Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem damit verbundenen Ende des Kalten Krieges strebten die meisten ehemals kommunistischen Staaten eine schnelle Westintegration in EU und NATO an. Heute, mehr als 15 Jahre später, kann man auf eine sehr divergente Entwicklung dieser Staaten blicken: acht von ihnen sind seit Mai 2004 EU - Mitglieder, andere sind auf dem Weg dahin und wieder andere haben sich eher zu Autokratien denn zu liberalen Demokratien entwickelt. Angesichts dieser Differenzen stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Europäische Union mit ihrer Integrationspolitik auf die demokratische Sozialisation dieser Staaten hat und hatte. Diese Arbeit geht der Frage nach, indem sie am Fallbeispiel der Slowakei untersucht, welche Wirkung die EU mit ihrer Konditionalitätspolitik auf die (demokratische) Entwicklung hatte. Die Konditionalitätspolitik wird verstanden als rationalistisch orientierter Sozialisationsmechanismus, der auf materiellen und politischen Anreizen basiert und nach dem Prinzip der Verstärkung durch Belohnung funktioniert. Den Sozialisanden werden dabei bestimmte Anreize versprochen, die ihnen bei Erfüllen gesetzter Konditionen gewährt werden. Im Falle einer Nichterfüllung werden diese Belohnungen ausgesetzt, zu direkten Sanktionen kommt es nicht. Die Untersuchung des Falles der Slowakei hat dabei ergeben, dass die Wirkung dieser Konditionalitätspolitik entscheidend von den innenpolitischen Bedingungen, vor allem dem politischen Willen der führenden Eliten sowie der Höhe der Anpassungskosten für die Regierung abhängt. Im Falle der Slowakei konnte die EU daher unter Ministerpräsident Vladimír Mečiar kaum Einflüsse und Erfolge erzielen, wobei nach 1998 unter der neuen Regierung von Mikuláš Dzurinda, deren oberstes Ziel eine möglichst schnelle Integration in die EU war, entscheidende Erfolge erzielt wurden.
Die Arbeit kommt daher zu dem Schluss, dass der Einfluss der EU – Konditionalität auf die demokratische Sozialisation der Slowakei marginal, jedoch nicht unbedeutend war. Dies kann aber nicht ausschließlich als Folge der Konditionalitätspolitik sondern vielmehr als Zusammenwirken verschiedener Sozialisationsmechanismen erklärt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Konzept der Internationalen Sozialisation
2.1. Konzeptioneller Begriff der internationalen Sozialisation
2.2. Mechanismen und Bedingungen der Sozialisation
3. Die Europäische Union und die Osterweiterung
3.1. Der Verlauf der Osterweiterung
3.2. Grundwerte der EU und die Kopenhagener Kriterien
4. Die Politik der Konditionalität
5. Wirkung der Konditionalitätspolitik am Beispiel der Slowakei
5.1. Historischer Überblick
5.2. Untersuchung und Befunde
5.2.1. Politische Kriterien
5.2.1.1. Die ersten Regierungsjahre Mečiars (1994 – 1997)
5.2.1.2. Wandelstimmung ab 1997
5.2.1.3. Die neue Regierung Dzurindas nach der Wahl 1998
5.2.2. Wirtschaftliche Kriterien und Übernahme des Acquis Communautaire
5.3. Zusammenfassung der Befunde
6. Abschließende Bemerkungen
7. Literaturverzeichnis
8. Zusammenfassung/Abstract
1. Einleitung
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und dem damit einhergehenden Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation nach 1989 traten grundlegende Veränderungen für das internationale System, die Weltpolitik und die internationalen Beziehungen ein. Für die ehemals kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa bedeutete dies eine Phase der Neuorientierung auf der Suche nach dem Charakter ihrer Nation, nach einer neuen Verfassung und nach ihrer Stellung in den internationalen Beziehungen und in Europa. Viele der Staaten der Region in Mittel-, Südost- und Osteuropa strebten in dieser Phase der Halt- und Orientierungslosigkeit, Woyke spricht von „einem politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Vakuum“ (Woyke 2002: 10), eine möglichst schnelle Westintegration in Form eines Beitritts zur Europäischen Union (EU, damals noch Europäische Gemeinschaft)[1] an, „die „Rückkehr nach Europa“ [war] in den unabhängig gewordenen Staaten zum zentralen politischen Ziel geworden“ (Grosse Hüttmann 2004: 4). Heute, über 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, sind in dieser Region sehr verschiedene Entwicklungen erkennbar: einige der Staaten sind seit dem 01. Mai 2004 Mitglieder der Europäischen Union (dazu gehören Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn), andere sind noch auf dem Weg dorthin (Rumänien, Bulgarien, Kroatien) und wieder andere haben sich eher zu stabilen Autokratien denn zu liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratien entwickelt (v.a. Staaten der ehemaligen Sowjetunion, etwa Weißrussland).
