(§§ 1-4) Also wird es jetzt angebracht sein, unter wirklicher Bewahrung der Unterschiede zwischen seinen positiven und seinen negativen Eigenschaften die herausragendsten der ersteren darzustellen. Indem er die Hoheit der kaiserlichen Macht überall bewahrte, verachtete er die Volkstümlichkeit erhabenen und großen Sinnes, war ungemein sparsam bei der Verleihung höherer Würden, duldete nicht, daß viel rund um die Vermehrung der Verwaltungen erneuert wurde bis auf Weniges und begünstigte niemals den Hochmut der Militärs. Auch wurde unter ihm kein Führer zum Clarissimat befördert. Sie waren nämlich, wie auch ich mich erinnere, nur Perfectissimi. Und es begegnete einem Heermeister kein Provinzstatthalter, und er gestattete nicht, daß von diesem eine zivile Aufgabe angerührt wurde. Aber alle militärischen und zivilen Machthaber blickten immer zu den Prätorianerpräfekten nach der Sitte alter Ehrerbietung wie zum Gipfel aller Ehren. Bei der Behandlung der Soldaten war er allzu vorsichtig, ein manchmal übergenauer Untersucher der Verdienste, der die kaiserlichen Würden gewissermaßen wie nach der Goldwaage verlieh, und unter seiner Herrschaft wurde niemand plötzlich oder unbekannt eingesetzt, um irgendeinen hohen Posten im Palast zu besetzen, sondern derjenige, der nach einem Jahrzehnt seiner Ämterlaufbahn das Amt eines Marschalls oder eines Schatzmeisters oder irgendetwas Ähnliches bekleiden sollte, war wohlbekannt. Und sehr selten ereignete es sich, daß irgendjemand von den Militärs zur Verwaltung ziviler Angelegenheiten überging; dagegen wurden nur Männer, die im Kriegsstaub sich abgehärtet hatten, den Bewaffneten an die Spitze gestellt. Er war ein eifriger Arbeiter in den Wissenschaften, aber er brachte nach dem Übergang zur Verskunst nichts zustande, was der Mühe wert gewesen wäre, weil er in der Rhetorik durch seine schwache Begabung im Stich gelassen wurde.
Inhaltsverzeichnis
0. Vorbemerkungen
1. Übersetzung von 21, 16 (in Auswahl)
2. Überblick über die Charakterisierung von Gallus, Constantius und Julian bei Ammian
3. Die Charakterisierung des Constantius in 21, 16 (in Auswahl)
3.1 Situierung und Gliederung von 21, 16
3.2 Zur Form und Stellung von 21, 16
3.3 Interpretation von 21, 16 (in Auswahl)
3.3.1 Darstellung der bona
3.3.2 Darstellung der vitia
3.3.3 Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes
4. Constantius II. im Licht der antiken Geschichtsschreibung und der althistorischen Forschung
5. Literaturverzeichnis
0. Vorbemerkungen
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die Charakterisierung des Kaisers Constantius II. durch Ammianus Marcellinus näher zu untersuchen. Nach einem kurzen Überblick darüber, wie Ammian Constantius und andere Kaiser insgesamt einschätzt, liegt der Schwerpunkt auf der Analyse ausgewählter Paragraphen in Buch 21, wobei exemplarisch auch auf andere Kapitel verwiesen werden soll, die sich zum Vergleich mit 21, 16 eignen. Der lateinische Text der Res gestae wird grundsätzlich nach Seyfarth zitiert. Um den Wahrheitsgehalt der bei der Analyse gefundenen Aussagen besser einschätzen zu können, steht im Anschluß daran ein Vergleich von Ammians Urteil mit der Parallelüberlieferung und den Ergebnissen der althistorischen Forschung. Methodisch versucht die vorliegende Arbeit, sowohl literaturwissenschaftliche als auch geschichtswissenschaftliche Fragestellungen zu berücksichtigen und somit den Res gestae des Ammianus Marcellinus sowohl als Bestandteil der römischen Geschichtsschreibung als auch als Werk der spätantiken Literatur gerecht zu werden.
