössischen Szenenbild entsteht vielmehr ein Stil, der die Aufmerksamkeit des Zuschauers weckt und ihn an dem Film partizipieren lässt. Dies ist vor allem in der Werbebranche Gold wert und unterstreicht damit die intendierte Wirkung des Werbespots. Theater im Film ist demzufolge eine Ästhetik, die selbst die fortschrittliche Werbeindustrie aufgreift und so beweist, dass dies keine Reliquie antiquierter Kunstfilme ist, die spätestens seit dem Ende der 60er Jahre als ausgestorben gelten. Wer dies unterstellt, denkt an hölzerne Filme, „in denen die Darsteller von links ins Bild treten und rechts wieder abtreten. Es gibt hohes Deklamieren und Grimassieren.“[3] Aber das ist weder typisch für theatrales Kino, noch für das Theater, vielmehr für die klischeebehaftete Vorstellung einer Bühnenkunst, die tatsächlich als überholt und damit als ausgestorben gilt.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Korrespondenz zwischen Film und Theater ist in der Gegenwart lebendiger denn je. Dies zeigen in erster Linie die zahlreichen filmischen Adaptionen von Theaterstücken in der jüngsten Vergangenheit, angefangen bei Baz Luhrmanns Romeo+Julia, Michael Almereydas Hamlet 2000 oder Closer von Mike Nichols. In der deutschen Filmlandschaft wagte sich zuletzt Romuald Karmakar mit Die Nacht singt ihre Lieder an die filmische Bearbeitung von Jon Fosses Stück und erntete dabei von der Fachpresse die Kritik, dies sei lediglich abgefilmtes Theater.[4] Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang auch das ZDF Projekt Feuer in der Nacht. Hier proklamierte der Sender im Oktober 2004 eine Neuheit in der Fernsehgeschichte, in dem er in Form eines Live Movies, parallel zum Dreh eine Direktausstrahlung vornahm. Dies ist im Film möglicherweise eine Neuheit, im Theater allerdings in Form der Simultanität von Produktion und Rezeption eine Selbstverständlichkeit. Nicht zuletzt begeben sich inzwischen auch namenhafte Filmemacher wie Doris Dörrie und Bernd Eichinger in die Sphäre einer Operninszenierung, um mit „Mitteln der Kinokultur“[5] die Tücken der Live-Kunst Oper zu überbrücken. All dies sind wechselseitige Beziehungen der Gegenwart. Aus diesem Grund soll es in der zugrunde liegende Arbeit auch nur um Filme der vergangenen vier Jahre gehen. Die Untersuchung und Analyse beschränkt sich so gesehen auf Takeshi Kitanos Dolls (2002), Baz Luhrmanns Moulin Rouge (2001) und Lars von Triers Dogville (2004). All diese Filme haben gemeinsam, dass sie innerhalb des filmischen Rahmens theatrale Bezüge erstellen. Es geht also in dieser Arbeit in keiner Weise um die filmische Ästhetik und Technik einer Theateraufzeichnung. Auch Dramenverfilmungen sollen an dieser Stelle ausgeklammert bleiben. Vielmehr soll das filmische Medium stets der Ausgangspunkt sein, um eine Untersuchung der theatralen Mittel vorzunehmen. Berücksichtigt werden dabei sowohl Einflüsse und Theorien von namenhaften Theatergrößen, als auch die Kennzeichen des Mediums der Bühnenkunst, die der Film im zweiten Schritt adaptiert. Zugleich rückt in diesem Zusammenhang auch die simultane Korrelation zwischen dem theatralen und filmischen Rahmen in den Mittelpunkt der Analyse. Bevor jedoch mit einer tief greifenden Untersuchung begonnen werden kann, muss zunächst definiert werden, was prototypisch für die beiden Medien kennzeichnend ist. Beide sind in gleicher Weise darstellende Künste, die Geschichten erzählen und sich auf ein ähnliches Zeichensystem beziehen. In der Konsequenz konstituiert sich ein nicht unerheblicher Graubereich, der einerseits den Wettstreit zwischen Theater und Film weiter fortführt, jedoch auch glücklicherweise schöpferische Korrespondenzen zulässt. Für eine Analyse ist es dennoch zunächst unerlässlich, dieses Geflecht auszudifferenzieren, um die Gesetzmäßigkeiten und Mittel des jeweiligen Mediums offen zu legen. Berücksichtigt werden lediglich prototypische Säulen, die sich dem Graubereich zwischen den Medien entziehen. Behandelt werden dabei die sechs Dimensionen Raum im Theater und Film, Drehbuch und Drama, Filmsprache und Filmsemiotik, Gegenwart, Körper und Schauspielkunst, Rezeption sowie Ton. In dem Diskurs über Raum wird in erster Linie die unterschiedliche Handhabung des filmischen und theatralen Raumes aus einer dynamischen bzw. statischen Betrachtungsweise behandelt. Gleichzeitig befasst sich dieser Abschnitt auch mit den kompositorischen Möglichkeiten zur Gestaltung eines Bildes, sowie dem Grad der Annäherung an eine illusionistische Realitätsabbildung. Das Kapitel Drehbuch & Drama fokussiert dagegen die vielfältigen Möglichkeiten der Dramaturgie in Theater und Film, sowie die Selbstständigkeit der szenischen bzw. dramatischen Struktur als produktionsunabhängiges Kunstwerk. Das Kapitel Filmsprache & Filmsemiotik rückt darüber hinaus die unterschiedliche Wertigkeit theatraler und filmischer Zeichen in den Vordergrund und untersucht dabei ihre Mobilität im jeweiligen Medium. Gegenwart, Körper und Schauspielkunst befasst sich mit der grundlegenden Differenz zwischen Theater und Film; der Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Darstellers und erläutert dabei die Folgen für die Beziehung Körper/Raum sowie das darstellende Spiel. Im abschließenden Kapitel Ton soll es um die divergierende Wertigkeit der Akustik gehen, die im Film eine andere Qualität gewinnt, da sie künstlich aufgezeichnet wird. Die resultierenden Ergebnisse sollen ein Gerüst konstituieren, das als Hilfsmittel zur Analyse dienen soll und insbesondere bei der abschließenden Gegenüberstellung der drei Filme herangezogen werden kann. Deren Auswahl erfolgte dabei nach dem Kriterium ihrer höchst unterschiedlichen Handhabung der Theatralität, die auf differenten ästhetischen Kriterien beruht und damit eine unterschiedlich gewichtete Einbindung der theatralen Mittel in den Film zur Folge hat. Dolls nimmt das Bunraku Puppentheater als ästhetische Grundlage und überträgt vor allem dessen Künstlichkeit und Puppenhaftigkeit auf die Szenerie bzw. die Figuren. Moulin Rouge dagegen konstituiert ein simultanes Nebeneinander des theatralischen und filmischen Rahmens in Form des Spiels im Spiel und erzeugt gleichzeitig eine übertriebene Künstlichkeit, die sich im Ergebnis in eine präsentierte Theatralität umkehrt. Dogville ist in dieser Triade mit Sicherheit der radikalste Entwurf, da er auf jegliche Visualisierung durch das Szenenbild verzichtet und gleichzeitig die Theorien Brechts lehrbuchmäßig umsetzt. In diesem Sinne erfolgt eine Betrachtung dreier Filme aus drei unterschiedlichen Kulturkreisen und Kontinenten, die einer gemeinsamen Idee unterliegen, jedoch eine divergierende Filmsprache entwickelt haben und somit der Theatralität eine ungleiche Wertigkeit beimessen. Dieser Aspekt soll insbesondere bei der abschließenden Gegenüberstellung zum tragen kommen.
