Die empirische Wahlforschung beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, warum Parteien und Parteiensysteme entstehen. Mit einem Fokus auf die Auswirkungen von Entscheidungsprozessen auf die Makroebene sind diesbezüglich zunächst zwei Ansätze zu nennen. Der stratifikationstheoretische Ansatz konzentriert sich auf sozio-strukturelle Faktoren und der institutionelle Ansatz auf parteipolitische. Aus der Einseitigkeit dieser beiden Konzepte resultierte der Cleavage-Ansatz von Lipset und Rokkan. Dieser wurde im Rahmen einer „historisch-genetische[n] Rekonstruktion der Entstehung von Parteiensystemen in westeuropäischen Demokratien“ entwickelt. Cleavages werden hier interpretiert als soziale Konflikt- oder Spannungslinien, die zwischen Individuen, sozialen Gruppen oder gesellschaftlichen Organisationen verlaufen.
Die nachstehende Arbeit setzt sich mit der ursprünglichen Cleavage-Theorie, aber auch mit Weiterentwicklungen wie dem Entstehen neuer Konflikte auseinander. Es soll geklärt werden, was die historischen Ursprünge stabiler gesellschaftlicher Spannungslinien sind und welche Bedingungen für die Bildung von Parteien anhand gesellschaftlicher Spannungslinien existieren. Des Weiteren soll die mögliche Entwicklung der Parteisysteme seit ihrer Konsolidierung betrachtet werden. Abschließend erfolgt eine Einordnung Deutschlands in das Cleavage-Konzept.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Grundannahmen bei Lipset & Rokkan
Das Cleavage -Konzept
Wichtige historische Entwicklungen in Europa und deren Bedeutung für gesellschaftliche Konflikte
Freezing, Dealignment und Realignment
Cleavages im deutschen Parteiensystem
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die empirische Wahlforschung beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, warum Parteien und Parteiensysteme entstehen. Mit einem Fokus auf die Auswirkungen von Entscheidungsprozessen auf die Makroebene sind diesbezüglich zunächst zwei Ansätze zu nennen. Der stratifikationstheoretische Ansatz konzentriert sich auf sozio-strukturelle Faktoren und der institutionelle Ansatz auf parteipolitische. Aus der Einseitigkeit dieser beiden Konzepte resultierte der Cleavage -Ansatz von Lipset und Rokkan. Dieser wurde im Rahmen einer „historisch-genetische[n] Rekonstruktion der Entstehung von Parteiensystemen in westeuropäischen Demokratien“[1] entwickelt. Cleavages werden hier interpretiert als soziale Konflikt- oder Spannungslinien, die zwischen Individuen, sozialen Gruppen oder gesellschaftlichen Organisationen verlaufen.
Die nachstehende Arbeit setzt sich mit der ursprünglichen Cleavage -Theorie, aber auch mit Weiterentwicklungen wie dem Entstehen neuer Konflikte auseinander. Es soll geklärt werden, was die historischen Ursprünge stabiler gesellschaftlicher Spannungslinien sind und welche Bedingungen für die Bildung von Parteien anhand gesellschaftlicher Spannungslinien existieren. Des Weiteren soll die mögliche Entwicklung der Parteisysteme seit ihrer Konsolidierung betrachtet werden. Abschließend erfolgt eine Einordnung Deutschlands in das Cleavage -Konzept.
Grundannahmen bei Lipset & Rokkan
Parteien werden als „alliances in conflicts over policies and value commitments within the larger body politic”[3] angesehen. Sie verfügen über zwei grundlegende Funktionen. Die expressive Funktion sorgt dafür, dass latente Forderungen der Parteianhänger formuliert und umgesetzt werden.[4] Ein Extremfall wäre hier die Single-issue Partei. Parteien liefern Wählern jedoch meist gebündelte Angebote und sind selten auf einzelne Sachfragen spezialisiert. Diese Angebote sind meist nicht zufällig, sondern systematisch miteinander verbunden. Des Weiteren sorgt eine instrumentell-repräsentative Funktion für die Integration von divergierenden Interessen.[5] Die Volkspartei bietet sich hier als Extremfall an.[2]
Für Wähler gilt grundsätzlich, dass ihre soziale Lage die politischen Präferenzen bestimmt. Historische Entwicklungen liefern die Ursache für unterschiedliche soziale Lebenslagen.