1. Übersetzung von 21, 16 (in Auswahl)
(§§ 1-4) Also wird es jetzt angebracht sein, unter wirklicher Bewahrung der Unterschiede zwischen seinen positiven und seinen negativen Eigenschaften die herausragendsten der ersteren darzustellen. Indem er die Hoheit der kaiserlichen Macht überall bewahrte, verachtete er die Volkstümlichkeit erhabenen und großen Sinnes, war ungemein sparsam bei der Verleihung höherer Würden, duldete nicht, daß viel rund um die Vermehrung der Verwaltungen erneuert wurde bis auf Weniges und begünstigte niemals den Hochmut der Militärs. Auch wurde unter ihm kein Führer zum Clarissimat befördert. Sie waren nämlich, wie auch ich mich erinnere, nur Perfectissimi. Und es begegnete einem Heermeister kein Provinzstatthalter, und er gestattete nicht, daß von diesem eine zivile Aufgabe angerührt wurde. Aber alle militärischen und zivilen Machthaber blickten immer zu den Prätorianerpräfekten nach der Sitte alter Ehrerbietung wie zum Gipfel aller Ehren. Bei der Behandlung der Soldaten war er allzu vorsichtig, ein manchmal übergenauer Untersucher der Verdienste, der die kaiserlichen Würden gewissermaßen wie nach der Goldwaage verlieh, und unter seiner Herrschaft wurde niemand plötzlich oder unbekannt eingesetzt, um irgendeinen hohen Posten im Palast zu besetzen, sondern derjenige, der nach einem Jahrzehnt seiner Ämterlaufbahn das Amt eines Marschalls oder eines Schatzmeisters oder irgendetwas Ähnliches bekleiden sollte, war wohlbekannt. Und sehr selten ereignete es sich, daß irgendjemand von den Militärs zur Verwaltung ziviler Angelegenheiten überging; dagegen wurden nur Männer, die im Kriegsstaub sich abgehärtet hatten, den Bewaffneten an die Spitze gestellt. Er war ein eifriger Arbeiter in den Wissenschaften, aber er brachte nach dem Übergang zur Verskunst nichts zustande, was der Mühe wert gewesen wäre, weil er in der Rhetorik durch seine schwache Begabung im Stich gelassen wurde.
(§§ 8-11) Nach der zusammenfassenden Aufzählung seiner positiven Eigenschaften, die ich in Erfahrung bringen konnte, will ich jetzt zur Darstellung seiner schlechten Eigenschaften kommen. Obwohl er in den übrigen Geschäften den Durchschnittskaisern vergleichbar war, übertraf er, wenn er ein gewisses falsches oder leichtes Anzeichen fand, jemand wolle sich die Herrschaft anmaßen, die Grausamkeit eines Caligula, eines Domitian oder eines Commodus mit Leichtigkeit, indem er unermüdlich nachforschte und dabei keinen Unterschied machte zwischen Recht und Unrecht; die Grausamkeit dieser Kaiser ahmte er zu Beginn seiner Herrschaft nach und rottete alle, die ihm durch Blut und Verwandtschaft verbunden waren, mit Stumpf und Stiel aus. Zu dem Leid der Unglücklichen, die wegen Schädigung oder Beleidigung seiner Majestät denunziert wurden, kam noch seine Bitterkeit und sein Jähzorn sowie seine Verdächtigungen gegen alles Derartige. Und wenn etwas Derartiges ruchbar wurde, erhob er sich heftiger als recht ist zu Untersuchungen, setzte für diese Streitfälle unerbittliche Richter ein und versuchte, wenn es die Natur gestattete, daß bei einigen zu Bestrafenden der Tod länger hinausgezögert wurde, er war in Teilen derartiger Rechtsfälle sogar grausamer als Gallienus. Jener nämlich war oft das Ziel häufiger und tatsächlicher Anschläge von Empörern: von Anschlägen des Aureolus, des Postumus, des Ingenuus und des Valens, der den Beinamen Thessalonicus trug, und vieler anderer, und doch bestrafte er todeswürdige Verbrechen manchmal milder. Dieser jedoch setzte es durch, daß man Erfundenes oder Zweifelhaftes als vollkommen gewiß ansah, durch die Gewalt allzu schwerer Folterungen. In derartigen Rechtsfällen haßte er das Gerechte mit tödlichem Haß, obwohl er sehr darauf hinarbeitete, als gerecht und milde zu gelten. Und wie die aus einem trockenen Wald fliegenden Funken durch ein leichtes Wehen der Winde bis zu den Gefahren der Dörfer der Landleute in einem unaufhaltsamen Weg gelangen, so erregte jener aus den geringsten Anlässen unzählige Leiden, jenem wahrhaftigen Kaiser Marcus unähnlich, der, nachdem Cassius in Syrien sich an die Spitze der kaiserlichen Macht gesetzt hatte, ein Bündel Briefe noch versiegelt verbrennen ließ, das von ihm an Mitwisser geschickt worden war und die ihm sofort nach Ergreifung des Boten übergeben worden waren; er hielt sich damals in Illyricum auf, damit sich nicht einige wider seinen Willen nach Erkennen derer, die die Anschläge verübten, in seiner Ungnade befinden konnten.