Im Vorfeld des theoretischen Abschnittes zur Untersuchung der prototypischen Mittel des Filmes und des Theaters erfolgt jedoch zunächst ein antizipierender Abriss über die Geburt und die frühen Jahre des Films. Hierbei soll in erster Linie aufgezeigt werden, dass der fiktive Film aus dem Theater entstanden ist und erst auf dieser Basis eine eigene Filmsprache entwickelt hat. Das Thema Theater im Film ist somit keine akademisch erzeugte und definierte Querverbindung, sondern hat ihre aufeinanderbezogene Vergangenheit und Begründung.
1. Die Anfänge des Films
Bei einer der ersten Filmvorführungen im Jahr 1895 hatte Louis Lumière dem unternehmungslustigen jungen Georges Méliès den Verkauf seines Patents abgelehnt mit der Begründung, dass es sich bei dem Kinematographen um ein wissenschaftliches Instrument handle, nicht um eine Unterhaltungsmaschine.[6] Nur zwanzig Jahre später eroberte der Film das breite Publikum und etablierte sich als Kunst für die Massen als Pendant zum Theater. Es war klar, dass sich das junge Medium seine neue Bedeutung erst erringen und unter Beweis stellen musste, vor allem weil in den Anfangsjahren die Technik noch in den Kinderschuhen lag. Doch je größer der Einfluss des Kinos wurde, desto härter wurden die Fronten zwischen Theater und Film. Filmemacher wollten ein neues Medium schaffen, Theaterschaffende kritisierten die Gefahr aus dem Projektor. Hauptgegenstand dieser Kritik war insbesondere das zwielichtige Ambiente der Kinematographen in Varietés und Jahrmärkten, sowie die primitive, aufreizende und teilweise brutale Bildgestaltung. In seinen Anfängen ab 1895 war der Film nichts weiter als eine Kuriosität, die vor allem auf Jahrmärkten im Verbund mit anderen Spektakeln, wie Zirkusnummern, präsentiert wurde.[7] Die Filme dieser Zeit waren meist nicht länger als eine Minute und zeigten zappelnde Schnappschüsse. Das Publikum, das sich für diese Neuheit begeisterte, kam überwiegend aus proletarisch-kleinbürgerlichen Schichten.[8] Im Vordergrund stand die technische Attraktion. Ein an sich völlig belangloser Vorgang, wie etwa eine Straßenszene, wurde in der kinematographischen Wiedergabe zu einem Wunder. Die Vertreter der etablierten Theaterkunst wetterten gegen Filminhalte und führten die erhöhte Jugendkriminalität auf das neue Medium zurück, das quasi in einem rechtsfreien Raum walten durfte.
Mein Eindruck ist der: Ich spreche dem Kinodrama in allen seinen Erscheinungsformen jeglichen Kunstwert, ja überhaupt jede Berechtigung ab. Ich sehe diese Richtung des Kinematographen in seiner jetzigen Gestalt und seiner Weiterentwicklung als eine unmittelbare Gefahr für unser Volk in sittlicher und ästhetischer Beziehung an. Ich sehe auch keinerlei Möglichkeit, wie der Kinematograph auf diesem Gebiet verbesserungsfähig wäre. Seine Bedeutung, sein Kulturwert, seine erzieherische Entwicklungsmöglichkeit (...) liegt auf anderen Gebieten, weitab vom Drama. Das Arbeitsfeld des Filmphotographen ist die Natur in Ihrer tausendfachen Mannigfaltigkeit, (...) aber nie und nimmer die künstlich gestellte Szenerie im Reiche der Dichtung und der Phantasie.[9]
Bereits die unmittelbar folgenden Jahre haben bestätigt, dass Wilfried Brunner, Leiter der Filmprüfstelle und führender Kopf der Filmgegner, sich getäuscht hatte. Nicht zuletzt mit dem technischen Fortschritt und der enormen Produktion und Distribution zum Zuschauer und der zunehmenden Macht der Filmindustrie Hollywoods war auch der Film als Kunstform geboren und wurde für das Theater zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz im Kampf um die Zuschauergunst. Unbeachtet blieb inmitten des aufgeheizten Antagonismus jedoch, dass der Film in seinen Anfängen – von der Mitte der 1890er bis circa 1907 – bereits auf bestehende Formen und Strukturen aus dem Theater zurückgriff, da er noch keine eigene Erzählstruktur bzw. Sprache entwickelt hatte. Der Film stand zum Theater in einem imitatorischen Verhältnis, da viele Produzenten, Regisseure und Schauspieler vom Theater bzw. Varieté kamen und an die ihnen von dort vertrauten und bewährten Konventionen anknüpften. Vor diesem Hintergrund einer allmählichen Emanzipation des Filmes hat sich in der Filmgeschichte eine imaginäre Trennlinie ergeben. Wenn die erste Etappe der Spielfilmentwicklung von etwa 1895 bis 1905 ganz unter der Herrschaft der Theaternachahmung gestanden hatte, so ist das Kennzeichen der zweiten etwa bis 1915 reichenden Etappe eine progressive Auflockerung und Umformung dieses Zwangs in eine eigene Filmsprache.[10] Unter Berücksichtigung beider Abschnitte sollen im Folgenden vor allem die Einflüsse des Theaters herausgearbeitet werden, um damit eine Sensibilität für die gegenseitigen Einflussfaktoren zwischen Film und Theater zu etablieren.
1.1. Wegbereiter der Filmkunst. Lumière und Méliès
Allgemein konzentrierten sich die Filmemacher bis 1907 auf einzelne Einstellungen und bewahrten so die räumliche Perspektive eines konventionellen Theaterraumes. Sie schufen weder zeitliche Bezüge, noch erzeugten sie durch technische Eingriffe eine Kausalität in der Geschichte. Sie positionierten die Kamera in eine bestimmte Entfernung, so dass die gesamte Größe des menschlichen Körpers abgebildet werden konnte. Analog zu der Perspektive eines Theaterrezipienten war die Kamera unbeweglich und wies eine Distanz zum Darsteller auf.[11] Diese Art der halbtotalen Einstellung wird oft Tableau- oder Proszeniumseinstellung genannt und bildet daher einen direkten Bezugspunkt auf das Operntableau, dem Kennzeichen der französischen Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Operntableau ist ein Bild, das von Anfang bis Ende der Szene unverändert bestehen bleibt und in dessen Rahmen eine bewegte, dramatisch zugespitzte Handlung abläuft. Eine entsprechende Zielsetzung hatten die Filmemacher seit Anbeginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als das Kino vor der Schwierigkeit stand, dem Zuschauer nur in einem einzigen Blickpunkt der stehenden Kamera alles Notwendige zeigen zu müssen. Zunächst hatte das Kino eine Reihe bildlicher Schemata und visueller Techniken aus der Geschichte der Malerei übernommen. Schließlich haben sich lange vor dem Kino Kunstmaler damit beschäftigt, wie man eine gegebene Bildfläche optimal gestaltet. In diesem Sinne orientieren sich Filmemacher bis heute an dem Gesetz des goldenen Schnitts oder den etablierten Kontrast- und Farbverteilungen in der Bildkomposition. Da allerdings Kino nicht ausschließlich auf einer statisch visuellen Gestaltung beruht, sondern daneben auch das Kontinuum der Zeit und Bewegung umfasst, kam es hinsichtlich der kompositorischen Gestaltung auch zu einer Annäherung von Film und Theater. Die Schwierigkeit in den frühen Jahren war, den notwendigen Informationsfluss so herzustellen, dass er zum Ausdruck der künstlerischen Absicht innerhalb des einzigen gewählten Bildausschnitts taugte.
