Diese Arbeit behandelt die Stellung der islamistischen Bewegungen Al-Adl wa-l-Ihsâne (Gerechtigkeit und Spiritualität) und des PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Die dieser Arbeit zu Grunde liegende These ist folgende: In jedem Land dient die politische Klasse der Organisation der Beziehung zwischen Staat und Religion. Europas politische Klasse hat sich durch die Aufklärung verändert, jedoch bleiben religiöse Werte in den konservativen Parteien wichtig, wie etwa in Österreich in der christlich-sozialen ÖVP. In arabischen Ländern übernehmen gemäßigte Islamisten die Rolle der christlich-sozialen Parteien Europas, sofern man diesen Vergleich zulässt. Die Islamisten tragen dazu bei, die Beziehung Staat-Religion neu zu definieren, unter Wahrung der Rechte der Frauen, die einen starken Anteil etwa des PJDs ausmachen. Im Machtkampf zwischen König und seinem Makhzen auf der einen Seite sowie demokratischen Institutionen wie dem Parlament sowie der marokkanischen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite scheint ein Mittelweg gefunden zu werden. Langsam beginnt der Beherrscher der Gläubigen seine religiöse Autorität mit den demokratischen Institutionen zu teilen, nachdem seine Reform des Moudawwanas ein politischer Alleingang gegen die radikalere Seite der Islamisten war. Die Vorgeschichte bildete die von der sozialistischen Regierung Youssoufis geplante Reform des Familienrechts, gegen welche die Islamisten fast eine Million Personen in Casablanca mobilisierten, während die Befürworter nur 200 000 in Rabat versammelten.
Gemäß Mohamed Darif ist der politische Islam in Marokko, dem Al-Adl und der PJD angehören, strikt zu trennen von der Salafiyya Jihâdiyya. Letztere sei eine terroristische und gewalttätige Strömung, die große Unterschiede zum politischen Islam aufweise. Diese seien ideologisch und strukturell. So akzeptieren Organisationen des politischen Islams das Konzept der Demokratie und der Partizipation. Auch Al-Adl tut dies, obwohl die Bewegung das politische System in der aktuellen Form ablehnt. Weiters verzichten diese Organisationen auf Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele, die Salafiyya Jihâdiyya nicht. Diese sieht Gewalt als nötiges und probates Mittel zum Zweck, und dieser ist die Zerschlagung des Regimes. Einige Forscher sehen die Salafiyya Jihâdiyya nur als extremistischere Ausprägung des politischen Islam, ich teile diese Ansicht nicht, sondern schließe mich der Argumentation Mohamed Darifs an.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.1. Problemfeld und Struktur der Arbeit
1.2. Forschungsziel und Forschungsfragen
1.3. Methode
1.4. Zur Umschrift des Arabischen sowie Zitieren im Allgemeinen
1.5. Definition des Begriffes Islamismus
2. Erster Teil: Historischer Einstig; Gesellschaft und Politik in Marokko
2.1. Kurze historische Einführung
2.1.1. Von den Idrissiden zu den Alawiden
2.1.2. Die Zeit des beginnenden Protektorats
2.1.3. Das Erbe des arabisch-muslimischen Nationalismus
2.1.4. Das unabhängige Marokko: Das Vermächtnis Hassans II
2.1.5. Die ersten Jahre der Herrschaft Mohammeds VI
2.2. Die Gesellschaft des heutigen Marokkos
2.2.1. Bildung und Analphabetismus
2.2.2. Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit
2.2.3. Zivilgesellschaft in Marokko
2.3. Das politische System Marokkos unter Mohammed VI
2.3.1. Die schwierige Klassifizierung des politischen Systems Marokkos
2.3.2. Die „offizielle“ Seite des marokkanischen Machtgefüges: Konstitution und Gewaltenteilung
2.3.3. Die „inoffizielle“ Seite des marokkanischen Machtgefüges: Der Makhzen
2.3.4. Die Bay`a, der Treueid
2.3.5. Die marokkanische Parteienlandschaft
2.3.6. Wahlen
3. Zweiter Teil: Politik und Islam - theoretische Konzepte, historische Entwicklung in Marokko und Überblick
3.1. Ideologen des politischen Islams – der Salafismus und radikale Ideen
3.1.1. Hassan al-Banna
3.1.2. Abdelkader Awda
3.1.3. Abu ala Mawdûdi
3.1.4. Sayyed Qutb
3.2. Kritik von Theorie und Praxis der radikalen islamistischen Ideologie – Bedeutung der Scharia
3.3. Konzepte moderaterer islamistischer Denker
3.4. Der Islam und politische Akteure in der historischen Entwicklung Marokkos
3.2.1. Der Islam, politische Akteure und Strömungen auf dem Weg vom Protektorat in die Unabhängigkeit
3.2.2. Die Evolution der legitimierenden Funktion der Ulama
3.5. Die Entstehung des politischen Islams in Marokko
3.6. Zusammenfassung: Das weite Feld der islamischen Bewegungen im heutigen Marokko im Überblick
4. Dritter Teil: Al-Adl und der PJD - Geschichte, Ideologie und Struktur
4.1. Al-Adl wa-l-Ihsane (Gerechtigkeit und Spiritualität)
4.1.1. Einleitung
4.1.2. Historische Entwicklung
4.1.3. Positionierung im politischen System
4.1.4. Ideologie und politisches Programm Al-Adls
4.1.5. Struktur der Bewegung
4.2. Parti de la Justice et du Développement (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung)
4.2.1. Einleitung
4.2.2. Entstehung und Historische Entwicklung
4.2.3. Positionierung im politischen System
4.2.4. Ideologie und Programm der Partei und der Bewegung dahinter
4.2.5. Struktur und Organisation der Partei
4.3. Komparative Aspekte Al-Adl – PJD
4.3.1. Stellung im politischen System
4.3.2. Politischer Einfluss bzw. politisches Gewicht
4.3.3. Ideologisches Konzept
4.3.4. Organisation
4.3.5. Politische Strategie
4.3.6. Politische Ziele
4.3.7. Stellung zu Scharia
4.3.8. Gewaltverzicht
4.3.9. Position in Bezug auf Gleichstellung von Mann und Frau
4.3.10. Positionierung in Bezug auf Menschrechte und Religionsfreiheit
4.3.11. Wie sehen einander die Bewegungen?
4.4. Querverbindungen zwischen Al-Adl und dem PJD
5. Vierter Teil : Al-Adl und PJD in der politischen Praxis
5.1. Politische Strategien der islamistischen Bewegungen
5.1.1. Politische Strategien islamistischer Bewegungen im Allgemeinen
5.1.2. Die politische Strategie Al-Adls
5.1.3. Die politische Strategie des Tandems PJD / MUR
5.2. Strategien des „Palasts“
5.3. Möglichkeiten der politischen Einflussnahme der beiden Bewegungen
5.4. Die Islamisten in der politischen Praxis im Spiegel der Medien sowie Stellungnahmen in Interviews
5.4.1. 16.Mai 2003: Die Anschläge von Casablanca
5.4.2. Die Reform des Moudawwana
5.4.3. Zeittafel moralisierender Stellungnahmen aus den Reihen des PJD
5.4.4. Alkoholmissbrauch
5.4.5. Bekleidungsvorschriften: Kopftuch und freizügige Badekleidung
5.5. Gründe für das Erstarken der Islamisten
6. Konklusion
Abkürzungsverzeichnis
Glossar
Interviews: Interviewpartner und Struktur
Literatur
Dokumente und Primärquellen
Internetquellen, wenn nicht in der Literatur angegeben
Lebenslauf
Einleitung
1.1. Problemfeld und Struktur der Arbeit
In den Ländern des Nahen Ostens ist eine Bewegung der Erneuerung des Islam oder der Re-Islamisierung der Gesellschaft schon seit der Gründung der ägyptischen Moslembruderschaft im Jahr 1928 und deren Verbreitung festzustellen. Am Anfang im Schatten des Nationalismus und Pan-Arabismus stehend, gewann sie nach deren Scheitern immer mehr an Bedeutung. In vielen Ländern stand diese islamische Bewegung mehr oder weniger eng in Verbindung mit dem aufkommenden Nationalismus und den Unabhängigkeitsbewegungen, so etwa auch in Marokko. Im Rahmen der politischen sowie sozialen Misere der arabischen Staaten, deren Regime weder innenpolitisch die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung erfüllen können, noch außenpolitisch Erfolge erzielen, steht die Entwicklung dieser islamischen bzw. islamistischen Bestrebungen.
