„Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden. Man muss sie auch gehen lassen.“ Dieses Zitat Erich Kästners kann meiner Ansicht nach an Trefflichkeit kaum gesteigert werden. Mit „gehen lassen“ bezog er sich sicherlich auf allgemeine Freiheiten, die man Kindern in der Erziehung einfach gewähren muss, um sie zum eigenständigen Zurechtfinden in der Welt zu befähigen. Doch „gehen lassen“ lässt sich auch im Kontext der motorischen Entwicklung des Kindes verstehen, denn der Fortgang der Motorik von der vorgeburtlichen Zeit bis in die Vorschulphase – dem Zeitraum der kindlichen Entwicklung, mit dem ich mich in dieser Arbeit auseinandergesetzt habe – kann individueller nicht sein. „Gehen lassen“ appelliert an die Toleranz und Nachsicht der Eltern, ihre Kinder in Bezug auf den Verlauf der motorischen Entfaltung weder zu hindern noch zu drängen, und hin und wieder einige Eigenheiten zu akzeptieren. Denn gerade diese zeichnen das Kind in seiner Entwicklung als ganz besondere Persönlichkeit aus.
In meiner Arbeit habe ich mich im ersten Kapitel um die Klärung grundlegender Begrifflichkeiten bemüht, im zweiten Abschnitt gehe ich auf die einzelnen Phasen der kindlichen Motorikentwicklung ein. Dabei begrenze ich mich auf die oben angeführte Zeitspanne, und schließe mit dem Punkt der Einschulung, also dem Moment, an dem der Grund- oder Förderschullehrer eintritt.
Es erscheint mir als zukünftige Förderpädagogin besonders wichtig, nicht nur den unter anderem motorischen Entwicklungsstand der mir anvertrauten Kinder zu kennen, sondern darüber hinaus eine gewisse Vorstellung von dem bereits stattgefundenen Ablauf der frühkindlichen Entwicklung zu haben, um bestimmte unzureichend ausgeprägte Fähigkeiten oder Retardierungen besser verstehen zu können. Das dritte Kapitel greift individuelle Eigentümlichkeiten auf, und ich äußere mich in Ansätzen zu Ursachenhypothesen und verbreiteten Annahmen.
Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort
2 Einführung
2.1 Motorik
2.2 Motorische Entwicklung
2.3 Entwicklung
2.3.1 Reifung
2.3.2 Wachstum
2.3.3 Lernen
2.3.4 Sozialisation
3 Die motorische Entwicklung des Kindes
3.1 Pränatale Phase
3.2 Neugeborenenalter
3.3 Prinzipien der Differenzierung und Integration im Säuglings- und Kleinkindalter
3.4 Säuglingsalter
3.5 Kleinkindalter
3.6 Vorschulalter
4 Motorische Entwicklung unter dem Aspekt der Individualität
5 Quellenangaben
1 Vorwort
„Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden. Man muss sie auch gehen lassen.“ Dieses Zitat Erich Kästners kann meiner Ansicht nach an Trefflichkeit kaum gesteigert werden. Mit „gehen lassen“ bezog er sich sicherlich auf allgemeine Freiheiten, die man Kindern in der Erziehung einfach gewähren muss, um sie zum eigenständigen Zurechtfinden in der Welt zu befähigen. Doch „gehen lassen“ lässt sich auch im Kontext der motorischen Entwicklung des Kindes verstehen, denn der Fortgang der Motorik von der vorgeburtlichen Zeit bis in die Vorschulphase – dem Zeitraum der kindlichen Entwicklung, mit dem ich mich in dieser Semesterarbeit auseinandergesetzt habe – kann individueller nicht sein. „Gehen lassen“ appelliert an die Toleranz und Nachsicht der Eltern, ihre Kinder in Bezug auf den Verlauf der motorischen Entfaltung weder zu hindern noch zu drängen, und hin und wieder einige Eigenheiten zu akzeptieren. Denn gerade diese zeichnen das Kind in seiner Entwicklung als ganz besondere Persönlichkeit aus.