Pioniere dieser textuellen Konventionen von Filmen mit nur einer Kameraeinstellung waren die wichtigsten französischen Produzenten dieser Epoche, Lumière und Méliès. Vielleicht der berühmteste Film im Programm war Lumières L’Arrive d’un train en gare de la Ciotat aus dem Jahr 1895, „dessen Lokomotive das Publikum, wie überliefert wird, in panischen Schrecken versetzte“.[12] Eine unbewegliche Kamera zeigt einen Zug, der in einen Bahnhof einfährt und die Reisenden beim Aussteigen verfolgt, bis beinahe alle die Einstellung verlassen haben.[13] „Noch heute pflegt man die Ankunft eines Zuges nicht anders zu filmen“.[14] Der Film beginnt demgemäß mit einem relativ leeren Bildraum, um zu zeigen, wie er sich durch die Handlung oder das Ereignis, das den Zuschauer interessiert, füllt[15]. Eine einfache Art dieser Beschreibung ist die kontinuierliche Bewegung aus dem Hintergrund in den Vordergrund, wie in Lumières Film. Er lässt den Zug „einfahren“, um anschließend im vorderen Bildteil das Geschehen am Bahnsteig zu dokumentieren und die Vielfalt an kleinen Ereignissen, lebhaften Bewegungen und unterschiedlichen Richtungen zu demonstrieren. In diesem Sinne begreift Lumière das Kino als ein Kontinuum von Raum und Zeit, das von hinten nach vorn, von der Ferne zur Nähe strukturiert wird.[16] Dieses visuelle Schema beruht auf der bereits beschriebenen Ästhetik, die die Sicht eines Theaterzuschauers zum Vorbild nimmt. Lumière organisiert das Bildereignis mit einer einzigen Kamera, einer einzigen Position, ohne Kamerabewegung und ohne Montage. Durch die einheitliche Verwendung nur eines Objektives ist die Perspektive auf die Totale beschränkt analog zu dem natürlichen Blickfeld der Rezipienten im Theater, der in der Regel ebenso ohne Opernglas auskommen muss. Filmkritiker verurteilten dieses visuelle Schema als abgefilmtes Theater. Doch obwohl die Rezeptionsperspektive im Film der Sicht des Theaterzuschauers nachempfunden wurde, muss zugleich eingeräumt werden, dass bei aller Analogie, die Sichtperspektive des Kamera-Objektives weitaus enger verläuft und die Mise en Scène im Film seit Beginn verstärkt über die tiefenperspektivische Inszenierung erfolgte.
Anders als Lumière drehte Georges Méliès stets in einem Studio, in dem er die Möglichkeiten nutzte, fantastische Vorkommnisse zu montieren. Auf diese Weise begegnete er den bereits genannten Vorwürfen, seine Filme seien nur abgefilmtes Theater, indem er Zauberelemente durch Schnitt und Klebetechniken erzeugte.[17] So entdeckte er zum einen, dass es möglich war, die Kamera mitten in der Aufnahme anzuhalten, um etwas in der Einstellung zu modifizieren, bzw. Umgruppierungen vorzunehmen.[18] Zum anderen führte er das so genannte verbundene Tableau ein, mit dem er in Form einer Folge miteinander verketteter Einstellungen, eine Geschichte zu erzählen pflegte.[19] Beispielhaft hierfür ist Méliès’ Film Le Voyage dans la Lune aus dem Jahr 1902. Hier wurde zum ersten Mal mittels Montagetechnik eine Geschichte in kontinuierlicher Form erzählt, indem jede Einstellung, die der Zuschauer zu sehen bekam, räumlich mit der anderen verknüpft wurde, da es sich um benachbarte Räume handelte. Trotz dieser filmischen Montage und zauberhaften Manipulation blieben Méliès’ Filme in vieler Hinsicht außerordentlich theatralisch, weil sie eine Geschichte so präsentierten, als würde sie auf einer Bühne stattfinden. Die Kamera gibt nicht nur die Proszeniumsperspektive wieder, sondern eine schmale Spielfläche zwischen gemalten Kulissen und der Rampe der „Bühne“, wo Schauspieler ihre Auf- und Abtritte entweder zur Seite oder durch Falltüren haben. 1907 rühmte Méliès sein Studio für die Nachahmung von Bühnen, die wie in einem Theater mit Falltüren und genau bestimmten Positionen für das Einfügen von Bühnendekorationen konstruiert waren.
In seinem Atelier, das er nach dem Vorbild eines Fotoateliers (mit verschiebbaren Vorhängen zur Regelung der Lichtverhältnisse) hatte einrichten lassen, nahm die Nachbildung einer original-großen Theaterbühne den größten und wichtigsten Platz ein. Der Vorhang dieser Bühne öffnet sich zu den meisten seiner Zauberfilme, am Ende schließt er sich, der Zuschauer hat das Gefühl, einer Theatervorstellung beizuwohnen, die Aufnahmekamera bleibt starr auf die Guckkastenöffnung, die der Vorhang freigegeben hat, gerichtet. Es ist also fotografiertes Theater, das Méliès vorführt und für das er alle Bühnengebrauchsanweisungen übernimmt, aber es ist [auch] Zaubertheater (kein literarisches), und der Regisseur – im Falle Georges Méliès darf man zum ersten Mal mit Recht von einem Filmregisseur sprechen – vergisst das Zaubern keinen Augenblick und hält sein Publikum in Spannung.[20]
In diesem Sinne ist Méliès möglicherweise das prägnanteste Beispiel für einen Filmkünstler, der sich die Erfahrungen aus dem Theater explizit zu Nutzen machte. Alle Tricks, die er auf der Bühne erprobt hatte, wendete er auf den Film an und in den meisten Fällen gelang ihm auch eine analoge Transformation der Theaterillusion auf die Leinwand.
1.2. Konstitution einer emanzipierten Filmsprache. D.W. Griffith
In der Zeit zwischen 1907/08 vollzog sich eine Wende in der Entwicklung des Films. Auslöser war die Krise, in welche die Filmindustrie zu dieser Zeit geriet. Das lag vor allem an den ersten Sättigungs- und Ermüdungserscheinungen des Publikums gegenüber den Filmen, die sich allein durch ihre technische Attraktivität auszeichneten. Folglich ging das Unterhaltungspotential mehr und mehr zurück.[21] Je mehr die frühen Filme ihren neuwertigen Sensationswert verloren, desto deutlicher wurde der Mangel an narrativer Prägnanz. Die Entfaltung einer Filmsprache, die es ermöglichte, den Kinobesuchern spannende, komische oder rührende Erzählungen in Bildern zu präsentieren, erforderte weit reichende gestalterisch-ästhetische Innovationsprozesse. Diese vollzogen sich in den Jahren des Übergangs zwischen 1907/08 bis 1917. Georges Méliès war einer der Pioniere dieser Entwicklung, da er die Montagetechnik zu nutzen begann und damit eine Entwicklung einleitete, die zum Antreiber der frühen Stummfilmkunst werden sollte. Damit war es für Filmemacher nun möglich, mehrere verschiedene Blickwinkel aufzuzeigen, um somit eine räumliche Allgegenwart zu erreichen. Durch die verrückbare Kamera bot sich ein breiter Spielraum für eine differenzierte Erzähltechnik mit einem perfekten Informationsfluss durch Montage. Während in den frühen Jahren des Stummfilms die filmischen Mittel losgelöst als technische Attraktionen präsentiert wurden, erfolgte in den Jahren des Übergangs nun eine Unterordnung aller Filmelemente der Narration, so dass Lichtgebung, Bildkomposition und Schnitt zunehmend an Bedeutung gewannen, um dem Publikum die Geschichte verständlich zu machen. Integraler Bestandteil dessen waren glaubhafte Charaktere, die durch Darstellungsstil, Schnitt und Dialogtitel geschaffen wurden. Ihre Motivationen und Aktionen erschienen nun realistisch und trugen dazu bei, die unterschiedlichen Einstellungen und Szenen zu verbinden. Sie hatten nichts mehr zu tun mit den eindimensionalen Typen, die ihren Ursprung im Melodrama hatten und vor allem in den frühen Jahren des Films herangezogen wurden. Diese Entwicklung begünstigte zugleich der verringerte Abstand zwischen Kamera und Darsteller. So wandelte sich auch die Proszeniumseinstellung, die wie erwähnt den gesamten Körper des Schauspiels zeigte, zu einer Dreivierteleinstellung, die zu der vorherrschenden Einstellungsgröße des Kinos in der Stummfilmzeit wurde. Sie erlaubte es dem Zuschauer, die Gesichter der Darsteller deutlicher zu erkennen als vorher, wodurch nun auch eine zunehmende Betonung von individualisierten Charakteren und Gesichtsausdrücken möglich war. Dies ist der prägnanteste Unterschied zum Theater, da es in der hierarchisch geprägten Sitzordnung des Theaters nur wenigen vorbehalten war, die Gesichter der Darsteller auch deutlich zu erkennen. Nicht umsonst war das Opernglas ein Privileg der oberen Schicht.