Das Cleavage -Konzept
Eine erste Annäherung an die Strukturen von Cleavages bieten Lipset und Rokkan durch das Aufbringen eines möglichen Modells, das stark an das AGIL-Schema von Talcott Parsons angelehnt ist. Als Ausgangspunkt kann hier die Annahme gesehen werden, dass alle sozialen Systeme und Gesellschaften Probleme bezüglich der „economic adaption (A), goal-attainment (G), integration (I) and pattern maintenance of latency (L)“[6] lösen müssen und daher jeweils spezielle Institutionen oder Subsysteme gebildet werden: für die Adaption die Ökonomie, für die Erreichung von Zielen die Polity, die Integration wird durch Kirchen, Freiwilligenvereinigungen, Organisationen etc. erreicht und für die Strukturerhaltung werden Schulen, Haushalte, Gemeindenetzwerke u.ä. genutzt.
Entscheidende Konflikte können nach Lipset und Rokkans Weiterentwicklung innerhalb eines zweidimensionalen Raumes angeordnet werden, der aus einer territorialen und einer funktionalen Achse besteht. An den Polen der territorialen Dimension befinden sich einerseits Konflikte, die durch rein regionale Oppositionen gegenüber der nationalen Elite geführt werden, und andererseits Konflikte, die das System als Gesamtgefüge zum Inhalt haben. Die funktionale Dimension stellt interessenbezogene, ökonomische Konflikte ideologischen Freund-Feind-Konflikten gegenüber.[7]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Lipset, S.M. / Rokkan, S.: a.a.O., S. 95.
Beachtlich ist hier vor allem die Kombination der strukturellen und der institutionellen Herangehensweise.[8] Nicht nur die soziologische Sicht der sozialen Stratifikation, sondern auch Effekte der Politik auf die soziale Struktur und gesellschaftliche Institutionen sollten miteinbezogen werden.
Für Cleavages stellen sich in der Literatur vor allem drei konstitutive Merkmale heraus. Erstens, muss eine stabile Konfliktlinie vorliegen, die „objektiv identifizierbare Gruppen in der Gesellschaft entstehen lässt“[9]. Zweitens sollte ein kultureller Aspekt, zumeist in Form eines Wertekonfliktes, bestehen, der von den homogenen Gruppen auch als sinnhaft gedeutet wird und bewusst ist.[10] Und drittens müssen die Interessen der Gruppen durch politische Organisationen vertreten werden. Parteien können hier als Allianzen zwischen Großgruppen und politischen Eliten angesehen werden.[11] Eine weitere Einordnung erfolgt unter Umständen durch eine substantielle Komponente, die nach politischen und sozialen Cleavages unterscheidet.[12] Soziale Cleavages beziehen sich auf soziale Einstellungen und Verhalten und reflektieren traditionelle Unterscheidungen von sozialen Schichten. Politische Cleavages werden im Sinne von politischen Haltungen und Aktionen definiert. Im Rahmen eines politischen Cleavages ist es unerheblich, ob die Anhänger einer Partei einer sozialen Gruppe angehören. Es ist nur wichtig, dass unterschiedliche Bevölkerungs-Sparten mit verschiedener Parteipräferenz existieren und ihnen eine politische Form gegeben wird.
Wichtige historische Entwicklungen in Europa und deren Bedeutung für gesellschaftliche Konflikte
Eine entscheidende Rolle für die Entstehung der westeuropäischen Parteiensysteme bildet die gesellschaftliche Modernisierung. Hier sind hauptsächlich die Reformation, die Französische Revolution und die industrielle Revolution kritische Augenblicke.
Im Rahmen der Nationalen Revolution haben sich nach Lipset und Rokkan[13] zwei Konfliktlinien entwickelt, die sich entlang der territorialen Konfliktlinie befinden: Zentrum vs. Peripherie und Kirche vs. Staat. Sie zwangen immer größer werdende Teile der Bevölkerung eine Entscheidung bezüglich ihrer values und cultural identities zu treffen.[14]
Mit der Reformation und der Gegenreformation im 16. und 17. Jahrhundert bildete sich der erste Konflikt: das Zentrum-Peripherie- Cleavage. Lokale Interessen trafen verstärkt auf säkulare, zentralstaatliche Belange. Die Nationalstaatbildung brachte ethnische, sprachliche und religiöse Unterschiede zwischen den Regionen in die politische Arena. Ein Beispiel hierfür findet sich im teilweise heute noch bestehenden Konflikt zwischen London/England und Schottland und Wales. Verstärkt stellte sich in diesem Rahmen die Frage nach einer nationalen oder einer supranationalen Religion. Sollte die nationale Sprache gesprochen werden oder sollte doch am hergebrachten Latein festgehalten werden? Der Zentrum-Peripherie-Konflikt spaltete die zentralen Machthaber von den ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten ab, die sich der Staatenbildung widersetzen.[15]