(§ 15) Wenn dieser Kaiser auch in auswärtigen Kriegen verwundet und geschlagen war, so war er doch wegen der erfolgreich verlaufener Bürgerkriege aufgebläht und durchströmt vom furchtbaren Eiter aufgrund der inneren Geschwüre des Staates. Aus diesem verwerflichen Grund und mehr als aus einem gerechten und üblichen errichtete er Triumphbögen nach dem Ruin der Provinzen in Gallien und Pannonien, nachdem er sie mit Inschriften über seine Taten versehen hatte für die Menschen, die von ihm lesen sollten, solange die Denkmäler stehen konnten.
(§ 19) Er war von solcher Figur und von solchem Körperbau: brünett, mit emporgerichtetem Blick und scharf blickend, von weichem Haar, von gründlich rasierten Wangen, die schmuckvoll glänzten, ein wenig zu lang von der Gegend des Halses selbst bis zur Scham; er hatte sehr kurze und gebogene Beine, weswegen er im Sprung und Lauf sehr gut war.
2. Überblick über die Charakterisierung von Gallus, Constantius und Julian bei Ammian
Die Charakterisierung des Kaisers Constantius durch Ammian darf nicht isoliert von der der anderen Kaiser gesehen werden. Da die Darstellungen der einzelnen Kaiser, wie dies später noch an einigen Punkten gezeigt werden wird, bisweilen rein formale oder inhaltliche Übereinstimmungen beziehungsweise Entsprechungen aufweisen, lohnt es sich, einen vergleichenden Blick auf den Standpunkt Ammians zu werfen, was den Charakter der im Laufe des Seminars behandelten Kaiser Gallus, Constantius und Julian betrifft. In seiner Dissertation hat Pauw versucht, durch eine Einteilung der Charakterisierungsmethoden in mehrere direkte und indirekte Verfahren einerseits und positive, negative und neutrale Charakterisierungen andererseits einen in Zahlen ausgedrückten Überblick zu geben. Wenigstens für eine grobe Übersicht sollten die vorliegenden Zahlen genügen, ohne Anspruch auf absolute Genauigkeit zu erheben.[1] Festzustellen ist, daß Gallus von den drei hier betrachteten Kaisern am schlechtesten beurteilt wird; über 90 Prozent der ihn betreffenden Charakterisierungen sind negativer Natur. Deutlich differenzierter dagegen erscheint das Bild des Constantius, der immerhin in zwanzig Prozent der Fälle mit guten Eigenschaften gesehen wird, auch wenn diesem Wert 70 Prozent negative Charaktereigenschaften gegenüberstehen. Ein Vergleich zwischen diesen Gesamtwerten und den Verhältnissen innerhalb des Nekrologs von Buch 21, 16 zeigt, daß das Verhältnis guter und schlechter Charakterisierungen in beiden Fällen zumindest sehr ähnlich ist. Julian schließlich, der dem Modell des Idealkaisers sehr nahe kommt, erfährt in etwa 90 Prozent der Fälle Zustimmung.
Doch welche Schlußfolgerungen lassen sich nun aus diesen Angaben ziehen? Die eindeutigen Zahlenwerte legen nahe, daß es Ammian wohl nicht einzig darauf ankam, ein objektives Bild von den einzelnen Kaisern zu zeichnen, sondern daß eine klare Schematisierung stattgefunden hat und sowohl Constantius als auch besonders Gallus immer vor dem Hintergrund des Kaisers Julian zu sehen ist; die Fehler, die bei Constantius und Gallus qualitativ und quantitativ vorhanden sind und bei Julian nun gerade fehlen, lassen den Letzteren in einem umso besseren Licht erscheinen. In der Darstellungsform, die Ammian gewählt hat, gewinnt also ein Kaiser jeweils sein scharfes Profil erst vor dem Hintergrund der anderen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist ein Teil der negativen Eigenschaften von Constantius und Gallus auch darauf zurückzuführen, daß Ammian die Charakterisierungen jeweils literarisch ausgestaltet, sich dabei an historiographischen Traditionen orientiert und sich daher der Tyrannentopik bedient hat. Diese beiden Faktoren sind neben anderen zu berücksichtigen, will man die Frage analysieren, wie wahrheitsgemäß Constantius von Ammian charakterisiert wird, wobei dabei auch die Parallelüberlieferungen aus der Antike sowie die Ergebnisse der althistorischen Forschung berücksichtigt werden müssen, wie dies an späterer Stelle geschehen wird.
[...]
[1] zu den folgenden Zahlenangaben vgl. Pauw (1972), S. 177
- Arbeit zitieren
- Mark Möst (Autor:in), 2003, Die Charakterisierung des Kaisers Constantius II. in Ammianus Marcellinus, "Res gestae" 21, 16, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75315
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