Angesichts solch divergenter Entwicklungen stellt sich die Frage, warum dies so ist, welchen Einfluss die europäische Integration von Seiten europäischer Regionalorganisationen haben kann und unter welchen Bedingungen diese exogenen Einflüsse effektiv auf die Erfüllung westeuropäischer Standards in den Bereichen der liberalen Demokratie, der Menschenrechte oder friedlicher Konfliktaustragung wirken (vgl. Schimmelfennig 2005: 2).
Diese Arbeit soll daher der Frage nachgehen, ob die europäische Integration einen Einfluss auf den Prozess der demokratischen Entwicklung der postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas hat oder hatte und wie ein solcher sich gestaltet. Untersucht wird dies am Fallbeispiel der Slowakei, die unter diesen Staaten als beste Illustration eines früheren Problemfalls bezüglich politischer Konditionen gilt (vgl. Pridham 2002a: 963). Unter Ministerpräsident Vladimír Mečiar war das Land zwischen 1994 und 1998 zu autoritären Zügen zurückgefallen und konnte daher die politischen Konditionen der EU im Bereich Demokratie, Menschenrechtsstandards und Minderheitenpolitik nicht erfüllen.
Die Untersuchung orientiert sich dabei primär am theoretischen Rahmen der internationalen Sozialisation, die innerhalb der Internationalen Beziehungen im Zuge der dritten Demokratisierungswelle und speziell zu Beginn der 1990er Jahre einen enormen Aufschwung erfuhr. Sie konnte die von vergleichender Politikwissenschaft und Transformationsforschung kaum oder nicht beachtete Wirkung internationaler Einflüsse auf den Demokratisierungsprozess wirksam untersuchen, da sie die erfolgreiche Verbreitung von demokratischen Normen und Menschenrechtsstandards zum wesentlichen Untersuchungsinhalt hat.
Im Rahmen der Theorien der internationalen Sozialisation stütze ich mich dabei vor allem auf das Konzept Frank Schimmelfennigs, der die vier idealtypischen Sozialisationsmechanismen der Imitation, der Überzeugung, des sozialen Drucks und der Verhandlung (Bargaining) klassifiziert und ihre jeweiligen Bedingungen herausarbeitet. Im Zuge der EU – Osterweiterung wird dabei vor allem der vierte Mechanismus des Verhandelns oder Bargainings relevant, der rationalistischen Logiken folgt und mit materiellen und politischen Anreizen arbeitet. Hier ist die Politik der Konditionalität einzuordnen, die im Erweiterungsprozess als Hauptstrategie der Europäischen Union gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten gilt und daher Fokus dieser Arbeit ist. Ich werde im Rahmen einer prozessorientierten Untersuchung der Frage nachgehen, ob und inwieweit die Politik der Konditionalität seitens der EU einen Einfluss auf den Prozess der demokratischen Sozialisation in der Slowakei hatte. Dabei wird schwerpunktmäßig die Zeit zwischen 1994 und 2000, also zwischen der erneuten Wahl Mečiars als Ministerpräsident der Slowakei und dem offiziellen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU, fokussiert.