Das Zentrum-Peripherie- Cleavage ist in kaum einem Land nachzuweisen. Er wird vielmehr häufig durch andere Konflikte überlagert oder sogar absorbiert. Nur in Belgien und Großbritannien können konkret Parteien und ethnische Gruppen auf dem Cleavage positioniert werden.[16]
Den zweiten Konflikt innerhalb der Nationalen Revolution bildet der Gegensatz zwischen Kirche und Staat. Er ist vor allem 1789 und in den folgenden Jahren anzusetzen. Hauptthema waren die historisch etablierten Privilegien der Kirche, die von einem zentralisierenden, standardisierenden und mobilisierenden Nationalstaat angezweifelt und aufgehoben werden sollten. Werte und Moralvorstellungen spielten eine große Rolle und die wesentliche Streitfrage war die Kontrolle der Bildung,[17] die im Rahmen der Französischen Revolution weg von der Kirche hin zu einer zentral kontrollierten, säkularen Institution geführt werden sollte. Dies empfanden sowohl die Kirche als auch breite Teile der vorwiegend katholischen Bevölkerung als Versuch der individuellen Beeinflussung durch den Staat über die Köpfe der Eltern und geistliche Autoritäten hinweg. Infolgedessen bildeten sich starke kirchliche Netzwerke, die ihre Mitglieder von äußeren Einflüssen fern hielten und eigene (Parallel-)Organisationen aufbauten. Der Staat-Kirche-Konflikt konnte in konfessionell gemischten Ländern durchaus von einem Konfessionskonflikt überlagert werden.[18]
Die Industrielle Revolution sorgte für das Entstehen zweier weiterer Cleavages.[19] Diese lassen sich auf der funktionalen Konfliktlinie anordnen und verlaufen über die einzelnen value communities hinweg. Sie übten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung starken Druck auf die freie Bürgerschaft aus, sich hinsichtlich ihrer ökonomischen Interessen zu entscheiden.[20]
Zum Ersten, wäre da der Konflikt zwischen agrarisch-ländlichen und industriell-städtischen Interessen. Kritischer Augenblick war die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Der Hauptstreitgegenstand waren unterschiedliche Interessen der städtischen Unternehmer und der ländlichen Gutsbesitzer.[21] Ein weiteres Thema war das Tarifniveau von Agrarprodukten. Die tarifliche Kontrolle stand der Freiheit der industriellen Unternehmung gegenüber.
Zum Zweiten, entstand der Arbeitgeber-Arbeitnehmer- oder auch Klassen-Konflikt. Er ist auf die Zeit der Russischen Revolution 1917 und darauf folgende Jahre anzusetzen.
Themen waren zur Zeit der Entstehung die Integration in eine nationale polity gegenüber einer Einbindung in internationale revolutionäre Bewegungen, sowie die Einkommensverteilung, die Offenheit des Bildungssystems usw.
Die Klassen waren die am meisten hervorstechende Quelle von politischen Konflikten, Parteiunterstützung und Wählen.[22]
[...]
[1] Schoen 2005, S. 145.
[2] Zitiert wird hier aufgrund mangelnder Quellen nach Lipset, Seymour Martin / Rokkan, Stein: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments, in: Mair, Peter (Hrsg.), The West European Party System, Oxford: Oxford University Press 1990, S. 91-138. Dies wurde der Publikation Lipset, Seymour Martin / Rokkan, Stein: Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, The Free Press 1967, S. 1-64 entnommen.
[3] Lipset/Rokkan. S. 93.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd.
[6] Allardt 2001, S. 17.
[7] Vgl. Lipset/Rokkan. S. 95ff.; Roth 1998, S. 26f.
[8] Vgl. Allardt 2001, S. 19; Schoen 2005, S. 136.
[9] Schoen 2005, S. 148.
[10] Vgl. Schild 2000, S. 86; Römmele 1999, S. 4.
[11] Vgl. Eith / Merz 2002, S. 161.
[12] Vgl. Römmele 1999, S. 4ff.
[13] Vgl. Lipset/Rokkan, S. 101.; Lipset 2001, S. 6; Bürklin/Klein 1998, S. 20f.
[14] Vgl. Lipset/Rokkan. S. 105.
[15] Vgl. Schoen 2005, S. 146.
[16] Vgl. Elff 2002, S. 284f.
[17] Vgl. Lipset/Rokkan. S. 102.
[18] Vgl. Eith / Merz 2002, S. 161.
[19] Vgl. Lipset/Rokkan, S. 101; Lipset 2001, S. 6.
[20] Vgl. Lipset/Rokkan. S. 105.
[21] Vgl. Schoen 2005, S. 146.
[22] Vgl. Lipset 2001, S. 6.
- Quote paper
- Sabrina Daudert (Author), 2006, Das makrosoziologische Cleavage-Konzept nach Lipset und Rokkan, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75712
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