Ein großer Gestalter dieser Entwicklung war ebenfalls D. W. Griffith. Er setzte die Tradition des verbundenen Tableaus von Méliès fort, indem er einzelne Einstellungen in Filmen nicht länger als autonome Bedeutungseinheiten behandelte, sondern Einstellungen logisch miteinander verknüpfte. Filmhistoriker stimmen vor allem darin überein, dass sein Film Birth of a Nation einen Meilenstein auf dem Weg des Films zur Kunst darstellt, nicht zuletzt erzielte er mit diesem Film einen finanziellen Rekord.[22] Griffith hat explizit Großaufnahmen künstlerisch verwendet und als erster mit Gegenlichtaufnahmen gearbeitet. Ausschlaggebend war jedoch die Tatsache, dass er einen Film schuf, der zum ersten Mal alle Technik und Kunst zusammenfasste. Er etablierte nicht nur die alternierende Montage, sondern auch die analytische Schnitttechnik, bei der die Szene in nähere Einstellungen zergliedert wird. Beispielhaft ist hierfür der Film The Girl and her Trust, der im Jahr 1912 entstand und bereits die Detailaufnahmen im künstlerisch narrativen Sinne verwendet.[23] Zu Totalen und Großaufnahmen kamen Halbtotale und Detailaufnahme hinzu, die er immer freier und in raschen bewegungsintensiven Sequenzen montierte.[24] Griffith entwickelte aber auch den gezielten Umgang mit dem Blickwinkel, das heißt die Möglichkeit, Handlung und Wissen der Figuren miteinander zu koordinieren. Auf diese Weise wurde Griffith zum Meister der Montagetechnik, da es ihm durch gezielte Informationsvergabe gelang, die Spannung bis zum letzten Moment aufrecht zu erhalten. Griffith ist im Ergebnis der große Wegbereiter des modernen Kinos der Kontinuität gewesen, das zugleich weitere namhafte und bedeutende Filmkünstler hervorgebracht hat. In dieser skizzenhaften Ausführung der Etablierung einer eigenen Filmsprache soll es jedoch weniger darum gehen, die geschichtlichen Details zu beschreiben, als vielmehr darum, den Weg des Films zu einer eigenen Sprache und Stilistik aufzuzeigen. Letztlich haben die Ausführungen gezeigt, dass sich eine Filmkunst herausgebildet hat, die eindeutige Unterscheidungsmerkmale und Abgrenzungen gegenüber dem Theater etablieren konnte. Aus dem imitatorischen Verhältnis zum Theater, vor allem in perspektivischer und bildästhetischer Hinsicht, hat sich durch technische Innovationen und die Montagetechnik ein visuelles Schema etabliert, das weitaus mehr Möglichkeiten bietet, als nur eine Inszenierung über die Tiefenschärfe. „Die Begrenzung […] des starren Auges [wurde] aufgehoben“.[25] Der Informationsfluss zum Zuschauer wurde von Moment zu Moment lenkbarer. Mit der zeitgleich steigenden Qualität der Drehbücher wandelte sich auch die gesellschaftliche Akzeptanz des neuen Mediums.
Wie hat sich doch die Menschensorte der Kinobesucher geändert. In den ersten Jahren war es der ‚kleine Mann’, der Arbeiter, der hineinging, (...) um sich an den Bildern, die damals stark flimmerten, zu ergötzen. Heute ist es ganz anders geworden. Die ‚Göhren“ sind verschwunden, die ‚Großen’ nur fühlen das Bedürfnis, die letzten Filmereignisse zu betrachten. Und welcher Menschenklasse begegnet man heute? In dem schmucken Foyer ... kann mal allabendlich unsere ersten Schauspieler, vielgelesene Schriftsteller, bekannte Maler und Bildhauer treffen. Man sieht wiederum, dass unsere Geisteselite lebhaften Anteil nimmt an der Lichtbilderkunst, die für sie vieles birgt, was ihr Schaffen fördern könnte.[26]
Doch trotz dieser etablierenden Momente und Errungenschaften, blieben die Einflüsse des Theaters auch in den Jahren des Übergangs deutlich erkennbar. Die Bühne war noch immer das große Vorbild für die Kinematographie. Dies galt nicht nur für das Spiel vor der Kamera bzw. für die Einstellungen, sondern auch für den Ausbau der Filmtheater selbst. Vielfach stellte man die Leinwand auf eine Bühne, die mit Seitenkulissen und Sofitten ausgestattet war, um die technischen Apparaturen zu verbergen und die Illusion zu wahren. Aber auch der Zuschauerraum in den ersten Jahren entsprach der U-förmigen Sitzordnung mit Logen und Rängen, wie sie Theaterzuschauer gewohnt waren. Dies rührte nicht selten daher, dass ehemalige Theater aus finanziellen Gründen zu Filmtheatern erklärt wurden.[27] Die traditionelle Bauweise nach dem Vorbild der Guckkastenbühne, mit einer Rampe als Trennlinie, etablierte im Film des Weiteren ein Gesetz, das für Filmemacher noch bis heute gilt. Die Rede ist vom Achsensprung. Ein Achsensprung ist ein Schnitt, mit dem die Handlungs- oder Blickachse (eine gedachte Linie zwischen zwei oder mehreren Akteuren) übersprungen wird. Ein Achsensprung kann beim Zuschauer Desorientierung verursachen, da die Anordnung der Akteure nach Überschreiten der Achse seitenverkehrt ist. Daraus ergibt sich eine waagerechte gedachte Linie, die in der Totalen bzw. Halbtotalen die beiden Darsteller in einer Dialogszene miteinander verbindet. Sie entspricht der Rampe im Theater. Wer die Achse überschreitet, befindet sich auf der Hinterbühne. Ein perspektivisches Unding, sowohl im Theater, als auch im Film.
Zeitgleich avancierte die Theaterdramatik zur wichtigsten Inspirationsquelle der Filmemacher, vor allem als die Filme nach 1907 länger wurden und damit ein angemessenes Medium für die Wiedergabe der Bühnendramen bildeten. Den Ursprung dieser Entwicklung stellt die Gesellschaft zur Produktion so genannter Kunstfilme der Brüder Lafitte in Frankreich dar. Unter dem Label Compagnie des Films d’art bestand ihr Programm aus ambitionierten Literaturverfilmungen, die von der Kritik und dem bürgerlichen Publikum als Veredelung der trivialen Filmkunst tituliert und gefeiert wurden.[28] Auf diese Weise begann man auch im deutsprachigen Raum, die unerschöpflichen Vorräte der Bühne auszuwerten, das Theater und die Weltliteratur zu verfilmen, um vorrangig dem Vorurteil der Lasterhaftigkeit zu begegnen und damit neue Zuschauerschichten zu gewinnen[29]. Dieser traditionelle Rückgriff geschah jedoch auch aus rein pragmatischen Gründen. Filmemacher mussten zu dieser Zeit Inhalte ohne Sprache und Schrift vermitteln[30]. Aus diesem Grund lag es nahe, auf Konventionen anderer Medien, speziell der Fotographie und des Theaters zurückzugreifen, bzw. Geschichten zu erzählen, die dem Publikum nicht unbekannt waren. So präsentierten Produzenten nicht selten zusammenfassende Versionen von relativ komplexen Geschichten, bei denen sie sich eher auf das Vorwissen des Publikums verließen[31].