Im Folgenden werde ich zunächst Schimmelfennigs theoretischen Rahmen der internationalen Sozialisation darstellen (Kapitel 2). In Kapitel 3 gehe ich auf die Europäische Union und die Osterweiterung ein, indem ich kurz den Verlauf des Osterweiterungsprozesses skizziere und die Grundwerte der Europäischen Union sowie daraus resultierende Bedingungen für einen Beitritt zur EU, die Kopenhagener Kriterien, herausarbeite. Auf Basis dieser Grundlagen werde ich dann die Politik der Konditionalität der Europäischen Union näher erläutern (Kapitel 4) und diesen theoretischen Rahmen zum Abschluss auf das Fallbeispiel der Slowakei anwenden (Kapitel 5). Hierbei werde ich nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Slowakei zwischen dem Ende des Kommunismus 1989 und dem EU – Beitritt im Mai 2004 die Wirkung der politischen Konditionalität getrennt für die politischen und wirtschaftlichen Kriterien, sowie die Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes (Acquis Communautaire) analysieren, wobei die politischen Kriterien den Schwerpunkt der Analyse bilden, da diese die demokratische Sozialisation ausmachen.
Dabei stütze ich mich im Wesentlichen auf Arbeiten von Schimmelfennig und seinen Kollegen sowie auf Untersuchungen von Geoffrey Pridham, da diese einen hilfreichen theoretischen Rahmen bereitstellen, innerhalb dessen die Politik der Konditionalität gut eingeordnet und erläutert werden kann, und jeweils interessante und hilfreiche Studien über die Slowakei vorlegen.
Wesentliches Ergebnis der Arbeit ist, dass die Einflüsse der europäischen Integration eher begrenzt sind, da sie von zahlreichen Faktoren abhängen. Statt von einer Konditionierung seitens der EU und alleinigen externen Beeinflussungen ist vielmehr immer von einer komplexen Interaktion endogener und exogener Faktoren auszugehen (vgl. Kneuer 2002: 238). Entscheidend über Erfolg oder Misserfolg der demokratischen Konditionalität und Sozialisation seitens der EU sind dabei neben den versprochenen Anreizen oder angedrohten Sanktionen und der Glaubwürdigkeit dieser Versprechungen immer auch innenpolitische Faktoren wie das Regierungssystem, der Wille der politischen Eliten, die Höhe der Anpassungskosten und die Resonanz im Zielland. Als besonders wirksam gilt die Politik der Konditionalität in unstabilen Demokratien, während Autokratien oder konsolidierte Demokratien nicht auf den Verhandlungsmechanismus reagieren. Dies zeigt sich auch am Beispiel der Slowakei, in der die Konditionalitätspolitik unter Mečiar mit seinem autoritären Regierungsstil wenig erfolgreich blieb und es erst eines Führungswechsels hin zu demokratischeren Strukturen bedurfte, um mit den Mechanismen Erfolge erzielen zu können. Insgesamt erwiesen sich die Einflüsse als marginal, aber nicht als unbedeutend.
2. Das Konzept der Internationalen Sozialisation
Im Rahmen der Transformationsforschung bleiben äußere Einflüsse, etwa aus der internationalen, aber auch aus der regionalen Umwelt, auf die Demokratisierung meist eher ein nebensächlicher, tendenziell unbeachteter Faktor. An der Schnittstelle zwischen Transformationsforschung und Internationalen Beziehungen liegend, finden diese exogenen Einflussfaktoren oftmals keinen systematischen Eingang in die Forschung der Regimetransformation. Diese Lücke wollten Vertreter der Internationalen Beziehungen schließen, indem sie mit den Theorien und der Forschung zur internationalen Sozialisation, die seit Beginn der 1990er Jahre in der Disziplin einen erneuten Aufschwung erfuhren, versuchten, Einblicke in den Prozess und die Bedingungen (erfolgreicher) internationaler Einflussnahme auf innenpolitische Situationen und deren Wandel, zu gewinnen (vgl. Schimmelfennig 2003a: 404). Auch Frank Schimmelfennig griff in diesem Zusammenhang das Konzept der internationalen Sozialisation auf und machte es für die Erklärung der Strategien der EU zur europäischen Integration der postkommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa fruchtbar.
