Als ich vor einigen Jahren eine Sommeruniversität in Berlin besuchte, fragte mich ein polnischer Student, warum es uns Deutschen in den mehr als fünfzig Jahren seit Ende des Dritten Reiches nicht möglich gewesen sei, uns zu einer „normalen und selbstbewußten“ Nation zu entwickeln und die gewiß grausamen, aber doch nicht einmaligen Verbrechen des Dritten Reiches abzuhaken.
Schuld ohne Sühne.
Die Deutschen und ihre Vergangenheit.
Ein Essay von Jan Schenkenberger
Man will lieber von Gespenstern umgeben sein, als in einer todten Natur zwischen lauter Leichnamen wandeln.
Moses Mendelssohn
Als ich vor einigen Jahren eine Sommeruniversität in Berlin besuchte, fragte mich ein polnischer Student, warum es uns Deutschen in den mehr als fünfzig Jahren seit Ende des Dritten Reiches nicht möglich gewesen sei, uns zu einer „normalen und selbstbewußten“ Nation zu entwickeln und die gewiß grausamen, aber doch nicht einmaligen Verbrechen des Dritten Reiches abzuhaken.
Doch ganz so einfach verhält es sich nicht; und das Dritte Reich verfolgt uns aus vielerlei Gründen bis auf den heutigen Tag. Daß dem so ist, liegt zum einen an der Monstrosität des Verbrechens des Dritten Reiches, eine Monstrosität, die sich bis heute fortsetzt und sich durch eine ausgesprochene Individualität der Schuld und der Betroffenheit auszeichnet. Sie liegt aber auch in den konstanten und konsequenten Prozessen der Verdrängung, die den deutschen Umgang mit dem Thema seit 1945 bis noch weit in die Zukunft hinein kennzeichnen. Dieser immer wieder vollzogene Versuch der Abwehr und des Abwendens haben nicht zu einem Verschwinden der Vergangenheit geführt, vielmehr haben sie sie im deutschen Wesen zu einem allgegenwärtigen Mene tekel werden lassen mit dem wir kaum mehr fertig werden. Nicht umsonst heißt es in der Bibel: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen“.
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- Jan Schenkenberger (Author), 2003, Schuld ohne Sühne - Die Deutschen und ihre Vergangenheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76129