Einerseits äußert sie sich in einer gewalttätigen Form, jener des Terrorismus, bei der von selbsternannten religiösen Führern die mannigfaltige Misere der arabischen Welt für deren machtpolitische Ziele ausgenützt wird. Andererseits existiert die gemäßigte Seite. Diese fordert, dass der Islam stärker in den politischen Prozess einbezogen werden soll, jedoch auf friedliche Art und Weise im Rahmen der existierenden Staaten. Diese Seite soll im Vordergrund der Arbeit stehen, die den Bogen spannen wird von den historischen und gesellschaftlichen Vorbedingungen, über das politische System Marokkos, bis zu islamischen Bewegungen, die auf Gewalt verzichten und deren Platz im politischen System.
In der historischen Einführung werde ich insbesondere auf die Entwicklung der noch heute im politischen System Marokkos bedeutenden Institutionen eingehen. Darauf folgt eine Beschreibung der gesellschaftlichen Situation im heutigen Marokko. Bei der Analyse des politischen Systems werde ich die „offizielle“ der „inoffiziellen“ Seite des marokkanischen Machtgefüges gegenüberstellen, also konstitutionelle Vorgaben dem mächtigen Verwaltungsapparat des Makhzen. Diese Opposition zwischen Rechtsstaat und einem neopatrimonialen-klientilistischen System aufzuzeigen ist unumgänglich für ein Verständnis des politischen Systems Marokkos. Weiters werde ich das Parteiensystem Marokkos beschreiben, um später den Platz der islamistischen Partei PJD darin zu analysieren.
Nach diesem einleitenden Teil der Arbeit möchte ich in einem theoretischen Teil auf Akteure im Feld des Islamismus im Überblick eingehen, um dann Ideologie, Struktur und historische Entwicklung der beiden im Vordergrund dieser Arbeit stehenden Bewegungen zu analysieren. Diese Bewegungen wären Al-Adl wa-l-Ihsane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) und der PJD (Parti de la Justice et du Developpement, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) bzw. die dahinter stehende islamistische Bewegung MUR (Mouvement pour l’Unicité et Reforme, Bewegung für Einigkeit und Reform). Gemeinsam ist diesen Bewegungen der absolute Gewaltverzicht.
Im praktischen Teil der Arbeit werde ich komparative Aspekte zwischen den beiden Bewegungen herausarbeiten. Weiters sollen hier Strategien analysiert werden, wie sie politischen Einfluss erlangen wollen, bzw. die Gegenstrategien des Palasts. Basierend auf den durchgeführten Interviews, Sekundärliteratur bzw. Informationen aus zwei frankophonen Wochenzeitungen, Le Journal sowie Telquel, werde ich auf Positionierungen der beiden Bewegungen zu tagesaktuellen Themen eingehen. Hier soll also ihr Verhalten in der politischen Praxis analysiert werden, und in welcher Art sie versuchen Politik zu machen.
Marokko ist in Hinblick auf die islamistischen Bewegungen deshalb interessant, weil die Existenz derselben einerseits lange Zeit vom Staat geleugnet, und zugleich brutal unterdrückt wurden. Islamistische Bewegungen entwickelten sich in Marokko schon seit den 70er Jahren des 20ten Jahrhunderts, in Form der Shabiba Islamiyya. Zu dieser Zeit bemühte sich der damalige König Marokkos, Hassan II, jegliche öffentliche Äußerung derselben zu verhindern. Marokko stellte sich als „Insel der Seligen“ dar, was den Islamismus oder politischen Islam betraf. Die religiöse Autorität kulminierte im König, als Beherrscher der Gläubigen in der traditionellen Ausprägung des malekitischen Islam. Gestützt wurde das System durch die Ulama, die religiösen Gelehrten, die dem König diese religiöse Legitimität zusicherten, ausgebildet in den angesehenen Institutionen der Universitäten Qarawiyyîn in Fes und des Dâr al-Hadîth in Rabat.
Auch wenn der politische Islam mit den Bewegungen Al-Adl wa-l-Ihsân und des als politischer Partei agierenden PJD mehr ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat, so wurde die Existenz radikalerer Strömungen weiterhin möglichst verleugnet. Der Schock erfolgte am 16.Mai 2003 mit den Attentaten von Casablanca. Plötzlich war das Thema mit einer kaum zu übertreffenden Vehemenz ans Tageslicht getreten. Ganz Marokko war erschüttert, und wie aus einem Dornröschenschlaf erwacht. Die Stimmung auch gegen die gemäßigteren Bewegungen war aufgeheizt, Marokkos Ruf als friedliches und tolerantes Land angeschlagen. Diese Arbeit will den Ursprüngen des politischen Islam in Marokko auf die Spur kommen, dem Platz der gemäßigten Islamisten im politischen Prozess, ihren Ideologien und Zielen, um die Sicht auf das marokkanische politische System um einen wichtigen Punkt zu bereichern, nämlich der neu zu definierenden Rolle der Religion in Marokko. Hierbei stehen sich der König als Vertreter der malekitischen Rechtsschule und seiner Ulama oder Rechtsgelehrten auf der einen Seite bzw. die aufstrebenden islamistschen Bewegungen auf der anderen Seite gegenüber. Eine wichtige Rolle spielen noch immer die sufischen Bruderschaften oder Zaouwiyas als Vertreter des traditionellen marokkanischen Islams.
1.2. Forschungsziel und Forschungsfragen
Ziel der Arbeit soll die Ausdifferenzierung des heutzutage so überbeanspruchten Begriffes des Islamisten an Hand der praktischen Analyse der islamistischen Bewegungen im politischen Prozess, sowie deren Ideologie und Struktur sein. Erkenntnisse sollen gewonnen werden über den realen Einfluss gemäßigter islamistischer Strömungen und Bewegungen in den mehr oder minder säkularen arabischen Staaten am Beispiel Marokkos. Weiters sollen aus der Beschreibung der Gesellschaft und des politischen Systems Marokkos Ursachen für die Entwicklung und das Erstarken des Islamismus aufgezeigt werden.
Forschungsfragen:
Wie sieht die „zivile“ Seite der islamischen Erneuerungsbewegung aus?
Welche historische Entwicklung geht ihnen voraus bzw. in welchem Umfeld entwickelten sie sich?
Welche Ideologie haben sie bzw. welche Vision der Gesellschaft versuchen sie umzusetzen?
Welche Ziele haben diese Bewegungen?
Wie sollen diese erreicht werden?
Wie sieht ihre Beteiligung am politischen Prozess in der Praxis aus?
Bewirken sie Veränderungen im politischen System, wenn ja, welche?
Welche Möglichkeiten zur Beeinflussung des politischen Lebens haben sie?
Thesen:
- Die islamistischen Bewegungen erstarken zurzeit in Marokko und werden in der Zukunft eine wichtige Rolle im politischen System spielen.
- Die islamistischen Bewegungen sind nicht als monolithischer Block zu betrachten, sondern in ihrer Komplexität und im Hinblick auf die Individualität ihrer Mitglieder zu analysieren.
- Das Erstarken der islamistischen Bewegungen ist begründet in der sozialen Misere des Landes sowie der als zu stark dem Westen gegenüber orientierten Regierung und Verwaltung.
1.3. Methode
Methodisch basiert die Arbeit auf drei Standbeinen: Erstens die intensive Beschäftigung mit Sekundärliteratur, zweitens einem Forschungsaufenthalt in Marokko im SS 2005, und drittens einer Medienanalyse. Weiters werde ich das Parteiprogramm der PJD analysieren, sowie die Verfassung Marokkos im Originaltext heranziehen. Die Literatur werde ich zur Beschreibung des politischen Systems Marokkos heranziehen, sowie der Betrachtung der historischen Entwicklung, der Ideologie, und der Struktur der Bewegungen.
Der Forschungsaufenthalt vor Ort sollte der praktischen Analyse der Beteiligung der islamischen Bewegungen am politischen Prozess dienen. Methodisch handelt es sich dabei um qualitative Interviews mit Mitgliedern der Bewegungen.
Die Verfolgung der marokkanischen Medien Le Journal und Telquel soll dem Vergleich mit der politischen Praxis dienen. Weiters werde ich diese zwei Zeitschriften sowie Interviews und Sekundärliteratur zur Evaluierung des Einflusses der Bewegungen heranziehen: Welche Maßnahmen, die im Interesse islamischer Bewegungen liegen, werden in Marokko umgesetzt, bzw. inwiefern ist diese Umsetzung durch die Bewegungen selbst motiviert?