Im Folgenden werde ich anlehnend an den theoretischen Rahmen Frank Schimmelfennigs den konzeptionellen Begriff der internationalen Sozialisation sowie die Sozialisationsmechanismen und jeweiligen Bedingungen, die Erfolg oder Misserfolg der internationalen Sozialisation beeinflussen, erläutern. Ich werde zunächst alle vier von Schimmelfennig klassifizierten Mechanismen der Sozialisation erläutern, im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird jedoch primär der vierte Mechanismus des Verhandelns (Bargaining) näher untersucht.
2.1. Konzeptioneller Begriff der internationalen Sozialisation
Frank Schimmelfennig definiert „internationale Sozialisation als einen Prozess [...], durch den Staaten veranlasst werden sollen, die Grundschemata und –regeln einer internationalen Gesellschaft zu übernehmen“ (Schimmelfennig 2003a: 406). Ebenso wie Schimmelfennig in seinem Text vorgeht (vgl. ebd.: 406 – 409), möchte ich zum besseren Verständnis zunächst die einzelnen Elemente dieser Definition näher erläutern.
Der Prozesscharakter der internationalen Sozialisation ist laut Schimmelfennig in der Literatur und Wissenschaft weitgehend unbestritten, jedoch besteht die Möglichkeit, diesen entweder durch sein Ergebnis oder „vo[n seinem] Anfang her“ (ebd: 406) zu bestimmen. „Sozialisation hat demnach [entweder] stattgefunden, wenn Staaten internationale Normen übernommen haben“ (ebd.: 406) (Definition durch das Ergebnis) oder ist ein „Prozess, der darauf gerichtet ist oder das Potential besitzt, Staaten zur Normübernahme zu veranlassen“ (ebd.: 406) (Definition vom Anfang her). Bei der letzteren Bestimmung bleibt das Ergebnis des Prozesses zunächst noch völlig offen. Für den Zweck dieser Arbeit, den Einfluss der europäischen Integration auf die demokratische Sozialisation in den postkommunistischen Ländern zu beschreiben, erscheint es sinnvoller, eine Definition „vom Anfang her“ (ebd.: 406) zu verwenden, da nur eine solche es ermöglicht, den Prozess der Sozialisation als „Erklärungsfaktor für die Normübernahme zu verwenden und die Bedingungen des Erfolgs und des Scheiterns von Sozialisationsprozessen zu erkennen und zu überprüfen“ (ebd.: 406). Eine nicht mehr offene Definition durch das Ergebnis wäre im gegebenen Kontext wenig hilfreich.
Mit dem wenig konkreten Begriff „veranlasst“ signalisiert Schimmelfennig in seiner Definition, dass verschiedene Mechanismen denkbar und möglich sind, unter denen sich die Sozialisation vollziehen kann (vgl. ebd.: 406; Kapitel 2.2.).
Inhaltlich werden bei der internationalen Sozialisation vor allem Normen vermittelt, was sich im Definitionselement der Grundschemata und –regeln widerspiegelt (vgl. ebd.: 406). Unter Schemata, die neben Normen zu den Inhalten zählen, versteht Schimmelfennig Aspekte „der Kultur einer internationalen Gesellschaft“ (ebd.: 407), so dass die internationale Soziali-sation neben Regeln und Verhaltensstandards immer auch kulturelle Werte sowie Denk- und Wahrnehmungsmechanismen vermitteln soll (vgl. ebd.: 407).
Das Element der „internationalen Gesellschaft“ stellt laut Schimmelfennig eine „kulturelle und institutionelle Umwelt“ (ebd.: 407) dar, wobei mehrere unterschiedliche internationale Gesellschaften zugleich bestehen, „nebeneinander existieren und um Mitglieder konkurrieren“ (ebd.: 407) können.