Vor allem durch die Entwicklung vom Jahrmarkt zur anspruchsvollen Kunst hatte sich der Film gegen alle Vorurteile und Vorwürfe durchgesetzt und damit innerhalb kürzester Zeit eine rasante Entwicklung vollzogen. Die Entstehungsgeschichte des Films ergab sich nicht zufällig, vielmehr ist der Film in diesem Kontext nichts anderes als die geschichtliche Konsequenz und Reaktion auf bereits bestehende Künste. Neben den Parallelen zwischen Theater und Film in semiotischer Hinsicht, sollen im folgenden Abschnitt allerdings nun verstärkt Abgrenzungsmerkmale zwischen beiden Medien im Vordergrund stehen.
2. Film ist nicht Theater?
„Die Arbeit für das Theater ist kontinuierlich, aber vergänglich. Die Arbeit für den Film ist diskontinuierlich, aber dauerhaft“.[32] Das Verhältnis zwischen Theater und Film hat seit der Entstehung des Kinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder kontroverse Diskussionen hervorgebracht, die letztlich durch den technischen Fortschritt des Kinos verworfen und revidiert wurden. Wie bereits das vorangestellte Kapitel erläuterte, war die Betrachtung des Films als selbständige Kunst von Beginn an nicht selbstverständlich und wurde immer in Relation zur Theaterkunst gesehen. Doch bei all der polarisierenden Denkweise zwischen beiden Medien, die in der Gegenwart keineswegs abgenommen hat, werden in der Regel die engen Zusammenhänge zwischen Theater und Film untergraben. Film und Theater können beide zunächst als Handlungskünste betrachtet werden, die zu dem textlichen Substrat auf fiktionaler Ebene das entsprechende Bild produzieren. Beide Medien sind eine Synthese von anderen Künsten, in der Musik, Literatur, Darstellung und Bildende Kunst zu einem Schaffungsprozess vereinigt sind. Es ist eine Zusammenarbeit von Dramatiker, Musiker, Bühnenbildner, Schauspieler und letztlich auch Zuschauern.
Doch bei all diesen Gemeinsamkeiten wird zugleich deutlich, wie schmal dieser Grat verläuft und wie offensichtlich die Unterscheidungsmerkmale zu Tage treten. Das vorliegende Kapitel widmet sich vorrangig diesen differenten Wesensmerkmalen, ohne die Abhandlung als Wettstreit der Künste zu begreifen oder eine Wertung vorzunehmen. Betrachtet werden allein prototypische Abgrenzungen, die eine Basis für die nachfolgende Analyse im tatsächlichen Grenzbereich zwischen Theater und Film bilden sollen. Besonders wichtig erscheinen mir vor allem die Kategorien Raum im Theater und Film, Drama und Drehbuch, Filmsprache und Filmsemiotik, Gegenwart, Körper und Schauspielkunst, die Rezeption, sowie der Ton.
2.1. Raum im Theater und Film
Bühnenkunst ist Raumkunst. Das darf aber nicht so verstanden werden, als ob die Darstellung des Raumes Selbstzweck im Theater sein könnte. [...] In der Theaterkunst handelt es sich nicht um die Darstellung des Raumes, sondern um die Vorführung menschlicher Bewegung im theatralischen Raum. Dieser Raum ist aber niemals oder doch kaum je identisch mit dem realen Raum, der auf der Bühne existiert. [...] Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.[33]
Diese Charakterisierung des theatralen Raumes, zumindest in seinen dominanten Ausprägungen, erfasst stichwortartig mehrere zentrale Begriffe, die für die Unterscheidung zwischen Film und Theater nötig sind. Der Begriff Theaterraum ist in der Theaterwissenschaft nicht zu unrecht terminologisch ausdifferenziert. Dies liegt insbesondere an den verschiedensten räumlichen Interaktionsformen zur Organisation der Zuschauer-Darsteller Beziehung angefangen von der Guckkastenbühne, bis hin zur Arena oder des enviromental theatre mit seinen unfixierten Räumen, die vor allem das site specific theatre hervorgebracht hat.[34] Gemeinsam haben diese räumlichen Interaktionsmuster, dass Zuschauer und Akteure in einem Theaterraum anwesend sind und sich meist in mehr oder weniger deutlich voneinander zu unterscheidenden Raumsegmenten befinden.[35] In diesem Sinne impliziert das Wort Theater zugleich auch Unmittelbarkeit, das heißt die unmittelbare Gegenwart von Schauspieler und Zuschauer an einem Ort. Grundsätzlich kann also bereits von Theater gesprochen werden, wenn ein Schauspieler, eine sich von seiner Identität unterscheidende Figur spielt, während ein Zuschauer ihm dabei wissentlich beobachtet. „Das Fehlen dieser Gegenwart ist das wesentlichste Kennzeichen des Kinos.“[36]
Im dunklen Kinosaal befindet sich nur der Zuschauer, das Spiel findet auf der Fläche der Leinwand statt. […] Was der Zuschauer projiziert sieht, ist ein Geschehen, das in der Vergangenheit stattgefunden hat, das jedoch zum Zeitpunkt der Aufnahme die Dialektik von Spielen und Zuschauen zum Teil noch enthielt.[37]
Der Rahmen der Leinwand ist ein Fenster in einem völlig gesonderten Raum und die Trennung zwischen dem Publikum und den Darstellern ist total geworden. Hier sind sie förmlich hermetisch voneinander abgeriegelt. Die projizierte Fläche ist nur zweidimensional[38], während das Theater durch die Unmittelbarkeit und Präsenz der Darsteller die Dreidimensionalität bewahrt und zugleich zum Publikum offen ist.[39] Diesen vermeidlichen ‚Makel’ weiß das Kino jedoch durch die Illusion der Technik zu kompensieren. Das Kino konstituiert sich im eigentlichen Sinne als Schritt über eine bestimmte Schwelle – die Bühnenrampe. Die Kamera stürzt in die Präsenz einer bereits existierenden Fiktion. Diese elementare Bewegung ermöglichen unter anderem die Großaufnahme, die filmische Zeit, die Parallelmontage, kurz die Totalität der narrativen Linie, die aus einer Vielzahl partieller Einstellungen entsteht.[40] Im Augenblick, in dem die Kamera sich vom Proszeniumsbogen löst, verwandelt sich die Bühnenperspektive in eine filmische. Mit dieser Überschreitung sind einerseits fundamentale Veränderungen im Nähe- Distanzverhältnis des betrachtenden Auges verbunden, da das Kameraauge die Übernähe des betrachteten Körpers erlaubt, statt nur in einer einheitlichen Gesamtkörperperspektive zu verharren. Hinzu kommt, dass die Perspektive nun frei beweglich ist, sie formt die Allgegenwart im fiktiven Raum, die Kamera avanciert zu einem dynamischen unstetigen Auge, das keinem einheitlichen Standpunkt mehr zugewiesen werden kann.[41] Auf diese Weise entsteht die Fiktion einer Dreidimensionalität[42], die durch die Übernähe eine höhere Präsenz erreichen kann, als im plastischen, unmittelbaren Theater.
Der Zuschauer befindet sich mit der Kamera mitten im Raum der Szene; obwohl er sich selbst nicht bewegt, bleibt er nicht in statisch gleich bleibender Distanz wie beim Blick zur Bühne, sondern vollzieht fiktiv die schwenkenden und fahrenden Kamerabewegungen mit, die zu den agierenden Figuren Stellung nehmen und mit deren Bewegungen korrelieren.[43]
Durch die Wirkung der Perspektive entsteht damit eine Dimension der Tiefe. Erwin Panofsky bezeichnet dies als die Dynamisierung des Raumes.