1.4. Zur Umschrift des Arabischen sowie Zitieren im Allgemeinen
Ich verwende zur Transkription des Arabischen eine vereinfachte Umschrift. Dies soll dem Lesefluss nicht-arabophoner Leser zu Gute kommen, wiewohl sich arabophone Leser schnell zu Recht finden werden. So verzichte ich etwa auf die Unterscheidung von emphatischen und nicht emphatischen Konsonanten sowie dem gepressten und dem „normalen“ „h“. Für den deutschsprachigen Leser ist zu beachten, dass sich die verwendete Umschrift stark an der französischen bzw. englischen Art, das Arabische zu transkribieren orientiert. Ich habe mich dafür entschieden, da die Verwendung von Eigennamen zu Verwirrung führen würde. Die Franzosen haben als Kolonialmacht nämlich ein vereinfachtes System der Transkription verwendet, welches noch immer auf z.B. Wegweisern und Ortstafeln sowie bei Eigennamen in Gebrauch ist. Untenstehend findet sich eine Tabelle der Umschrift. Bei Abweichungen von der Aussprache im Deutschen folgt eine Beschreibung.
Langvokale kennzeichne ich durch ein ^ über dem Vokal, also „â“, „î“ und „û“. Eigennamen schreibe ich gemäß der französischen Umschrift um, bei auch im Deutschen gebräuchlichen Begriffen wie etwa Koran, Schari´a oder Dschihad verwende ich die im Deutschen übliche Schreibweise.
Da der Großteil der Literatur auf Französisch ist, hierzu ein kleiner Hinweis: Alle Zitate im Text, sei es aus der Literatur oder aus Interviews habe ich auf Deutsch übersetzt, was meiner Meinung nach dem Lesefluss zu Gute kommt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.5. Definition des Begriffes Islamismus
Vor der eigentlichen Arbeit gilt es nun den überstrapazierten Begriff des Islamisten bzw. des Islamismus zu definieren. Eine islamistische Bewegung bezeichnet eine Gruppe von Leuten, die den Islam für politische Zwecke nützen, bzw. die politische Macht aufgrund der Religion ausüben wollen. Im Konkreten kann das den Aufbau eines islamischen Staatswesens unter Rückbesinnung auf die Normen Mohammeds und der ersten vier Kalifen bedeuten, und die Einführung der Schari'a, des islamischen Rechts. Hierbei müssen jedoch die Ziele der einzelnen Bewegungen im Detail analysiert werden, da es unterschiedliche Sichtweisen auch innerhalb der Bewegungen gibt.
Oft wird in der Definition des Islamisten eine grundsätzliche Ablehnung der westlichen Werte wie etwa Pluralismus und Demokratie inkludiert, bzw. die Abschaffung der Trennung von Staat und Religion und die Begründung einer Theokratie. Wie ich am Beispiel der PJD aufzuzeigen gedenke, ist dies jedoch in Marokko nicht bei allen islamistischen Bewegungen der Fall. Meine Definition bleibt somit etwas allgemein, um später auf die Nuancen innerhalb der einzelnen Bewegungen einzugehen.
2. Erster Teil: Historischer Einstig; Gesellschaft und Politik in Marokko
2.1. Kurze historische Einführung
Im Gegensatz zu anderen politischen Systemen im Nahen Osten verfügt das marokkanische über eine lange Tradition. Diese soll hier kurz aufgezeigt werden, da auch frühe historische Entwicklungen das heutige politische System Marokkos weiterhin prägen.
2.1.1. Von den Idrissiden zu den Alawiden
Die ersten arabischen Eroberer trafen im Gebiet des heutigen Marokkos ab 681 ein, und begannen die dort ansässigen Berberstämme zu unterwerfen. Fast fünfzig Jahre sollten sie dafür benötigen. Zuerst noch unter dem Einfluss des Kalifats von Bagdad stehend, etablierte sich ab 788 die Dynastie der Idrissiden. Unter der Ägide von Idriss I, einem Nachkommen Ali ibn Tâlibs, wurde Fes um 789 gegründet. Es entwickelte sich bald zu einem Zentrum der Verbreitung der arabisch-islamischen Kultur.[1]
Ab 1055 kam die berberische Dynastie der Almoraviden an die Macht, um 1070 wurde Marrakesch gegründet. In der Herrschaftszeit der Almoraviden wurde die malekitische Schule des Islam in Marokko eingeführt, die heutzutage immer noch ein prägender Faktor des politischen Systems Marokkos ist.
Ab 1130 regierte eine andere Berberdynastie das Land, die Almohaden. Das scherifische Königreich war unter dieser Dynastie am Höhepunkt seiner Macht angelangt, sie beherrschten den gesamten Maghreb einschließlich des heutigen Algeriens sowie Tunesien, als auch das muslimische Spanien. Der erste almohadische Herrscher wurde zum Kalifen proklamiert, ein Titel, der bis dato dem Kalifen von Bagdad vorbehalten war.
Doch schon bald begann der Niedergang, und eine andere Berberdynastie gelangte in Marokko an die Macht. Die Meriniden herrschten in Marokko fast zwei Jahrhunderte, von 1258 an. Im fünfzehnten Jahrhundert führten die Meriniden den Titel „Amir al-Mu’ minîn“ (Beherrscher der Gläubigen) ein, der heute noch ein integraler Bestandteil des politischen Systems in Marokko ist, indem er die religiöse Legitimität und Autorität des Königs festlegt.
Den Meriniden folgten die Wattassiden, die 1471 an die Macht kamen. Sie schufen den Makhzen,[2] sowie eine arabische Armee (diese stellten zuvor die Berber). Sie hatten jedoch mit wachsendem Druck aus Spanien und Portugal zu kämpfen, zwei Länder, die nach der erfolgreichen Rekonquista in Richtung Marokko drängten.
In der Zeit des wachsenden christlichen Drucks begannen religiöse Bruderschaften sowie die Marabûts, „Heilige“, die sich dem Dschihad verschworen hatten, eine größere Rolle zu spielen. 1555 kam die neue Dynastie der Saadier an die Macht, bedroht im Osten durch die Türken, und schließlich durch inneren Druck der oppositionellen Kräfte gestürzt.
So bestieg bereits 1666 der erste Herrscher der noch heute regierenden Dynastie der Alawiden den Thron. Bis zum 19ten Jahrhundert begann der Druck der europäischen Kolonialmächte zu wachsen, und die alawidischen Herrscher versuchten durch eine Modernisierung der Armee und dem Erwerb von Waffen in Europa auf die Bedrohung zu reagieren, um die territoriale Integrität Marokkos wahren zu können. Dies führte jedoch zu Verschuldung bei ebendiesen Kolonialmächten, insbesondere Frankreich, und zu wachsendem steuerlichen Druck auf die Untertanen, um die Rückzahlung der Kredite zu finanzieren. Der immer größere Unwille der Stämme für die steigenden Steuern aufzukommen führte zu einer anarchieartigen Situation im Land. Diese war neben der Verschuldung ein weiterer Vorwand für die imperialistischen Kräfte in Frankreich das Protektorat zu befürworten.
2.1.2. Die Zeit des beginnenden Protektorats
Im Jahr 1912 wurde Marokko der Protektoratsvertrag aufgezwungen, nach einer Dekade starken diplomatischen und militärischen Drucks. Das Land wurde in zwei Zonen unterteilt, die nördliche Region des Rifgebirges und der südliche Teil, die heutige Westsahara, fielen Spanien zu. Zentralmarokko, also der Löwenanteil, wurde französisches Protektorat.[3]
Die Befriedung des französischen Gebiets sollte mehr als zwanzig Jahre dauern, bis zur Unterwerfung der letzten Stämme im hohen Atlas im Jahr 1934. General Lyautey verwaltete das französische Protektorat von 1912 bis 1925. Er veranlasste die Absetzung von Moulay Hafid und die Einsetzung dessen Bruders Moulay Youssef. Die Stellung des Sultans als weltliche und religiöse Autorität gewährleistete die Legitimität des Protektorats, obwohl der Sultan nur eine rein formelle Autorität hatte. Alle Entscheidungen die Verwaltung betreffend wurden von General Lyautey getroffen, der eine komplette Reorganisation des Makhzen durchführte. Er setzte einen Großwesir ein, dem vier Minister unterstanden. Dieser hieß Mohammed al-Moqri, und er sollte seinen Posten während der gesamten Protektoratszeit behalten. Parallel zum traditionellen Makhzen schuf Lyautey eine strikt französische Verwaltung. Über Algerien kamen massiv „Pieds-noirs“, französische Siedler, sowie Militärangehörige nach Marokko.