Das letzte Definitionselement der internationalen Sozialisation, die Übernahme, „beschreibt einen gelungenen Sozialisationsprozess“ (ebd.: 407), der über die bloße Anwendung hinaus eine Verinnerlichung von (internationalen) Regeln und Schemata meint. „Interne Mechanismen [sollen] sicherstellen, dass der sozialisierte Akteur sich an die Grundschemata und Regeln der internationalen Gemeinschaft hält“ (ebd.: 407). Damit seien Sanktionen von außen oder andere exogene Einflüsse nicht mehr nötig (vgl. ebd.: 407). Wenn solche internen Mechanismen in einem Staat bestehen und in kritischen Situationen auch greifen, jedoch Verhaltensverstöße nicht unterbinden können, spricht Schimmelfennig von „einer partiell gelungenen Sozialisation“ (ebd.: 407).
Zusammenfassend kann man internationale Sozialisation in Anlehnung an Schimmelfennig also als einen von einer internationalen Umwelt veranlassten Prozess (erfolgreicher) Übernahme konstitutiver Grundregeln und –schemata im Sinne von Verhaltensstandards und Verhaltensweisen in Staaten verstehen.
2.2. Mechanismen und Bedingungen der Sozialisation
Wie die eben erläuterte Definition der internationalen Sozialisation impliziert, kann der Sozialisationsprozess durch unterschiedliche Mechanismen vonstatten gehen, wobei die jeweiligen Mechanismen in ihrem Auftreten ebenso wie in ihrem Erfolg oder Misserfolg von verschiedenen Bedingungen abhängen.
Anlehnend an Frank Schimmelfennig können vier Sozialisationsmechanismen klassifiziert werden, die jeweils Idealtypen darstellen (vgl. Schimmelfennig 2003a: 411) und damit vermutlich in ihrer Reinform in der Realität so nicht zu finden sein werden. Diese Mechanismen sind Imitation, Überzeugung, sozialer Druck und Verhandeln.
Bezogen auf die theoretischen Kontroversen der Rationalismus – Konstruktivismusdebatte, die in den Internationalen Beziehungen vor allem in den 1990er Jahren vorherrschte, lassen sich die Mechanismen entsprechend der „grundlegenden Unterscheidung der „konstruktivistischen“ Logik der Angemessenheit und der „rationalistischen“ Logik der Konsequenzen“ (ebd.: 410) klassifizieren. Primäres Unterscheidungskriterium ist dabei die Art und Weise, durch die „die Sozialisanden zur Übernahme von Schemata und Regeln veranlasst werden“ (ebd.: 410).
Diese vier klassifizierten Sozialisationsmechanismen mit ihren Erfolgsbedingungen werde ich im Folgenden beschreiben.
(1) Der Imitationsmechanismus folgt der Logik der Angemessenheit und
beschreibt die „Schemata und Regeln als Schablonen für angemessene Bedeutungszuschreibungen oder als Drehbücher für die Verhaltensweisen und Rollen, welche die zu sozialisierenden Staaten in der internationalen Gesellschaft einnehmen und spielen sollen“ (ebd.: 410). Die Agenten der Sozialisation stellen also Modelle von Rollen und Verhaltensweisen vor, die von den zu sozialisierenden Staaten beobachtet und in Folge dessen in eher unreflektierten Prozessen imitiert werden.
Als Erfolgsbedingungen für diesen Mechanismus der Imitation nennt Schimmelfennig „Neuheit und Unsicherheit [des sozialisierenden Staates], Dauer und Intensität des [Kontakts], Autorität der Sozialisationsagentur, Legitimität der Schemata und Regeln [sowie] Abwesenheit von verwurzelten nationalen Schemata und Regeln, die den internationalen widersprechen“ (ebd.: 412 – 413). In derart gestalteten Umwelten sollte der Imitationsmechanismus am Besten greifen können.