In meiner Semesterarbeit habe ich mich im ersten Kapitel um die Klärung grundlegender Begrifflichkeiten bemüht, im zweiten Abschnitt gehe ich auf die einzelnen Phasen der kindlichen Motorikentwicklung ein. Dabei begrenze ich mich auf die oben angeführte Zeitspanne, und schließe mit dem Punkt der Einschulung, also dem Moment, an dem der Grund- oder Förderschullehrer eintritt.
Es erscheint mir als zukünftige Förderpädagogin besonders wichtig, nicht nur den u.a. motorischen Entwicklungsstand der mir anvertrauten Kinder zu kennen, sondern darüber hinaus eine gewisse Vorstellung von dem bereits stattgefundenen Ablauf der frühkindlichen Entwicklung zu haben, um bestimmte unzureichend ausgeprägte Fähigkeiten oder Retardierungen besser verstehen zu können. Das dritte Kapitel greift individuelle Eigentümlichkeiten auf, und ich äußere mich in Ansätzen zu Ursachenhypothesen und verbreiteten Annahmen.
Mit dieser Arbeit konnte ich mir einen gewissen Überblick über den Fortlauf der Ausbildung motorischer Fertigkeiten des Kindes verschaffen, und hoffe, von dem erarbeiteten Wissen persönlich und im weiteren Studium profitieren zu können.
2 Einführung
In diesem Kapitel sollen allgemeine Begriffe und Zusammenhänge erläutert werden, die meines Erachtens für die Betrachtung der motorischen Entwicklung des Kindes unabdinglich sind.
2.1 Motorik
Der Begriff Motorik kann nach KLAUS BÖS als der Komplex sämtlicher Steuerungs- und Funktionsprozesse, denen Haltung und Bewegung zugrunde liegen, aufgefasst werden.
Eine derartige Deutung des Terminus weist auf den Sachverhalt hin, dass zahlreiche Bewegungen nur zielgerichtet umgesetzt werden können, wenn eine bestimmte Ausgangsposition eingenommen wird, und zwar durch eine entsprechende Körper- und Gliedmaßenhaltung. Das geordnete und kontrollierte Miteinander von Haltung und Bewegung sowie deren Koppelung, sind deshalb zu den elementarsten Inhalten der motorischen Systeme zu zählen. Daraus ergibt sich der Schluss, dass Haltung und Bewegung koordinierte Prozesse darstellen.
Weiterhin beinhaltet diese Begriffsumschreibung in Bezug auf BÖS die Differenzierung in Motorik sowie in Haltung und Bewegung. Dem ist große Bedeutung zuzumessen, da Bewegung im Sinne von Ortsveränderung im räumlichen und zeitlichen Sinne der Masse des (menschlichen) Körpers keinesfalls mit motorischen Vorgängen gleichgesetzt werden darf.
Diese Begriffsunterscheidung gibt jedoch noch keinen Aufschluss über die von BÖS formulierten ‚Steuerungs- und Funktionsprozesse‘. Eine Vielschichtigkeit ist diesbezüglich sichtbar, da in diesem Zusammenhang oft Begriffe wie Neuromotorik, Sensomotorik, oder etwa Psychomotorik verwendet werden.
Die Neuromotorik steht im Nexus neurophysiologischer Voraussetzung von Bewegung und Haltung. Die Sensomotorik dagegen ist auf die Korrelation sensorischer und motorischer Abläufe bezogen, d.h. aufgrund der unentbehrlichen Rolle der Sensorik als Voraussetzung für zielgerichtete Motorik und deren Wechselbeziehung, spricht man oft von sensomotorischen Prozessen. Die Psychomotorik befasst sich unterdessen mit der bewussten als auch der unbewussten Beeinflussung von Bewegungs- und Haltungsvorgängen bzw. Bewegungs- und Haltungszuständen durch psychische Vorgänge.