Zu Revolten kam es schon bald, und zwar von 1921 bis 1926, im Rifgebirge in Spanisch Marokko. Abdelkrim al-Khattabi führte in einer Revolte religiösen Charakters etwa 20 000 Kämpfer und gründete die „Republik des Rifs“. Spanien und Frankreich mobilisierten insgesamt 800 000 erfahrene Soldaten, die schon im ersten Weltkrieg im Einsatz waren, um den Aufstand niederzuschlagen. Der Islam schien den Marokkanern als identitätsstiftendes und einigendes Mittel eines effektiven Widerstands gegen die herrschenden Christen. Einerseits waren hier die traditionellen sufischen Strömungen sowie der Heiligenkult, die Marabût, von Bedeutung, andererseits der aus dem „Orient“ importierte Salafismus.
2.1.3. Das Erbe des arabisch-muslimischen Nationalismus
Schon in der Zeit des Protektorats begann die Strömung des Salafismus in Marokko an Bedeutung zu gewinnen. Im Zentrum dieser Doktrin standen die Rückkehr zum „wahren“ und „reinen“ ursprünglichen Glauben und die unverrückbare Opposition zwischen Orient und Okzident, also Islam und Christentum. Die Ägypter Scheich Abdou und sein Schüler Rachid Rida waren zwei wichtige Vertreter dieser Doktrin, und verbreiteten dieselbe auch in Richtung Marokko. Einer ihrer Anhänger war Allal el Fassi (1920-1974), der eine wichtige Rolle in der nationalistischen Bewegung spielen sollte.[4]
Diese nationalistische Bewegung entwickelte sich vor allem im studentischen Milieu. Viele junge Marokkaner aus dem wohlhabenden Bürgertum stammend, studierten in Frankreich. Dort entdeckten sie „den Widerspruch zwischen den humanistischen und republikanischen Prinzipien einerseits, sowie der kolonialen Unterdrückung andererseits, sahen sich bei ihrer Rückkehr konfrontiert mit der geschlossenen neo-scherifischen Verwaltung, die französischen Beamten vorbehalten war.“[5]
Sie gründeten die Koutla de l’Action Nationale im Jahr 1930. Die nationale Bewegung begann schnell Gestalt anzunehmen, im Jahr 1937 übernahm oben erwähnter Allal al-Fassi den Vorsitz ihres Exekutivkomitees. Schon zu Beginn kann man also eine Verquickung zwischen nationalistischem Gedankengut sowie traditionell-islamischen Werten konstatieren. Bald erfolgte die Gründung des Parti National, um schließlich 1944 zum Parti de l’Istiqlâl zu werden.[6] Dieser ist noch heute als politische Partei präsent. Zur Zeit seiner Entstehung stand der marokkanische Nationalismus der Monarchie nahe, und stellte deren Legitimität nicht in Frage.
2.1.4. Das unabhängige Marokko: Das Vermächtnis Hassans II
Sultan Mohammed V kehrte nach zwei Jahren von seinem von der französischen Verwaltung aufgrund seiner Nähe zur nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung angeordnetem Exils 1955 nach Marokko zurück und wurde triumphal empfangen. 1956 wurde das Land unabhängig. Die Periode von 1956 bis 1961, dem Todesjahr Mohammeds V, war geprägt von einem Machtkampf zwischen dem seit 1957 den Titel König tragenden Monarchen und dem mächtigen Parti de l’Istiqlâl. Diesen konnte der König für sich entscheiden, der Istiqlâl wurde 1959 durch eine Spaltung geschwächt, der linke Flügel spaltete sich ab und gründete die Union Nationale des Forces Populaires (UNFP) unter Mehdi Ben Barka. Die Vision einiger Führungspersönlichkeiten eines Ein-Parteien Systems nach tunesischem Vorbild war also gescheitert.[7]
Nach dem Tod Mohammeds V im Jahr 1961 bestieg Hassan II den Thron, und er konnte auf eine von seinem Vater konsolidierte Verwaltung zurückgreifen. Er erließ eine Charta, die nach einem Referendum im Jahr 1962 Marokko zur konstitutionellen Monarchie machte. Die ersten allgemeinen Wahlen folgten im Jahr darauf. Seit den 70er Jahren spielt außenpolitisch sowie innenpolitisch die Westsahara Frage eine wichtige Rolle. Spanien zog sich 1976 aus dem Gebiet Spanisch Sahara zurück, die heutige Westsahara ging zu zwei Drittel an Marokko und der Rest an Mauretanien. Mauretanien gab das südliche Drittel 1979 auf, und es wurde von Marokko besetzt. Insbesondere in diesem südlichen Drittel operierte bereits die Polisario, die Frente Popular para la Liberación de Saguia el Hamra y Rio de Oro, "Volksfront zur Befreiung von Saguia el Hamra und Rio de Oro" - eine Bewegung, welche die Unabhängigkeit der Westsahara fordert. Die Lage befindet sich momentan in einer Pattsituation, da der König Marokkos bereits einem Referendum zugestimmt hat, in dem sich die Bevölkerung der Westsahara für oder gegen die Unabhängigkeit entscheiden soll. Der Streitpunkt ist nun, wer denn die Bevölkerung der Westsahara sei: dürfen die später angesiedelten Marokkaner am Referendum teilnehmen, die mit Sicherheit für einen Verbleib mit Marokko stimmen würden? Die Folge ist ein ewiges Verschieben des Abstimmungstermins.
Die Westsaharafrage hatte unter Hassan II große Bedeutung. Diese territoriale Angelegenheit konnte von anderen innenpolitischen Problemen sowie dem repressiven Regime ablenken, beziehungsweise nationalistische Emotionen kanalisieren. Marokko war unter seiner Herrschaft nur dem Papier nach eine konstitutionelle Monarchie. Bereiche, die nicht direkt dem Einfluss des Königs unterstanden, wurden indirekt kontrolliert. Wahlfälschung gehörte zur Tagesordnung, ebenso wie Einschüchterung und Verhaftung sowie Folter von Oppositionellen. Seit den 60er Jahren war das Innenministerium die wichtigste machtpolitische Stütze des Königs, er überstand durch dessen Hilfe zwei Militärputsche. Es wurde als Umm al-Wizarât bezeichnet, was soviel bedeutet wie „Mutter der Ministerien“, da es an Machtfülle alle anderen Ministerien zusammengenommen übertraf. Seit 1979 leitete Driss Basri dieses Ministerium. Ihm unterstanden diverse Polizei-, Sicherheits- und Geheimdienste, die weder der Justiz noch dem Parlament, ja nicht einmal der Regierung gegenüber verantwortlich waren. Ebenfalls war er für die Beaufsichtigung der staatlichen Fernseh- und Radioanstalten zuständig. Seit 1975 verwaltete er alle Dossiers, die die Westsahara Frage betrafen.[8]
Basri wurde zum Symbol der polizeistaatlichen Methoden und der staatlichen Repression im Marokko Hassans II. Er und das ihm unterstehende Ministerium waren integraler Bestandteil des so genannten Makhzen, dem „landesweiten Netz der informellen Interessensvermittlung, in dessen Zentrum der Monarch steht.“[9] Dieses System kann als marokkanische Ausprägung des neopatrimonialen-klientilistischen Konzepts gesehen werden.[10]
2.1.5. Die ersten Jahre der Herrschaft Mohammeds VI
In den letzten Jahren seiner Herrschaft bereitete Hassan II bereits den Prozess der demokratischen Öffnung vor, der unter Mohammed VI fortgesetzt werden sollte. So kam etwa im Jahr 1998 die so genannte Alternance -Regierung, die „Regierung des Wechsels“, unter dem Sozialisten Abdarrahman Youssoufi an die Macht, einem ehemaligen Oppositionellen, der sogar inhaftiert und lange Zeit im Exil war. Nichtsdestotrotz behielt der König die Kontrolle über den Sicherheitsapparat, personifiziert im bereits erwähnten mächtigen Driss Basri. Dieser überwachte weiterhin die „heißesten Eisen“: Algerien, die Westsahara, die Islamisten, die Wahlen, sowie die Menschenrechte.