(2) Der Mechanismus der Überzeugung, der ebenfalls der konstruktivistisch
orientierten Logik der Angemessenheit folgt, beschreibt die zu übernehmenden Regeln und Schemata als „Geltungsansprüche, die von den Sozialisationsagenten“ (ebd.: 410) in diskursiven Argumentations- und Rechtfertigungsprozessen den Sozialisanden näher gebracht werden (vgl. ebd.: 410). Die Zielstaaten internalisieren die Regeln und Schemata dann, wenn sie sich aufgrund der „besseren Argumente [...] von der Richtigkeit der Geltungsansprüche überzeugen“ lassen (ebd.: 410).
Bedingungen für einen erfolgreichen Überzeugungsprozess sind eine „ideale[] Sprechsituation“ (ebd.: 412), die den Standards der Deliberation genügt, Autorität der Sozialisationsagenten sowie hohe Resonanz im zu sozialisierenden Staat. Ebenfalls positiv wirke sich aus, wenn der Sozialisand sich in einer unbekannten, unsicheren Umgebung befinde (vgl. ebd.: 412).
Abweichend zu dieser konstruktivistischen Logik der Angemessenheit basieren die Sozialisationsmechanismen der rationalistisch orientierten Logik der Konsequenzen auf „Anreizen zugunsten konformen Verhaltens“ (ebd.: 411).
(3) Sozialer Druck als Sozialisationsmechanismus greift auf „soziale
Anreize wie internationale Anerkennung, Statuszuwachs und Imagegewinn[]“ (ebd.: 411) zurück, wobei diese sozialen Belohnungen dem zu sozialisierenden Staat nur bei entsprechender „Übernahme der Schemata und Regeln der internationalen Gemeinschaft“ (ebd.: 411) gewährt werden. Im entgegen gesetzten Fall droht ihm soziale Bestrafung, etwa in Form von „Image- und Statusverlust, Ausgrenzung und Anprangerung (shaming)“ (ebd: 411).
Funktions- und Erfolgsbedingung für diesen Mechanismus sind eine starke Identifikation des Sozialisanden mit der Sozialisationsinstanz sowie die hohe Legitimität der Regeln und Schemata und eine funktionierende transparente Öffentlichkeit (vgl. ebd.: 413).
(4) Im Gegensatz dazu nutzt der Mechanismus des Verhandelns, auch als
Bargaining - Mechanismus bezeichnet, materielle oder politische Anreize wie finanzielle Hilfe oder Partizipationsrechte auf internationaler Ebene. Gleichsam wie beim Mechanismus des sozialen Drucks werden die politischen und materiellen Belohnungen wiederum nur dann gewährt, wenn die internationalen Schemata und Regeln angemessen übernommen werden (vgl. ebd.: 411). Dies gilt analog bei Nichterfüllen auch für Bestrafungen. Die beiden Mechanismen der rationalistischen Logik der Konsequenz arbeiten mit rationalen Kosten – Nutzen – Kalkülen. Sie versuchen keine unmittelbare „Veränderung individueller Identitäten und Interessen“ (ebd.: 411) zu erzielen, sondern streben vielmehr die ständige Erhöhung des Nutzens „konformen Verhaltens und [der] Kosten abweichenden Verhaltens für den Sozialisanden“ (ebd.: 411) an, so dass sich die Kosten – Nutzen – Kalkulation letztlich positiv auf die Übernahme internationaler Regeln und Schemata auswirkt.
Dieser Mechanismus ist auch Kernbestand und Funktionsweise der Politik der Konditionalität (vgl. Schimmelfennig 2003a: 411; 2004, Schimmelfennig u.a. 2003a + b, Schimmelfennig/Sedelmeier 2004), die in Kapitel 4 als Kernstrategie der Europäischen Union gegenüber den Staaten Mittel- und Osteuropas im Zuge der Osterweiterung erläutert wird.