Im Theater ist der Raum statisch, das heißt: Sowohl der dargestellte Raum auf der Bühne als auch die räumliche Beziehung zwischen Betrachter und Schauspiel ist unveränderlich. [...] Beim Film ist die Situation umgekehrt. Auch hier hat der Zuschauer einen festen Platz inne, aber nur äußerlich, nicht als Subjekt ästhetischer Erfahrung. Ästhetisch ist er in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse identifiziert, die ihre Blickweite und Richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an.[44]
Wenn Panofsky vom Zerfließen, dem Zurückweichen und dem Neugestalten von Räumen spricht, thematisiert er neben der Dynamisierung des Raumes zugleich auch eine weitere Ebene der filmästhetischen Dimension – die künstlerische Bildgestaltung. Vor allem an dieser Stelle eröffnen sich dem Film Möglichkeiten, die dem Theater verborgen bleiben. Der Filmregisseur kann mittels gestalterischer Elemente, wie Schärfeverlagerungen, ausgewählte Kontraste oder optische Kompositionen, aber auch Spezial- und Trickaufnahmen, die narrative Komposition der Räume variieren. Die Mise en Scène avanciert damit zu einer wichtigen erzählerischen Komponente, die Räumen einen neuen Blick verleihen kann, ohne die Einstellung zu verändern. Eine Folge dessen ist die strikte Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers, die im Theater so nicht möglich ist. Bestimmt wird diese vor allem „durch Bewegung, Beleuchtung, attraktive Formen, kompositionelle Spannungen, Figureneinstellungen, Körper-, Kopf- und Blick-Richtungen“.[45] Das bekannteste Stilmittel ist die Großaufnahme, die vor allem durch die intime Nähe, die emotionale Wirkung steigern soll.
Durch die Großaufnahme erscheinen die Figuren greifbar nah; der Zuschauer fühlt und wähnt sich mit der Kamera im Raum des Geschehens. Dies erleichtert Einfühlung, Miterleben und Identifikation mit bestimmten Rollen.[46]
Die Großaufnahme hebt die Mimik hervor und lenkt deiktisch die Aufmerksamkeit auf dramaturgisch wichtige Details[47]. Sie wirkt intim und dehnt zeitgleich den Raum, so dass das Motiv mit einem Mal eigentümlich gleitend, schwebend und überirdisch wirkt. Die Realität wird in diesem Moment zu einer exponierten Wirklichkeit, die es erfordert, das Motivierte mit einer bewussten Aufmerksamkeit zu verfolgen. Auch Eisenstein betont die Funktion der Großaufnahme, bei der es nicht so sehr darum gehe, „zu zeigen oder darzustellen, als viel mehr zu bedeuten, Sinn zu geben, zu bezeichnen.“[48] Was also im Theater durch die sich verlagernde Aufmerksamkeit des Zuschauers, die frei ausgewählte Zusammenstellung einer Sequenz visueller Eindrücke bleibt, wird in den filmischen Formen ein sorgfältig erwogener und vorausberechneter künstlerischer Prozess, ein Erzählprinzip. In diesem Prozess werden die Auswahl der Blickwinkel, ihre bildgestalterische Komposition, ihre rhythmische Verschmelzung und ihre Montage zu einem zusätzlichen wirkungsvollen Erzeuger von Aussage. In diesem Sinne haben Regisseur und Cutter auf die Darstellung und deren Wirkung einen beträchtlichen Einfluss. Schwache Momente können eliminiert werden und die Montage kann durch bloßes Aneinanderknüpfen von Einstellungen wirkungsvolle Effekte erzielen. Diese Atmosphäre der Bilder hängt jedoch nicht allein von der Montage, sondern auch sehr stark von ihrer Realitätsabbildung ab. Im Film erstreckt sich die realistische Tendenz nicht nur auf die Darstellung und Bewegungsabläufe der Schauspieler, sondern auch auf die Bilder, die eine Wirklichkeit suggerieren sollen. Auf diese Weise sollen sich die Zuschauer leichter mit ihnen identifizieren und vergessen, dass sie keine faktische, sondern eine semantische Beziehung zur Realität haben, dass der naturalistische Eindruck illusionär, das natürliche Agieren fiktiv und die künstliche Welt in Wirklichkeit unbetretbar ist. Das Theater stößt an dieser Stelle an seine Grenzen. Aus diesem Grund kann auch das Bühnenbild nie mit dem filmischen Szenenbild gleichgesetzt werden. Für das Bühnenbild, und sei es noch so naturalistisch, gilt seit jeher die Verabredung und Codierung einer abstrahierten, konzentrierten oder gesteigerten Wirklichkeit.
Der viereckige Ausblick des Guckkastens ist kein Wirklichkeitsausschnitt, sondern eine astrale Ebene. Das hier erscheinende Sichtbare, sei es Mensch, sei es Requisit, sei es Dekoration, hat durch sein bloßes Vorhandensein in diesem hellen exponierenden Raum eine überbetonte Wirklichkeit, es beansprucht hier eine Interessenfülle, die es außerhalb des Rahmens nicht annähernd so stark entfesseln könnte. [...] Wo also das Bühnenbild mit der Wirklichkeit konkurriert, verzichtet es zugunsten einer oberflächlichen Glaubhaftigkeit auf innere Wahrheit. [...] Seine Aufgabe ist es, Geistiges zu versinnlichen, nicht Wirklichkeit nachzuahmen, nicht Geistiges zu verdinglichen. Seine Mittel sind Raum und Zeit, Wort, Gebärde, Ton, Licht und Farbe.[49]
Der dramatische Raum ist demnach nie ein realistischer Raum, selbst wenn er realistische Elemente enthält. Folglich verzichten zeitgenössische Bühnenbildner zunehmend auf realistische Elemente und greifen auf ein stilisiertes Bühnenbild mit andeutend symbolhafter Ausstattung zurück. „Der Verzicht auf redundante Zierdetails bzw. die Beschränkung auf sachlich-zweckmäßige Illusionsstützen soll die Konzentration des Zuschauers auf das Wesentliche lenken“.[50] Symbolische Gegenstände deuten also nur Zeit, Ort und Situation an und geben der Vorstellungskraft des Zuschauers den Freiraum, auch die eigene Erlebniswelt, Subjektivität und Identität mit einzubeziehen.
Im Unterschied zum Theater ist die Möglichkeit der illusionistischen Täuschung im Film durch die Abwesenheit der Zuschauer ungleich größer, da sie nie zwei-felsfrei beurteilen können, wie die Bilder entstanden sind bzw. ob die dokumentarische Kombination der Bilder der realen Sukzession entspricht. Vor allem was die Realitätssuggestion der filmischen Bilder betrifft, ergibt sich eine Umkehr im Vergleich zu dem stilisierten, überhöhten Bühnenbild. Der Kinozuschauer verlangt bei der Auswahl und Gestaltung des Raumes eine täuschend echte Annäherung an die Realität. Häufig wird es sogar als Makel empfunden, wenn Kulissen oder künstliches Blut als solche sichtbar werden. Die Theatralik des Dramas wird im Film rezeptionsästhetisch durch einen Realismus ersetzt, obwohl beide Medien auf der Absprache der Fiktion beruhen oder mit anderen Worten:
Der Film strebt trotz seiner Fähigkeiten, alle möglichen Arten sichtbarer Dinge unterschiedslos zu reproduzieren, aufs entschiedendste der ungestellten Realität zu. [Auf diese Weise] sind gestellte Szenerien [...] in dem Maße legitim, in dem sie die Illusion der Wirklichkeit hervorrufen.[51]
An dieser Stelle soll der Einwand berücksichtigt werden, dass das Postulat des bedingungslosen Realismus nicht immer gilt. Schließlich betonten vor allem expressionistische Szenenbildner das exponiert Malerische ihrer Kulisse, indem sie verwinkelte Gassen, bizarre Schrägen konstruierten, in denen sich die Schauspieler inmitten von bewegungslosen, das heißt gemalten Schatten und kryptischen Requisiten bewegten. Vor allem im Film Das Cabinet des Dr. Caligari wurde diese Kulisse, die zunächst aus Kostengründen so eingerichtet worden war, zum Stilprinzip, da so der Wahnsinn des Protagonisten auch optisch zum Tragen kam. Robert Wiene arbeitete vor allem mit stürzenden Linien, mit Schrägen und Diagonalen und stilisierten Requisiten, wie beispielsweise verdorrten Baumästen, die statt des Realismus eine Beengtheit ausdrückten und sich damit kongruent zu dem Psychogramm des Protagonisten verhielten. Doch trotz dieses Beispiels soll an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen werden, dass die Merkmalsausprägungen zwischen Film und Theater ausschließlich idealtypisch vorgenommen werden, ohne die Grauzonen zu thematisieren.