Der „junge König“ verströmte eine Aura von Frische und Dynamismus, die die gesamte politische Klasse alt wirken ließ. Hassan II hatte dafür gesorgt, dass sein Sohn bei dessen Thronbesteigung weitgehend unbekannt, jedoch gut für sein Amt vorbereitet war. Bekannt war er primär für seine karitativen Aktivitäten und seinen Einsatz für die Armen, was im schnell den Titel „König der Armen“ einbrachte.[11]
Der marokkanische König ist ein Monarch von Gottes Gnaden, eine Tatsache die Hassan II immer wieder als Legitimierung für sein repressives Regime im Rahmen einer oktroyierten konstitutionellen Monarchie verwendete. Seine Herrschaft war geprägt von einem Distanzverhältnis zwischen dem Volk und seinem Monarchen. Die Marokkaner konzentrierten ihre Kritik auf andere Persönlichkeiten, die in vorderster Front standen, wie etwa General Oufkir und Dlimi und später Innenminister Driss Basri. Die Langlebigkeit, politische Intelligenz, und das Savoir-faire des Herrschers sahen sie als Manifestation der Baraka (des göttlichen Segens), die ihn mehrere Male vor Komplotts und Putschversuchen bewahrte.[12]
Die Zeiten hatten sich jedoch geändert, und Mohammed VI setzte von Beginn an auf Volksnähe. Der neue König fährt in einem Auto zur Arbeit, das er selbst lenkt, und er respektiert die Straßenverkehrsregeln. Er arbeitet zu Bürozeiten und hält Termine strikt ein, bei denen er seinem Gegenüber ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Im August 1999 setzte er eine Kommission zur Entschädigung ehemaliger politischer Häftlinge ein. Volksnähe demonstrierte er durch seinen Besuch im unter seinem Vater sträflich vernachlässigten Norden im Oktober 1999, bei dem er tausenden Leuten die Hand gab, beschützt nur von ein paar Bodyguards. Dabei inaugurierte er Baustellen und Spitäler, besuchte Kranke und Behinderte. Nur wenige Monate später ergriff er ähnliche Initiativen bei einem Besuch in Casablanca, und festigte damit sein Image als König der Armen. Bei einem Besuch des Grabmals von Moulay Idriss begab sich der König zu Fuß in die Medina von Fes.[13]
Im September 1999 folgte eine starke symbolische Geste mit der Rückkehr des im Exil lebenden Abraham Serfaty, ausgehandelt von engen Mitarbeitern des Königs, unter Umgehung des Innenministeriums. Während der junge König in einer ersten Phase seiner Herrschaft den Sicherheitsapparat und die Vertrauensleute seines Vaters beibehalten hatte, begann er nun die Position des Innenministeriums zu schwächen. Zuerst entzog er die DST (Direction de la Surveillance du Territoire, der marokkanische Inlandsgeheimdienst) der Kontrolle Basris, dann die Westsahara. Beide Bereiche wurden Offizieren, die dem König nahe stehen, unterstellt. Somit begannen erstmals seit dem Putschversuch Dlimis wieder Militärs wichtige Machtpositionen zu übernehmen. Die stärkste symbolische Geste folgte Anfang November 1999 mit der Absetzung Driss Basris als Innenminister. Ein weiterer symbolischer Akt war die Beendigung des Hausarrests von Abdessalam Yassine im Mai 2000, des wohl wichtigsten Ideologen des Islamismus in Marokko.[14]
Die Prioritäten des neuen Herrschers waren klar aufgezeigt: Beschäftigung, Gesundheit, und Ausbildung. Er trat von Beginn seiner Herrschaftszeit ein für eine Reform der Justiz und Verwaltung, eine Stärkung des Rechtsstaats, ein neues Konzept der Autorität, und die Dynamisierung der Wirtschaft. Dem Dynamismus der ersten Monate und Jahre folgte jedoch schon bald Ernüchterung, als sich die Beständigkeit des Makhzen und des monarchischen Systems in Marokko zeigte.
2.2. Die Gesellschaft des heutigen Marokkos
Die Gesellschaft Marokkos ist eine „Gesellschaft der Kontraste“, Pierre Vermeren bezeichnet das Land als „nordafrikanisches Brasilien“.[15] Die Einkommensschere zwischen arm und reich ist ausgeprägt, zwischen der ländlichen wie städtischen Bevölkerung und einer in relativem Wohlstand lebenden Bourgeoisie. Das Stadt-Land Gefälle ist enorm, so war etwa 1993 der HDI (Human Development Index)[16] in ländlichen Gebieten halb so groß wie in den Städten, eine Tatsache die sich in den letzten Jahren nur unwesentlich geändert haben dürfte.[17]
Während sich in den Städten eine gute Infrastruktur zu entwickeln beginnt, verändert sie sich in den ländlichen Gebieten nur wenig. Die medizinische Versorgung ist katastrophal. Nur etwa 4,5 Mio. Marokkaner sind sozialversichert, etwa 15% der Gesamtbevölkerung, die überwiegende Mehrheit genießt also keinen Versicherungsschutz.[18] Oft müssen Familien somit im Krankheitsfall ihren Besitz veräußern um die Behandlung zu finanzieren. Auch ist die medizinische Infrastruktur sehr schlecht, so gibt es nur etwa 30 000 Spitalsbetten, sprich eines pro 1000 Einwohner. Die Folge sind überfüllte Notaufnahmen.[19] Kein Wunder also, dass in diesem Bereich islamische Wohlfahrtsorganisationen in die Bresche springen und dadurch Anhänger gewinnen können.
Kinderarbeit ist am Land wie in den Städten ein Problem. Ohne ein soziales Netz gibt es für arme Familien oft keinen anderen Ausweg, als ein hungriges Maul in eine Einkommensquelle zu verwandeln. Junge Burschen werden oft zu einem Handwerker in Ausbildung gegeben, junge Mädchen haben ein schwierigeres Schicksal. Sie werden als Hausmädchen vermittelt, erhalten nur ein geringes Gehalt, das zumeist an die Familie geschickt wird, haben Arbeitszeiten von sieben bis 23 Uhr ohne einen Tag Pause und somit keine Möglichkeit auf Ausbildung oder auch nur ausreichend Erholung. Es handelt sich dabei um sehr junge Mädchen, 73% sind jünger als dreizehn Jahre, etwas mehr als ein Viertel jünger als zehn Jahre. Oft sind sie auch Opfer häuslicher Gewalt.[20]
2.2.1. Bildung und Analphabetismus
Analphabetismus ist ein trauriges Kapitel in Marokko. Im Vergleich mit den anderen nordafrikanischen Staaten weist das Land die höchste Rate von Erwachsenen auf, die des Lesens wie des Schreibens nicht mächtig sind. Insbesondere in den ländlichen Regionen stellen Bildung und Analphabetismus enorme Probleme dar.
Laut UNDP Development Report 1990 betrug die Analphabetismus Rate 1970 78%; im Jahr 2003 noch immer 49,3%.[21]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auch im Bereich der Bildung gibt es ein ausgeprägtes Stadt-Land Gefälle. 1998 waren noch 55% der Gesamtbevölkerung über 15 Jahren Analphabeten. Ländliche Regionen wiesen in diesem Jahr eine Analphabetismusrate von 74% auf, bei Frauen über 15 Jahren insgesamt 69%, Frauen in ländlichen Regionen 82%.[22]
Wie in anderen arabischen Staaten werden Lücken in der staatlichen Bildung zum Teil von nichtstaatlichen Institutionen ausgefüllt, im arabischen Raum häufig von islamischen Wohlfahrtsorganisationen. Diese bieten eine Ausbildung im Lesen und Schreiben auf Basis des Korans in eigenen Koranschulen.
Das Problem ist in Marokko jedoch vielschichtiger, einerseits existiert der Analphabetismus, andererseits die Arbeitslosigkeit gut ausgebildeter junger Marokkaner, bezeichnet als Jeunes diplômés (junge Absolventen).
2.2.2. Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit
Die Verfassung gewährt den marokkanischen Bürgern formell Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, und zwar im Artikel 9.[23]
Unter Hassan II nur formell auf dem Papier existent, im krassen Gegensatz zu den polizeistaatlichen Methoden Innenminister Basris’, der jegliche Opposition gewaltsam unterdrückte, begann unter Mohammed VI eine deutliche Entspannung. Symbolhaft dafür war die schrittweise Entmachtung Basris, die wie im Kapitel zuvor erwähnt in seiner Absetzung am 9.11.1999 gipfelte.[24] Unter dessen Ägide war es verpönt, über Politik auch nur zu sprechen.
Entspannung bedeutete aber nicht, dass Meinungsfreiheit von heute auf morgen voll und ganz gewährleistet wurde. Aus diversen Gesprächen mit Marokkanern waren drei unantastbare Werte zu destillieren: erstens Gott, also islamische Werte, zweitens die Monarchie und ihre territoriale Integrität und drittens die Person des Königs.[25] Diese drei Werte finden sich in der Parole des Königreichs: Allah, al-Watan, al-Malik (= Gott, die Nation, der König). Unter die territoriale Integralität fällt vor allem die Westsaharafrage: Deren Autonomie zu befürworten hätte wohl Folgen. Die Unantastbarkeit des Königs ist in der Verfassung festgelegt, folglich ist eine sehr konkrete Rechtsgrundlage gegeben. Interessant ist nunmehr in welcher Art und Weise diese Unantastbarkeit ausgelegt wird. Hierfür gibt es einige Beispiele, die einer liberalen Auslegung zuwiderlaufen.