Zunächst jedoch die Erfolgsbedingungen des Bargaining- oder Verhandlungsmechanismus: Entscheidend sind hier „die Verhandlungsmacht der Sozialisationsinstanz und die Glaubwürdigkeit ihrer Drohungen und Versprechen“ (Schimmelfennig 2003a: 413), ebenso wie die „Klarheit und Bestimmtheit“ (ebd.: 413) der Forderungen und eine gewisse (asymmetrische) Interdependenz zwischen Verhandlungsmacht und Sozialisand. Positiv befördert werden kann die Wirkung dann, wenn sich der Sozialisand in einer Situation der Neuartigkeit, Neuorientierung und generell der Unsicherheit befindet, in der er leichter für Einflüsse von außen offen und sensibel ist (vgl. Kneuer 2002: 254). Öffentlichkeit ist insofern als Bedingung relevant, als dass sie es erleichtert, den Fortschritt der Regelübernahme im sozialisierenden Staat zu überprüfen (vgl. Schimmelfennig 2003a: 413). Weiterhin ist eine „Gleichgerichtetheit [unterschiedlicher] internationaler Einflüsse wichtig“ (ebd.: 414), damit sich Anreize verschiedener Sozialisationsagenten nicht entgegenstehen oder aufheben. Ein bestmöglicher Erfolg dieses Mechanismus ist also zusammenfassend zu erwarten „unter den Bedingungen asymmetrischer Interdependenz zwischen einer einheitlichen internationalen Sozialisationsagentur mit einer klar definierten und glaubwürdigen Konditionalitätsstrategie und „neuen“ Staaten ohne Vetogruppen“ (ebd.: 414).
Die genannten Bedingungen der einzelnen Mechanismen sind hier idealtypisch zugeordnet, jedoch sollte betont werden, dass die „Bedingungen erfolgreicher internationaler Sozialisation vielfach quer über die Sozialisationsmechanismen hinweg von kausaler Bedeutung zu sein scheinen“ (ebd.: 415), sie gelten also zumeist für mehr als nur einen oder für alle vier Sozialisationsmechanismen.
Eine ähnliche Klassifikation von Mechanismen, nach denen internationale Institutionen, im speziellen Internationale Organisationen, Einfluss auf das Verhalten und die Politik eines Staates nehmen können, stellt Judith Kelley vor. Sie unterscheidet ebenso zwischen eher konstruktivistisch orientierten Mechanismen einerseits und den eher rationalistisch ausgerichteten Strategien andererseits. Anders als Schimmelfennig unterscheidet sie jedoch nur zwei „specific mechanisms [that] are particularly relevant“ (Kelley 2004: 428): die rationalistisch funktionierende Mitgliedschaftskonditionalität sowie die konstruktivistischen Logiken folgenden sozialisationsbasierten Mechanismen. Zu letzteren zählt sie soziale Einflüsse, etwa Reputation und, wie Schimmelfennig, den Überzeugungsmechanismus. Dabei hebt sie hervor, die rationalistischen Mechanismen zielten auf Verhaltensänderungen, die sozialisationsbasierten dagegen auf Einstellungswandel (vgl. Kelley 2004: 428).
Im weiteren wird sich diese Arbeit jedoch primär am theoretischen Rahmen Schimmelfennigs orientieren und dabei den Fokus im Besonderen auf den Sozialisationsmechanismus des Verhandelns beziehungsweise des Bargaining, setzen, da dieser als Hauptstrategie der Europäischen Union gegenüber den postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas gilt.
3. Die Europäische Union und die Osterweiterung
Zum 1. Mai 2004 traten acht postkommunistische Staaten aus Mittel- und Osteuropa der Europäischen Union als neue Vollmitglieder bei.[2] Ein solcher Beitritt ist jedoch ein langer Prozess und in seiner Vorbereitung sind viele Phasen und Stufen, wie die Umgestaltung der nationalen Politik mit Orientierung Richtung Europäischer Union, eine offiziellen Bewerbung und unzählige Verhandlungsschritte zu durchlaufen (vgl. Pridham 1999: 1221).