Als Zusammenfassung des Begriffs Motorik kann laut ROLAND SINGER/ KLAUS BÖS (1994, S. 17) gelten:
„Die Motorik umfasst also alle an der Steuerung und Kontrolle von Haltung und Bewegung beteiligten Prozesse und damit auch sensorische, perzeptive, kognitive und motivationale Vorgänge. Haltung und Bewegung resultieren aus dem Zusammenspiel multipler Subsysteme.“
2.2 Motorische Entwicklung
Motorische Entwicklung kann bezeichnet werden als
„Oberbegriff für die Ausprägung der durch Steuerung und Regelung determinierten Fähigkeiten, die sich in Prozessen des Bewegungslernens und der Bewegungskoordination bzw. Bewegungsregulation zeigen.“ (ROLAND SINGER/ KLAUS BÖS, 1994, S. 47)
Die Umsetzung der hier angesprochenen Steuerungs- und Regelprozesse erfolgt zum einen durch das motorische System, zum anderen mittels des Zentralnervensystems. Die Grundlage der menschlichen Motorik bildet das ZNS ausgesprochen zeitig, denn schon zum Zeitpunkt der Geburt ist die morphologische Entstehung des menschlichen Gehirns weitgehend abgeschlossen; jegliche Schichten, auch die für die Motorik verantwortliche kortikale Schicht, sind erkennbar.
Während der ersten postnatalen Wochen und Monate entstehen die übrigen Neuronen als auch die Verknüpfung derer. Mit dem 3. Monat nach der Geburt ist die Ausbildung neuer Nervenzellen im Gehirn abgeschlossen, und auch die Neuronenvernetzung verdichtet sich nicht mehr.
Das menschliche Zentralnervensystem setzt sich aus etwa 15 Milliarden Nervenzellen zusammen, die Anzahl der Verbindungen dieser Neuronen zu einem regelrechten Netzwerk beläuft sich auf den zehntausendfachen Wert der Nervenzellen. Eine einzige Nervenzelle ist in der Lage, 1000 Faserleitungen zu empfangen. Das Gehirn des „Biocomputers Mensch“ weist mit 6 Jahren zwischen 85 und 90 % seiner finalen Masse auf. Außerdem sind zu diesem Zeitpunkt sämtliche Windungen der Großhirnhälften vorhanden, das für die Steuerung schneller Bewegungsabläufe verantwortliche Kleinhirn ist ebenso nahezu mit dem eines Erwachsenen vergleichbar.
Der Prozess der Myelinisierung der Nervenfasern ist im Alter von 6 Jahren beendet. Bei der Myelinisierung findet ein umschlagender Wandel in der weißen Substanz des Gehirns statt, bei dem schließlich die efferenten (motorischen) Nervenfasern von einer schützenden Myelinschicht umgeben werden. Die afferenten (sensiblen) Nervenfasern sind bei der Geburt bereits myelinisiert. Auch die Faserreifung der peripheren efferenten Nervenfasern vollzieht sich im frühen Alter: mit 3 Lebensjahren werden diesbezüglich Werte Erwachsener gemessen. Noch schneller erfolgt die Reifung der afferenten Nervenfasern: die Leistungsgeschwindigkeit entspricht schon im Alter von 2 Jahren der eines Erwachsenen.
Im Kontext der motorischen Entwicklung muss auch die Hirnreifung betrachtet werden, wobei in zwei Aspekte unterteilt werden kann. Zum einen in Hinblick auf den genetischen Bauplan der Reifung, zum anderen mit Blick auf die Nutzung des ZNS. Der genetischen bestimmten Reifung werden drei Theorien zur Entstehung der Neuronenverbindungen als feste Verdrahtungen des Gehirns zugeordnet:
1. Konzept der chemischen Signale
Bei dieser Theorie wird von chemischer Affinität ausgegangen, aufgrund derer sich austreibende Nervenenden an Neuronen oder aber auch andere Zellen, wie z.B. Muskelzellen, anschließen. Diese Auffassung baut auf einem extrazellulären Nervenfaktor NGF (nerve growth factor) auf, der als verantwortlicher Träger den Prozess der Steuerung auslöst.