So wurden drei Wochenzeitungen, Le Journal, Assahifa und Demain, am 2.Dezember 2000 durch den sozialistischen Regierungschef M. Abderrahmane Youssoufi verboten. Grund war die Veröffentlichung eines 1972 an ihn adressierten Briefes von Muhammed Basri, der die Verwicklung der damaligen sozialistischen Opposition in den Putschversuch General Oufkirs gegen Hassan II bestätigte. Das Verbot wurde in bester autoritärer Tradition unter Umgehung der Judikatur durch Verordnung durchgeführt und gestützt auf vage Argumente wie „Unterwanderung der Moral der Streitkräfte“ oder „Infragestellung der territorialen Integrität“ und „Kritik an der Verfassung“.[26] Dies deutet auf die gute Integration und Zusammenarbeit der ehemaligen Opposition mit dem Makhzen hin.
Am 21.5.2003 wurde der Journalist Ali Lamrabet[27] inhaftiert und zu vier Jahren Haft verurteilt wegen „Beleidigung des Königs“ „Unterwanderung der territorialen Integrität“ sowie „Unterwanderung des monarchischen Regimes“. Sein Verbrechen bestand darin, eine satirische Photomontage über politische Verantwortliche, Teile eines Interviews, in dem die Selbstbestimmung der Westsahara befürwortet wurde, sowie die genauen Zahlen des vom Parlament für die königlichen Paläste bewilligten Budgets zu veröffentlichen.[28] Aufgrund des Drucks von internationalen wie marokkanischen Menschenrechtsorganisationen wurde er am 7.1.2004 vom König begnadigt und freigelassen, zusammen mit fünf anderen Journalisten sowie über 20 Islamisten.[29]
Vorsichtige Kritik ist jedoch möglich, so hat zum Beispiel Abubakr Jamaï einen an den König adressierten „offenen Brief“ in seiner Wochenzeitung Le Journal hebdomadaire[30] veröffentlicht, in dem er in gemäßigter Form Kritik am Verlauf des demokratischen Öffnungsprozesses übt.[31]
2.2.3. Zivilgesellschaft in Marokko
Der Begriff für Zivilgesellschaft, den ich zugrunde lege, ist die Gesamtheit der Gruppen, Vereine, oder auch Individuen, welche außerhalb der staatlichen Sphäre partikulare Interessen wahrnehmen, politischer oder anderer Art. Darunter fallen Vereine, Gewerkschaften, religiöse Organisationen, Wohltätigkeits-, Menschenrechts-, Frauen- und Studentenorganisationen usw.
Die Zivilgesellschaft in Marokko ist bunt und vielfältig. Das Recht der Marokkaner auf Versammlungsfreiheit, und jeder politischen oder gewerkschaftlichen Organisation ihrer Wahl beitreten zu können, ist konstitutionell garantiert.[32] Diese Organisationen sind jedoch häufig nicht frei von politischer Einflussnahme. Dies ist ein grundsätzliches Problem in der Abgrenzung der Zivilgesellschaft vom staatlichen Bereich: politische Parteien können als Teil der Zivilgesellschaft gesehen werden, insbesondere wenn sie in einem autoritären System vom politischen Prozess ausgeschlossen sind. Ebenso und vor allem auch in Marokko ist oft das Gegenteil der Fall: am politischen Prozess beteiligte politische Parteien kontrollieren verschiedenste Organisationen teilweise oder ganz; auch der Staat hat häufig seine Finger im Spiel.
Grundsätzlich kann man sagen, dass dies einer der Faktoren ist, warum keine „demokratisierenden Impulse“ größeren Ausmaßes von diesen Organisationen ausgehen. Politische Einflussnahme auf sie ist mehr oder weniger groß, ihr eigener politischer Einfluss aber sehr gering. Die einzige Ausnahme bilden berufliche Interessensverbände, die aufgrund reellen ökonomischen Drucks, den sie ausüben, ihre Interessen besser durchsetzen können.[33]
Den säkularen Gruppierungen steht in islamischen Staaten generell ein stark ausgeprägtes Netz an religiösen Organisationen gegenüber. Diese nehmen sich dem Wohltätigkeitsbereich oder der Ausbildung an und kompensieren damit mangelhafte staatliche Leistungen. Politische islamistische Organisationen haben zumeist einen Flügel, der im Wohltätigkeitsbereich aktiv ist. Sie gewinnen so einerseits an Popularität und können ihre Ideen verbreiten, andererseits halten sie Kontakt mit der Basis.
2.3. Das politische System Marokkos unter Mohammed VI
2.3.1. Die schwierige Klassifizierung des politischen Systems Marokkos
Bernard Cubertafond bezeichnet das marokkanische politische System als „ein atypisches Regime“.[34] Der Verfassung nach ist es eine konstitutionelle Monarchie, jedoch kaum vergleichbar mit etwa Großbritannien oder Spanien. Seit der Machtübernahme durch Mohammed VI hat zwar ein Prozess der demokratischen Öffnung begonnen, jedoch verfügt der König noch immer über eine außergewöhnliche Machtfülle. Er übt exekutive Gewalt aus, auch Judikatur und Legislative sind nur dem Papier nach unabhängig.
Als Demokratie kann man das System also nicht bezeichnen, trotz Wahlen und einem Zwei-Kammern Parlament, das Premierminister und Regierung im Rahmen eines Mehrparteiensystems kontrolliert. Trotz einer signifikanten Besserung im Bereich der Meinungsfreiheit im Vergleich zur Herrschaftszeit Hassans II bleiben gewisse Themen nur bedingt antastbar.[35] Die Teilnahme am politischen System ist noch immer konditioniert durch den Treueid[36] dem König gegenüber, die Wahlen haben noch einiges an Transparenz zu gewinnen, sowie die Parteien an doktrinaler und institutioneller Struktur.[37] Somit sind die Marokkaner zwar immer mehr Bürger, bleiben jedoch in vielerlei Hinsicht gegenüber politischen, ökonomischen und familialen Kräften, sowie alten Klanstrukturen Untertanen. Somit bildet die parlamentarische Demokratie nur einen Deckmantel für ein vom König dominiertes System.[38]
Um eine Theokratie handelt es sich wohl auch nicht. Der Islam bildet zwar im Privatrecht die legislative Grundlage, jedoch bleibt die Debatte über die Interpretation des religiösen Rechts offen. Jedem steht es in seinem privaten Bereich frei, seine Religion auszuüben. Wiewohl der König den Titel „Beherrscher der Gläubigen“ trägt, ist seine Rolle nicht mit jener der iranischen Führung seit Khomeini vergleichbar. Er interpretiert nicht in letzter Instanz das Wort Gottes und kontrolliert nicht durch Fatwas die Ausübung des Glaubens.[39]
Also aufgeklärter Despotismus? Schon Mohammed V hatte der nationalistischen Bewegung eine konstitutionelle Monarchie aufgezwungen, unter Wahrung der königlichen Autorität. Unter Hassan II war dies deutlich zu sehen, politische Entwicklungen fanden im vom König festgelegten Rahmen statt, auch entgegen der öffentlichen Meinung bzw. oppositioneller Kräfte. Die großen Linien waren: Ökonomischer Liberalismus, Orientierung in Richtung des Westens, Öffnung der Wirtschaft gegenüber Europa, Besetzung und Marokkanisierung der Westsahara; schlussendlich in den 90er Jahren kontrollierte demokratische Öffnung. Mohammed VI hat zwar den Stil geändert, gewährt mehr Meinungsfreiheit, kümmert sich um die sozialen Probleme der Bevölkerung und zeigt mehr Volksnähe, jedoch erhält er die königliche Autorität über die Schlüsselministerien und gibt der Regierung Direktiven.[40]
Die Klassifizierung des marokkanischen politischen Systems ist also äußerst komplex, behält man im Hinterkopf, dass Modelle immer nur Ideale sind, die in der Realität selten in Reinform vorkommen, so sieht man sich in Marokko einer nur schwer zu fassenden Realität gegenüber. Das Regime ist historisch gewachsen, eine Monarchie die sich langsam der gesellschaftlichen Forderung nach demokratischer Beteiligung stellt. „Ein Regime muslimischer Kultur und übermächtiger Monarchie, strukturiert um den Treueid der politischen und sozialen Bestandteile dem König gegenüber, der integrierende Kraft sowie Schiedsrichter ist, unter wachsender Beteiligung des Volkes, und fortschreitend in Richtung eines Rechtsstaates.“[41]
Die Grenzen verschwimmen manchmal noch immer zwischen dem Marokkaner als Bürger oder Untertan, einer gewollten und akzeptierten oder einer aufgezwungenen Konstitution, demokratischer Beteiligung oder aufgezwungener Macht, Willkür oder Rechtsstaat. Egal welchen Bereich des marokkanischen politischen Systems man betrachtet, sei es der konstitutionelle Rahmen, die Institution der Monarchie, die Parteienlandschaft, oder den Bereich des Religiösen – zu konstatieren bleiben die Gegensatzpaare Offenheit gegen Starre; demokratische Kultur gegen autoritäre Kultur; Tradition gegen Moderne.[42]
2.3.2. Die „offizielle“ Seite des marokkanischen Machtgefüges: Konstitution und Gewaltenteilung
2.3.2.1. Die Verfassung
Die Verfassung, die Marokko formell in eine konstitutionelle Monarchie verwandelte, trat 1962 in Kraft. Marokko ist weiterhin eine erbliche Monarchie und wird seit 1666 von der Dynastie der Alawiden regiert. Die Verfassung wurde 1970, 1972, 1980, 1992 und zum letzten Mal 1996 überarbeitet. 1992 wurden ein Konstitutionsrat und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss geschaffen, und die Volljährigkeit von 21 auf 20 Jahre gesenkt. 1996 wurde eine zweite Kammer im Parlament gebildet. Die bereits bestehende Kammer wird nun zur Gänze direkt gewählt, zuvor war ein Drittel indirekt gewählt worden.