Bevor diese acht Staaten überhaupt mit der EU in Beitrittsverhandlungen treten konnten, waren sowohl in der EU selbst als auch – und dies vor allem – in den Staaten Mittel- und Osteuropas eine Reihe von politischen und wirtschaftlichen Bedingungen und Anpassungsmaßnahmen zu erfüllen und zu leisten (siehe dazu Kapitel 3.2. und Kapitel 4). Die Osterweiterung gilt als „einer der weitreichendsten Veränderungsprozesse“ (Schimmelfennig 2003b: 451) und als enorme Herausforderung für die Gemeinschaft der Europäischen Union, auch in Bezug auf die „Wahrung ihrer äußeren Sicherheit und inneren Leistungsfähigkeit“ (Sandschneider 1996.: 33).
Die Osterweiterung ist mit zehn neuen Gemeinschaftsmitgliedern „die größte Erweiterung“ (Schimmelfennig 2003b: 541), die je vorgenommen wurde, sie hat die Heterogenität der Gemeinschaft stark erhöht. Aufgrund der kommunistischen Vergangenheit sowie ihrer Entwicklungsniveaus unterscheiden sich die neuen Mitglieder in ihren Wirtschafts- sowie ihren sozialen Systemen grundlegend von „den westeuropäischen Modellen“ (Beichelt 2004: 9). Damit gilt die Osterweiterung als erste Erweiterung seit der Gründung der EU, die ihre wirtschaftliche Lage nicht verbessern kann (vgl. Sandschneider 1996: 32, 33). Außerdem hat der gesamte Erweiterungsprozess „gravierende Auswirkungen auf das institutionelle Gefüge und die zentralen Politikfelder der Gemeinschaft“ (Schimmelfennig 2003b: 541). Diese bedeutende Herausforderung für die Staatengemeinschaft der EU erklärt auch die neue Sorgfalt und Strenge mit der die Erweiterungsstrategien und Bedingungen aufgestellt und überwacht wurden.
Als zentrale Strategie der EU zur Heranführung der postkommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas und deren Sozialisation als demokratische und marktwirtschaftliche Staaten, die die Kriterien und Bedingungen für einen Beitritt in der Gemeinschaft der Europäischen Union erfüllen, zur demokratischen Sozialisation also, nennen Autoren wie Frank Schimmelfennig und seine Kollegen, Geoffrey Pridham oder auch Judith Kelley[3] die Politik demokratischer Konditionalität, deren Konditionen ganz entscheidend auf den Kopenhagener Kriterien und den Grundwerten der EU beruhen. Damit kann man den EU - Osterweiterungsprozess als eine „kriteriengesteuerte Erweiterung“ (Kreile 2004: 658, Lippert 2000: 133) umschreiben.
Im Folgenden werde ich nun zunächst skizzenhaft den Verlauf des Osterweiterungsprozesses der EU darstellen und dann näher auf die Grundwerte der Europäischen Gemeinschaft und die sich daraus ergebenden Kopenhagener Kriterien eingehen, deren Erfüllung grundlegende Bedingungen für die neuen Mitgliedsländer zum Beginn von Beitrittsverhandlungen ist und die als Basis der europäischen Politik der Konditionalität dienen, die im vierten Kapitel detailliert erläutert wird.
[...]
[1] Die Europäische Union (EU) wurde erst mit dem Maastrichter Vertrag (01.11.1993) als Dachorganisation über den supranationalen Europäischen Gemeinschaften (EG und EGKS) sowie den beiden intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Polizeilich und Justitiellen Zusammenarbeit (PJZS) gegründet; da die Unterscheidung hier nicht weiter von Belang ist, werden im Folgenden EU, EG und Europäische Gemeinschaft synonym verwendet
[2] Diese Länder sind: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, außerdem zum 01. Mai 2004 beigetreten: Malta und Zypern
[3] siehe dazu zum Beispiel Schimmelfennig 2003, 2004, 2005; Schimmelfennig u.a. 2003 a + b, 2005; Schimmelfennig/Sedelmeier 2004; Pridham 1999, 2002 a + b; Kelley 2004
- Citar trabajo
- Ines Kruspel (Autor), 2006, Demokratische Sozialisation durch die EU?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75514
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