2. Konkurrenz von Zellen und Nervenendigungen
Dabei beruft man sich auf das Absterben von Nervenenden bzw. den Zelltod an sich als Steuerungsprozess der durch Reifung determinierten neuronalen Verbindungen. Schon in den ersten Schwangerschaftswochen werden zu jeder Muskelfaser Nervenendigungen von mehrzahligen Motoneuronen des Rückenmarks verschickt. Im Laufe der Entwicklung vollzieht sich jedoch wiederum ein Rückgang der verzweigten Enden der meisten motorischen Nervenfasern, so dass ein Axon letztendlich über eine bestimmte muskuläre Faser dominiert. Man kann sich diesen Prozess als eine Art Wettstreit verdeutlichen, bei dem das Motoneuron mit der am stärksten ausgeprägten Innervation als Sieger hervorgeht.
3. Fasergesteuerte Zellbewegung
Jeder der genannten Vorgänge findet reifungsabhängig statt und geht mit strukturellen Änderungen einher.
Wie einige Abschnitte zuvor angeführt, ist die Hirnreifung aber nicht nur aus dem Blickwinkel der genetischen Reifung, sondern auch aus dem der Nutzung des Zentralnervensystems zu sehen. Durch individuelle Erfahrungen – u.a. Wahrnehmen, Probieren, Übungslernen – im Kleinkindalter, in der Vorschulzeit, und dem beginnenden Schulalter, vollzieht sich in starkem Maße die Weiterentwicklung der Nervenfasern, aber vorrangig die Ausbildung der Schaltstellen, der Synapsen. Erst durch aktives Handeln erfolgt vor allem im sensomotorischen Bereich die Verbindung über Synapsen. Vorrangig durch die Bereiche Wahrnehmung, sensomotorische Aktivität bis einschließlich des Lernens werden
Verknüpfungen gebahnt. Daraus lässt sich ableiten, dass der Mensch in seiner Entwicklung auf Lernen angewiesen ist. Es liegt in der Natur des Menschen, sich aktiv mit der ihn umgebenden Welt auseinander zu setzen, und als Grundlage dafür müssen zahlreiche Lernangebote geschaffen werden.
In der Psychologie spricht man als Ergebnis von Lernen und Üben von Gedächtnis, Bewegungserfahrungen werden als motorisches Gedächtnis tituliert. Motorisches Lernen stellt die Basis für Entwicklung insbesondere in der Kindheit dar.
Es ist daher unsinnig, motorische Entwicklung von Reifung und Lernen oder von der menschlichen Gesamtentwicklung trennen zu wollen. Man kann also von einer psychomotorischen Entwicklung ausgehen, bei der jegliche informationsaufnehmende sowie –verarbeitende Systeme des Körpers beteiligt sind.
2.3 Entwicklung
Über einen langen Zeitraum hinweg betrachtete man Entwicklung als
„lebensalterbezogene Veränderung und ein quasi-naturwüchsiger Prozess, der mit uns ‚geschieht’ und Gesetzen folgt, die man ’entdecken’ kann.“ (ROLAND SINGER, KLAUS BÖS, 1994, S. 17).
Nur wenn folgende sechs Merkmale erfüllt waren, wurde von der tatsächlichen Entwicklung gesprochen:
1. „Sequentiality – die Veränderung zeigen ein natürliche Abfolge,
2. unidirectionality – sie verlaufen in einer Richtung,
3. end state – sie haben ein Ziel oder einen Endzustand,
4. irreversibility – ihre Abfolge ist unveränderlich,
5. bei den Veränderungen handelt es sich um qualitativ-strukturelle Transformationen, und
6. sie haben universale Gültigkeit.“ (ROLAND SINGER/ KLAUS BÖS, 1994, S. 17, nach BALTES, 1979, 21)
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- Citar trabajo
- Susann Sulzbach (Autor), 2002, Die motorische Entwicklung des Kindes, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75475