Laut Verfassung geht die Souveränität vom Volk aus, ausgeübt wird sie durch Volksabstimmungen bzw. durch gewählte Vertreter. Marokko ist laut Konstitution ein Mehr-Parteien System. Ebenso besteht auf dem Papier ein System der Checks and Balances, jedoch geprägt durch ein starkes Übergewicht der Exekutive bzw. des Königs.
Der gesamte Titel III der Verfassung ist dem Parlament gewidmet, Titel IV behandelt die Regierung und parlamentarische Rechte ihr gegenüber; Titel V schließlich die Beziehungen zwischen König und Parlament sowie Regierung und Parlament.[43]
Alle Bürger gelten vor dem Gesetz als gleich, politische Rechte von Mann und Frau sind gleich. Die Verfassung gewährleistet außerdem allen Bürgern Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit zur Bildung politischer Parteien oder Vereine.[44]
2.3.2.2. Exekutive: Der König, seine Legitimität und Funktion als Beherrscher der Gläubigen
Der König ist nicht nur in Realität, sondern auch der Verfassung nach die bedeutendste Person der Exekutive. Artikel 23 besagt, dass die Person des Königs unverletzlich und heilig sei.[45] Laut Artikel 24 ernennt er den Premierminister sowie auf dessen Vorschlag die anderen Regierungsmitglieder. Derselbe Artikel bescheinigt ihm das Recht zur Entlassung der Regierungsmitglieder.[46] Laut Artikel 25 hat der König im Ministerrat den Vorsitz.[47] Artikel 29 ist die Basis für die Regierungstätigkeit des Königs per Verordnung oder königlichem Erlass, bezeichnet als Dahir.[48] Unter anderem ist er oberster Befehlshaber der Streitkräfte und oberstes außenpolitisches Organ – alle Staatsverträge müssen ihm vorgelegt werden.
Die Machtfülle des Königs ist mit den konstitutionellen Rechten allein nicht ausreichend beschrieben. Trotz der formellen Änderung in Richtung einer pluralistischen konstitutionellen Monarchie ist der König, gestützt auf den Makhzen, weiterhin die dominierende politische Kraft. Zur genauren Beschreibung des Makhzen siehe 2.3.3.
Was ist nun die Basis der Legitimität der Herrschaft dieser wichtigsten Person im politischen System Marokkos? Cubertafond identifiziert neben der gerade beschriebenen legal-rationellen drei weitere Säulen der Legitimität: die historisch-traditionelle, die charismatische, und die religiöse Legitimität.[49]
Wie bereits in der historischen Einführung aufgezeigt, hat die Monarchie eine lange Tradition in Marokko, und sie zeigt sich in den jährlichen Feiern großer historischer Ereignisse. Im Zentrum dieser Feierlichkeiten ist der König immer präsent. Er muss dem Vorbild seiner großen Vorfahren, wie etwa Moulay Ismail oder Hassan I. gerecht werden, verwalten und befrieden, um die Sicherheit zu gewährleisten sowie den Einflussbereichs Marokkos bzw. sein Territorium vergrößern. Der König soll seinen persönlichen Beitrag zu dieser geschichtlichen Dimension leisten – Mohammed VI ist dies möglicherweise bereits gelungen, durch sein Image des „Königs der Armen“ und Bekämpfers von Ungleichheiten sowie seiner Volksnähe. Zugleich bewahrt er jedoch die integrativen Traditionen: Treueid und traditionelle Gewänder bei gewissen Auftritten, Wahrung des Protokolls und der Distanz dem König gegenüber, wenn ihm dies beliebt.[50]
Die charismatische Legitimität basiert auf dem Glauben an die Außergewöhnlichkeit einer Person, deren Ausstrahlung man affektiv anerkennt, und unter deren schützende und wohltätige Aura man sich begibt, und von deren Baraka, dem göttlichem Segen, man profitiert. In Marokko kann jeder Abkömmling des Propheten, Sharif od. pl. Shurfa, dieses Charisma oder Baraka haben. Sie bilden somit eine Art Aristokratie. Auch Heilige oder lokale Oberhäupter weisen manchmal dieses Charisma oder Baraka auf. Und natürlich ist es ein fundamentales Attribut des Königs, dem Oberhaupt der Shurfa. Im heutigen Marokko haben die Shurfa noch immer eine Sonderstellung, z.B. was ihre Behandlung in Verwaltungsangelegenheiten betrifft. Der König muss also die Kontrolle über die Shurfa sicherstellen, die mögliche konkurrierende politische Kräfte darstellen können. So hat sich etwa Abdessalam Yassine in seinem bekannten Brief an Hassan II „L’Islam ou le déluge“ (Der Islam oder die Sintflut) auf seine Zugehörigkeit zu einer scherifischen Familie berufen, und somit angedeutet, dass er auch ein Anrecht auf Macht habe, zwar als „Cousin“ aber doch mit einer Verantwortung und besonderen Legitimität ausgestattet. Das brachte ihm die Internierung in einer psychiatrischen Anstalt ein. Ein anderes Beispiel ist die Verhinderung einer Haftstrafe für Mohammed Idrissi Kaitouni, dem Direktor von l’Opinion, der Parteizeitung der Istiqlâl. Sein Verbrechen war, den Tod von vier Häftlingen im Polizeigewahrsam publik zu machen. Die idrissidischen Shurfa begaben sich zum Mausoleum von Mohammed V, um die Gnade Hassans II zu erbitten, die auch gewährt wurde. Dies sind nur ausgewählte Beispiele für Abweichungen vom legal-rationellen Prinzip im marokkanischen politischen System.[51]
Die religiöse Autorität des Königs wird im Artikel 19 der Verfassung festgelegt, der König ist Amir al-Mu’minîn, also Beherrscher der Gläubigen: „Der König, Beherrscher der Gläubigen, oberster Repräsentant der Nation, Symbol seiner Einheit, Garant des Fortbestands und der Kontinuität des Staates, sorgt für die Achtung des Islams und der Konstitution. Er ist Beschützer der Rechte und Freiheiten der Bürger, der sozialen Gruppen und Kollektive. …“[52] Die religiöse Autorität des Königs wird in Ritualen gefestigt, wie etwa beim Akt des Treueids beim jährlich stattfindenden Fest der Inthronisierung. Dem Willen des Königs zu gehorchen entspricht also, zumindest in der Theorie, den Willen Gottes zu befolgen.
Diese Stellung hat für den König persönliche und politische Kosten. Er soll Modell und Vorbild der religiösen Gemeinde sein, also die Verhaltensregeln des marokkanischen Islams befolgen. Er findet sich sozusagen unter dem kritischen Blick der Gläubigen und vielmehr der Geistlichen, die ihn um seine religiöse Autorität beneiden. Der König kann somit versucht sein, sich von dieser Funktion zu distanzieren, um seinen persönlichen Handlungsspielraum zu vergrößern.[53]
Außerdem soll der König alles vermeiden, was die Gemeinschaft entzweien oder spalten könnte, da dies zu politischer Immobilität führen kann. So hat etwa Hassan II 1992-93 die Frage des Moudawwana (Personenrecht) aus der öffentlichen Debatte entfernt, indem er selber die Verantwortung dafür als Beherrscher der Gläubigen übernommen hat. In diesem Fall führte es zu einer kaum nennenswerten Reform.[54] Mohammed VI wiederum hat eine öffentliche Debatte darüber zugelassen, und seine Funktion dann dazu ausgenützt, um eine umfassende Reform entgegen starker Proteste insbesondere aus dem islamistischen Lager durchzusetzen.