2.2. Drehbuch und Drama
Als Lessing in seiner Abhandlung Laokoon den Unterschied zwischen Dichtung und bildender Kunst zu definieren versuchte, demonstrierte er den Gegensatz der Künste anhand ihrer raumzeitlichen Wirkungsweise. So zeigte er, dass ein und dasselbe Ereignis in einem Epos und in einer berühmten Skulptur unterschiedlich behandelt wird, da die bildende Kunst nur im Raum ohne Ausdehnung in der Zeit stattfindet, während das Epos sich allein in der Zeit bewegt ohne jegliche räumliche Ausdehnung.[52] Das inszenierte Drama, das vor den Augen des Publikums erfundene oder vergangene Ereignisse darstellt, ist insofern einzigartig, da es die Charakteristika epischer Dichtung und bildender Kunst vereint. Es ist eine bebilderte Erzählung, die sich in einem raum-zeitlichen Kontinuum bewegt. Insofern nimmt der Zuschauer nicht nur die linear voranschreitende Wortfolge des Textes auf, sondern ist auch mit einem vieldimensionalen, räumlichen Bild konfrontiert, das in jedem Augenblick eine große Zahl von Informationen bietet, die simultan wahrgenommen werden müssen und sich darüber hinaus mit der linearen Achse der Wortfolge überschneiden. Diese Komplexität konstituierte lange Zeit nur das Theater, lange bevor die benachbarten Künste, wie der Film, sie adaptierte. Vor diesem Hintergrund kann die filmische Inszenierung nur in Relation und als Konsequenz der theatergeschichtlichen Entwicklung gesehen werden. Wenn man demnach das Theater als spezifische Ausdrucksform für das Drama ansieht, muss man erkennen, dass sein Einfluss unermesslich ist und dass von allen Künsten der Film sich diesem am wenigsten entziehen kann. In der Folge war es nicht verwunderlich, dass in der Frühzeit des aufkommenden Tonfilms die Filmemacher auf etablierte Bühnenwerke zurückgriffen.[53] Der Sinn dieser Adaptionen lag auf der Hand. Der Film hatte noch keinen ausgeprägten Stil entwickelt, der den spezifischen Bedingungen des Mediums entsprach. Das Publikum war darüber hinaus noch nicht fähig, die Film- und Bildsprache zu verstehen. So gesehen war es für die semantische Vermittlung einfacher, auf bekannte Bühnenhandlungen zurückzugreifen. Erst mit der voranschreitenden Entwicklung der technischen und ästhetischen Stilistik des Films und der zunehmenden Fachkundigkeit des Publikums begann eine emanzipierte Entfaltung der filmischen Dramaturgie, die heute eindeutige Unterscheidungsmerkmale zum Drama aufweist. „Man war sich bald darüber klar, dass die Imitation einer Theateraufführung, mit fester Bühne, festen Auftritten und Abgängen und betont literarischen Ambitionen das einzige war, was der Film vermeiden musste.“[54] Eine erste Folge waren neue Spielräume auf der zeitlichen Achse, die Panofsky als Verräumlichung der Zeit bezeichnet.
[Die Zeit] kann zum Stehen gebracht werden: in der Großaufnahme; zurückgeschraubt werden: in Retrospektiven; wiederholt werden: in Erinnerungsbildern; und übersprungen werden: in Zukunftsvisionen. Parallellaufende, simultane Vorgänge können nacheinander, und zeitlich auseinanderliegende – durch Zusammenkopieren oder durch alternierende Montage – gleichzeitig gezeigt werden; das Frühere kann später, das Spätere kann vorzeitig erscheinen.[55]
Es ist offensichtlich, dass diese Fähigkeiten des Films, chronologische Zeitblöcke zu zerteilen und neu zu ordnen, ebenfalls im Theater möglich sind. In diesem Sinne existieren auch im Drama unterschiedliche Präsentationsformen der Zeit, in dem Spielzeit und gespielte Zeit auseinander fallen[56], die zeitliche Achse simultan oder sukzessiv verläuft[57] bzw. die Zeitkonzeption linear oder zyklisch ist.[58] Doch ist unbestritten, dass im Film zwischen Handlungszeiten schneller und leichter gewechselt werden kann, ohne dass der Zuschauer verwirrt wird. Begünstigt wird der Sprung der Handlungszeiten auch durch den unkomplizierten Wechsel der Handlungsorte im Film. Während das Drama meist in Auf- und Abgängen strukturiert wird, ergibt sich der Aufbau des Drehbuches in der Regel aus dem Wechsel des Ortes. Dies liegt vor allem an der begrenzten Anzahl der Bühnenbilder, die während einer Aufführung realisiert werden können und die der Zuschauer immer wieder als Ganzes sieht. Schließlich wirkt das gesprochene Wort im Theater nicht schwächer, nur weil der Schauspieler nicht in einer illusionistischen Kulisse steht. So gesehen geht bereits das Textsubstrat im Bühnendrama häufig von einem unbestimmten Raum aus. Es stützt sich dabei auf den theatralen Code der als-ob Realität, das heißt der bewussten Vereinbarung aller Beteiligten, dass es sich um eine entpragmatisierte und fiktive Situation handelt. Im Film ist dies undenkbar. Seine Substanz bleibt die Reihung von Bilderfolgen, die eine Suggestion der Wirklichkeit vermitteln, um die Trennung von Bühnenfiktion und Realität illusionistisch zu negieren. Daraus resultiert im Filmskript eine minutiöse und präzise Beschreibung aller Details. In diesem Sinne hängt die Bedeutung des Drehbuchs nicht allein von der literarischen Qualität ab, sondern von der detaillierten Beschreibung der nachfolgenden Umsetzung des Films. Das Skript ist nichts als Rohstoff, als Schema und Wegweiser für das zukünftige Filmwerk. Der Drehbuchautor schreibt demnach nicht in der Hoffnung, dass sein Werk in hunderten von Aufführungen auf die Bühne gebracht werde, sondern nur für einen Produzenten, einen Regisseur, eine Besetzung.[59] Aus diesem Grund ist das Narrative auch ungewöhnlich konkret. „Nur was visuell umsetzbar, was für die Schauspieler spielbar ist, wird in das Drehbuch aufgenommen“.[60] Eine Folge dessen ist, dass Filmskripts sich schlecht lesen lassen und daher selten in Buchform veröffentlicht werden. Der Leser eines Drehbuches kennt allenfalls die Handlung des Films, wird jedoch kaum eine Vorstellung davon gewinnen können, wie der Film später aussehen wird. Anhaltspunkte wie Totalaufnahme, Großaufnahme oder Teilaufnahme geben dem Leser zwar Anhaltspunkte, aber die Ausführung in den Feinheiten (Darstellung, Beleuchtung, Musik), die entscheidend sind für die Wirkung des Films, sind dem Drehbuch nicht zu entnehmen.