Zwei Grundsatzfragen stellen sich in Zusammenhang mit dieser Funktion: Ist sie kompatibel mit Demokratie, oder dem Rechtsstaat? Was die Demokratie betrifft, so müsste doch in einer solchen gewährleistet sein, dass freie Bürger über alle gesellschaftlichen Fragen entscheiden. Eine so relevante Frage wie die des Moudawwana unter Ausschluss demokratischer Debatte, nur durch die religiöse Autorität des Königs und einer simplen Konsultation der Ulama zu entscheiden, zeugt von autokratischen Tendenzen. Den Rechtsstaat betreffend, sollte doch in einem solchen eine unabhängige Instanz (die Jurisprudenz) alle politischen Kräfte kontrollieren, und Konflikte unter Anwendung der beschlossenen Gesetze und gemäß demokratischer Prozeduren bewältigen? In der Doktrin des obersten Gerichtshofes ist jedoch noch festgehalten, dass alle Macht vom König ausgeht, und die anderen Gewalten nur delegierte Macht haben. So werden sechs der zwölf obersten Richter vom Parlament bestellt, neben den sechs vom König nominierten. Stellt sich die Frage, ob sich diese nun als absolut unabhängig betrachten können, bzw. ob sie nicht auf die Konstitution anstatt dem König den Treueid leisten sollten. Die Frage des Beherrschers der Gläubigen bildet also ein zentrales Element, um die Entwicklung des Regimes zu beurteilen: Handelt es sich um eine parlamentarische Demokratie nach britischem oder spanischem Vorbild oder eine abgeschwächte Form der konsultativen Monarchie? Öffentliche Freiheiten garantiert durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit oder eine öffentliche Ordnung, die einer muslimischen Ordnung entspricht, durch Geistliche definiert?[55]
Auch in anderer Hinsicht ist die Stellung des Königs als Beherrscher der Gläubigen paradox: Er muss den Balanceakt schaffen, den Strenggläubigen ein entsprechendes Vorbild zu sein, sowie den weniger strikt praktizierenden Muslimen ihre gewohnten Freiheiten garantieren. Letzteres bedeutet einen offenen und toleranten Islam zu vertreten, der den Marokkanern in ihrem Haus ermöglicht, zu tun und zu lassen was sie wollen, öffentliche Feste, Heiligenkult, diskrete Konsumation von Alkohol, interkonfessionelle Heiraten usw. Er muss also einen „Islam der Mitte“ vertreten.[56]
2.3.2.3. Legislative: Das Parlament
1996 wurde das Parlament um eine Kammer erweitert. Zur bereits bestehenden Repräsentantenkammer (Majlis an-Nuwwâb) kam die Kammer der Berater (Majlis al-Mustashârîn). Erstere umfasst 325 Abgeordnete, die durch Direktwahl für fünf Jahre gewählt werden. Die Abgeordneten der Kammer der Berater werden indirekt durch lokale Körperschaften, Gewerkschaften und Berufsverbände gewählt. Ein Drittel dieser Kammer wird jeweils alle drei Jahre ausgetauscht.[57]
Die wichtigste strukturelle Änderung durch die Reform der Konstitution 1996 war die Schaffung eines Zwei-Kammer Parlaments. Das politische Gewicht des Parlaments wurde theoretisch durch die Direktwahl aller Abgeordneten der Repräsentantenkammer erhöht. Ebenso wurde die Verantwortlichkeit der Regierung dem Parlament gegenüber festgelegt, und zwar im Artikel 60. Demzufolge ist die Regierung dem König sowie dem Parlament verantwortlich.[58]
Auf eine autoritäre Stellung des Königs weist zum Beispiel Artikel 28 hin, welcher besagt dass der König „Mitteilungen“ an die Nation sowie das Parlament adressieren kann, die nicht Gegenstand einer Debatte sein dürfen. (Le roi peut adresser des messages à la Nation et au Parlement. Les messages sont lus devant l’une et l’autre Chambre et ne peuvent y faire l’objet d’aucun débat.)“[59] Eine strukturelle Stärke des Königs ist ebenfalls, dass er den Premierminister und auf dessen Vorschlag die Minister ernennt. Das Parlament hat hierauf keinen Einfluss.
[...]
[1] vgl. Vermeren (2002); S15-20 sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Marokkos; 19.9.05
[2] Zur Definition des Wortes Makhzen siehe 2.3.3.
[3] vgl. Vermeren (2002); S20-22
[4] vgl. Vermeren (2002); S25-28
[5] vgl. Vermeren (2002); S24
[6] vgl. http://www.istiqlal.ma/rubrique.php3?id_rubrique=9; 24.09.2005
[7] vgl. Vermeren (2002); S25-26
[8] vgl. Buchta (17.01.2000)
[9] vgl. Willis (2002): S14-18; Santucci (2001): S91-92; Moore (1993): 42-43; zitiert nach: Axtmann (2003): S16
[10] vgl. Waterbury (1970)
[11] vgl. Vermeren (2001): S31-32
[12] ibid; S34-35
[13] vgl. Vermeren (2001): S36
[14] ibid; S37-38
[15] vgl. Vermeren (2001): S69
[16] HDI (Human Development Index) ist ein Index der UNDP (United Nations Development Program) zur Bewertung der Entwicklung eines Landes. Er bezieht neben dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auch soziale Indikatoren wie Lebenserwartung, Bildungsgrad sowie Alphabetisierungsrate der Bewohner ein.
[17] vgl. Vermeren (2001): S69-70
[18] ibid; S76
[19] ibid; S 77
[20] vgl. Vermeren (2001): S78-81
[21] HDR 2003 ; http://hdr.undp.org/reports/global/2003/pdf/hdr03_HDI.pdf; und HDR 1990; http://hdr.undp.org/reports/global/1990/en/pdf/hdr_1990_ch5.pdf; 6.3.04
[22] vgl. Vermeren (2001): S83
[23] Artikel 9 der Verfassung in: Benyahya (1997): S159
[24] vgl. Buchta 17.01.2000
[25] durchgeführt in Fes, Marokko im Februar 2004 mit Studenten der Univertsität (Université de Fes) sowie Lehrern am ALIF Institute (Arabic language Institute in Fez), in weiterer Folge beim Forschungsaufenthalt für die Diplomarbeit in Casablanca und Rabat im Sommersemester 2005; vgl. auch Šenkyř (2.11.2002): S73
[26] vgl. Jamaï (Jänner 2001)
[27] Chefredakteur von Douman und Demain Magazine, dem „Nachfolger“ der im Jahr 2000 verbotenen Zeitung Demain
[28] vgl. el Sarafi (Juli 2003)
[29] http://www.lemonde.fr/web/article/0,1-0@2-3212,36-348324,0.html; 6.3.05
[30] Nachfolger des verbotenen Le Journal
[31] Le Journal hebdomadaire; http://www.lejournal-hebdo.com/article.php3?id_article=4833; 24.9.2005
[32] Artikel 9 der Verfassung in: Benyahya (1997): S159
[33] vgl. Layachi 1999: S51-52
[34] vgl. Cubertafond (2001); S3
[35] siehe Kapitel 2.2.2. zur Meinungsfreiheit
[36] siehe Kapitel 2.3.4. Die Bay`a, der Treueid
[37] zur Problematik der Parteien siehe 2.3.5.
[38] vgl. Cubertafond (2001): S3-4
[39] ibid; S4
[40] ibid; S4-5
[41] vgl. Cubertafond (2001): S6
[42] ibid; S6-7
[43] Titre III – V in Benyahya (1997): S162-168
[44] vgl. http://www.undp-pogar.org/countries/constitution.asp?cid=12; 26.9.2005
[45] Artikel 23 der Verfassung in Benyahya (1997): S160
[46] Artikel 24; ibid; S161
[47] Artikel 25; ibid; S161
[48] Artikel 29; ibid; S161
[49] vgl. Cubertafond (2001): S73
[50] ibid; S74-81
[51] vgl. Cubertafond (2001): S81-84
[52] Artikel 19 der Verfassung in Benyahya (1997): S160
[53] vgl. Cubertafond (2001): S86
[54] ibid; S86-87
[55] vgl. Cubertafond (2001): S87-89
[56] ibid; S91
[57] vgl. http://www.undp-pogar.org/countries/legislature.asp?cid=12; 26.9.2005
[58] Artikel 60 der Verfassung in Benyahya (1997): S166
[59] Artikel 28; ibid; S161
- Citation du texte
- Mag. Stefan Svec (Auteur), 2007, Staat und Religion im Islam und deren Implikation in den politischen Prozess, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75586
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