Aus dem Gesetz des zeitbelasteten Raumes und der raumgebundenen Zeit folgt die Tatsache, dass ein Drehbuch im Gegensatz zu einem Theaterstück keine ästhetische Existenz hat außerhalb seiner Realisierung und dass seine Personen keine Existenz haben, außer der Darsteller.[61]
Im Kontrapunkt dazu besitzt das Drama auch unabhängig von seiner Aufführung einen künstlerischen Wert, was sich darin zeigt, dass das Drama auch gelesen wird.[62] In dieser Hinsicht geht es vom Wort aus und kann auch als literarische Gattung verstanden werden. Während sich das Drehbuch also durch die Einmaligkeit der szenischen Umsetzung prinzipiell durch Klarheit ausdrücken muss, besitzt das Drama vergleichsweise eine Vielfalt literarischer Variationsmöglichkeiten, die keine eindeutige Bedeutungszuweisung zulassen und daher zu einer Vielzahl unterschiedlicher Inszenierungen führen. Gemeint ist an dieser Stelle jedoch keine vermeintliche semantische Eindimensionalität des Drehbuches, da auch jede Filmhandlung ebenfalls vielschichtige Interpretationen zulässt. Vielmehr gibt das Drehbuch aus pragmatischen Gründen, nicht gänzlich, aber bereits zu großen Teilen, das Visuelle des Filmes vor und erzeugt so eine Deckungsgleichheit zwischen Textsubstrat und szenischer Umsetzung.
[...]
[1] Murro, Noam: Midsommar. TV-Webung. Levis 2005
[2] Ebd. Vgl. Anhang, Abb. 1/2/3/4, S. 1
[3] Noack, Frank: Wie im Theater – warum nicht? In: Filmforum. Zeitschrift für Film und andere Künste. Heft 25. Nr. 5. September/Oktober 2000. S. 33
[4] Vgl., Pilz, Dirk: Die Verhältnisse sind an der Wurzel krank. In: Theater der Zeit. Heft Nr. 5. Mai 2004. S. 18
[5] Umbach, Klaus: ‚Mit dem Geheimnis spielen’. In: Spiegel. Heft 11. 2005. S. 168
[6] Gregor, Ulrich/ Patalas, Enno: Geschichte des Films. Siegbert Mohn. Gütersloh. 1962. S. 13
[7] Vgl., Johann, Ernst: Kleine Geschichte des Films. Ullsteinhaus. Berlin. 1959. S. 21
[8] Vgl., Jacobsen/Prinzler. Geschichte des Deutschen Films. Stuttgart. Metzler- Verlag 1993. S.41
[9] Brunner, Wilfried. In: Panofsky, W.: Die Geburt des Films. Konrad Triltsch. Würzburg. 1944. S. 69
[10] Vgl., Gregor, Ulrich/ Patalas, Enno: Geschichte des Films. Siegbert Mohn Verlag. Gütersloh. 1962. S. 13-46
[11] Vgl., Mayer, Hans : Theaterraum- Filmraum. Figurenspiel und Kameraperspektive -dargestellt am Emil-Jannings-Film „Der zerbrochene Krug“ nach dem Lustspiel Heinrich von Kleists. Diss. München. 1987. S. 113
[12] Gregor, Ulrich/ Patalas, Enno: Geschichte des Films. Siegbert Mohn. Gütersloh. 1962. S. 15
[13] Vgl., ebd. S. 15
[14] Ebd. S. 15
[15] Vgl., Bordwell, David: Visual Style in cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main. 2001. S. 16
[16] Vgl., Bordwell, David: Visual Style in cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main. 2001S. 17
[17] Gregor, Ulrich/ Patalas, Enno: Geschichte des Films. Siegbert Mohn. Gütersloh. 1962. S. 16
[18] Vgl., Bordwell, David: Visual Style in cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main. 2001. S. 21
[19] Vgl., ebd., S. 23
[20] Johann, Ernst: Kleine Geschichte des Films. Ullstein Bücher. Berlin 1959. S. 25/26
[21] Vgl., ebd. S. 35-37
[22] Vgl., Johann, Ernst: Kleine Geschichte des Films. Ullstein Bücher. Berlin 1959.S. 75
[23] Vgl., Bordwell, David: Visual Style in cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Verlag der Autoren. Frankfurt am Main. 2001. S. 26- 27
[24] Vgl., ebd. S. 26
[25] Ebd., S. 31
[26] Panofsky, Walter: Die Geburt des Films. Konrad Triltsch. Würzburg. 1944. S. 72
[27] Vgl., Johann, Ernst: Kleine Geschichte des Films. Ullstein Bücher. Berlin 1959. S. 38-39
[28] Vgl., Gregor, Ulrich/ Patalas, Enno: Geschichte des Films. Siegbert Mohn. Gütersloh. 1962. S. 20
[29] Vgl., Johann, Ernst: Kleine Geschichte des Films. Ullstein Bücher. Berlin 1959. S. 37
[30] Die ersten Zwischentitel tauchten im Jahr 1907 auf.
[31] Gronemeyer, Andrea: Schnellkurs Film. Köln. DuMont. 2004, S. 35
[32] Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. In: Ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt.a.M. 1993.S.45
[33] Hermann, Max: Das theatralische Raumerlebnis. In: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25. S. 152-163
[34] Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. E. Schmidt. Berlin. 1999. S. 136/137
[35] Vgl., Klein, Thomas: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz. Bender. 2004. S. 18
[36] Lukács, Georg: Gedanken zu einer Ästhetik des Kino. In: Witte Karsten (Hrsg.): Theorie des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik. Frankfurt a.M. 1972. S. 143
[37] Klein, Thomas: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz. Bender. 2004. S. 18-19
[38] Vgl., Mayer, Hans: Theaterraum- Filmraum. Figurenspiel und Kameraperspektive -dargestellt am Emil-Jannings-Film „Der zerbrochene Krug“ nach dem Lustspiel Heinrich von Kleists. Diss. München. 1987. S. 110
[39] Vgl., Klein, Thomas: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz. Bender. 2004. S. 20
[40] Vgl., ebd. S. 20-21
[41] Vgl., ebd. S. 20
[42] Vgl., ebd. S. 20
[43] Ebd. S. 20
[44] Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. In: Ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt.a.M. 1993. S.22
[45] Mayer, Hans: Theaterraum- Filmraum. Figurenspiel und Kameraperspektive -dargestellt am Emil-Jannings-Film „Der zerbrochene Krug“ nach dem Lustspiel Heinrich von Kleists. Diss. München. 1987. S. 127
[46] Ebd., S. 112
[47] Vgl., ebd. S. 126
[48] Kracauer, Siegfried. Theorie des Films. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1964. S. 78
[49] Engel, Erich: Über Theater und Film. Henschel. Berlin. 1971. S. 15
[50] Mayer, Hans: Theaterraum- Filmraum. Figurenspiel und Kameraperspektive -dargestellt am Emi-Jannings-Film „Der zerbrochene Krug“ nach dem Lustspiel Heinrich von Kleists. Diss. München. 1987. S. 77
[51] Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Suhrkamp. Frankfurt a.M. S. 95
[52] Vgl., Lessing, Gotthold Ephraim: Laakoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1766-1769. Deutscher Klassiker Verlag. Band 5/2. Frankfurt am Main. 1990. S. 11 ff.
[53] Vgl., Eckert, Gerhard: Gestaltung eines literarischen Stoffes in Tonfilm und Hörspiel. Berlin. Junker u. Dünnhaupt. 1936. S. 31
[54] Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. In: Ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt.a.M. 1993. S.22
[55] Ebd., S. 133
[56] Vgl., Pfister, Manfred: Das Drama. Wilhelm Fink. München. 10. Auflage. S. 369
[57] Vgl., ebd. S. 361
[58] Vgl., ebd. S. 376
[59] Klein, Thomas: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz. Bender. 2004. S. 21-22
[60] Ebd., S. 22
[61] Panofsky, Erwin : Stil und Medium im Film. In: Ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt.a.M. 1993.S. 44
[62] Vgl., Klein, Thomas: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz. Bender. 2004. S. 21-22
- Citation du texte
- Bogdan Büchner (Auteur), 2005, Das Theater in der Filmrolle. Wie sich der Film theatrale Mittel zu Nutze macht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76205
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