1. Einleitung
Als langjähriger Direktor der Universitätsklinik Tübingen, hat Alfred Nitschke eine Reihe von Aufsätzen über Grundphänomene kindlicher Lebenssituationen geschrieben. Basierend auf etlichen, langjährigen, ärztlichen Beobachtungen hat Nitschke auffällige Verhaltensformen seiner zu behandelnden Kinder zum Ausgangspunkt einer anthropologischen Deutung des Kindseins gemacht. Seine Aufsätze sind in den 50er Jahren entstanden und sein Sohn August Nitschke hat diese gesammelt und 1962 in dem Buch „Das verwaiste Kind der Natur“ veröffentlicht. Nitschke wollte aus seinen Krankheitsgeschichten keine allgemeingültigen Maxime ziehen, sondern das Beobachtete wissenschaftlich interpretieren, und auch seine Hörer und Leser dazu animieren, selbst Phänomene wahrzunehmen und durch die anschließende geistige Beschäftigung mit dem Wahrgenommenen auf interessante Gedanken zu stoßen. Entscheidend ist, dass man nicht allein auf Grund von Erfahrung und Beobachtung voreilige Schlüsse zieht.
Bevor ich einige Fallgeschichten aus Nitschkes ärztlichen Beobachtungen erläutern und pädagogisch interpretieren werde, ist es notwendig sich zunächst mit den grundlegenden, menschlichen Eigenarten und natürlichen Verhaltensmustern des Menschen auseinanderzusetzen. Alfred Nitschke beruft sich auf Wissenschaftler und Verhaltensforscher wie Adolf Portmann, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen und Helmut Plessner. Der Begriff „das verwaiste Kind der Natur“ stammt ursprünglich von Herder – Nitschke hat diesen Ausdruck wie folgt umschrieben: „Wäre der Mensch auf sich allein gestellt, dann bliebe er, verglichen mit dem Tier, über Jahre hin hilflos und wäre dem Elend preisgegeben“ (Nitschke, S. 18).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die unterschiedlichen Welterfahrungen bei Mensch und Tier
3. Wie das Kind sich die Welt erschließt
4. Die Bedeutung der Familie für die frühe Kindheit
4.1. Fallbeispiel: aufopfernde Schwester
5. Verlust des Hauses & Vertrauen der Dinge
5.1. Fallbeispiel: abgebrannter Hof
6. Hysterie und Hypochondrie
6.1. Fallbeispiel: Hysterie
6.2. Fallbeispiel: Hypochondrie
7. Die Macht der Vorbilder – ungewöhnliche Auswirkungen auf die kindliche Motorik
7.1. Fallbeispiel: hinkendes Kind
7.2. Fallbeispiel: außergewöhnliches Vorbild
8. Abschließende Gedanken
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als langjähriger Direktor der Universitätsklinik Tübingen, hat Alfred Nitschke eine Reihe von Aufsätzen über Grundphänomene kindlicher Lebenssituationen geschrieben. Basierend auf etlichen, langjährigen, ärztlichen Beobachtungen hat Nitschke auffällige Verhaltensformen seiner zu behandelnden Kinder zum Ausgangspunkt einer anthropologischen Deutung des Kindseins gemacht. Seine Aufsätze sind in den 50er Jahren entstanden und sein Sohn August Nitschke hat diese gesammelt und 1962 in dem Buch „Das verwaiste Kind der Natur“ veröffentlicht. Nitschke wollte aus seinen Krankheitsgeschichten keine allgemeingültigen Maxime ziehen, sondern das Beobachtete wissenschaftlich interpretieren, und auch seine Hörer und Leser dazu animieren, selbst Phänomene wahrzunehmen und durch die anschließende geistige Beschäftigung mit dem Wahrgenommenen auf interessante Gedanken zu stoßen. Entscheidend ist, dass man nicht allein auf Grund von Erfahrung und Beobachtung voreilige Schlüsse zieht.
Bevor ich einige Fallgeschichten aus Nitschkes ärztlichen Beobachtungen erläutern und pädagogisch interpretieren werde, ist es notwendig sich zunächst mit den grundlegenden, menschlichen Eigenarten und natürlichen Verhaltensmustern des Menschen auseinander-zusetzen. Alfred Nitschke beruft sich auf Wissenschaftler und Verhaltensforscher wie Adolf Portmann, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen und Helmut Plessner. Der Begriff „das verwaiste Kind der Natur“ stammt ursprünglich von Herder – Nitschke hat diesen Ausdruck wie folgt umschrieben: „Wäre der Mensch auf sich allein gestellt, dann bliebe er, verglichen mit dem Tier, über Jahre hin hilflos und wäre dem Elend preisgegeben“ (Nitschke, S. 18).
Erst durch den Vergleich des Menschen mit dem Tier werden seine Einzigartigkeit und seine Sonderstellung in der Welt bewusst, deshalb wird im Folgenden bei der Betrachtung der unterschiedlichen Welterfahrungen auch komparativ vorgegangen.
2. Die unterschiedlichen Welterfahrungen bei Mensch und Tier
Wird ein Mensch geboren, so ist er körperlich weitesgehendst fertig ausgebildet, abgesehen von seinen Sexualfunktionen. „In psychischer Hinsicht hingegen ist das Neugeborene noch ganz undifferenziert. Es ist ihm nicht anzusehen, was aus ihm wird, zu welcher Persönlichkeit es heranreift“ (Nitschke, S. 144).Ein Tier, das auf die Welt kommt – egal ob Nesthocker oder Nestflüchter – ist ebenfalls körperlich größtenteils fertig und lebenstüchtig. Allerdings ist sein Weltbild schon vorbestimmt durch die Gesamtheit seiner Auslöser. Durch bestimmte Reize wird ein bestimmtes Verhalten ausgelöst, das innerhalb einer Tiergattung immer gleich ablläuft. Der Mensch handelt nur sehr bedingt nach Instinkten, und er verhält sich auch nur sehr eingeschränkt und hauptsächlich in den ersten Lebensmonaten nach Reiz – Reaktionsmechanismen, siehe z.B. den Greif – oder Saugreflex.Weiterhin ist das Bild des Menschen von der Welt, das er zu Anfang seines Lebens hat keineswegs fertig, man könnte sogar sagen, dass es eigentlich noch gar nicht existent ist. Er muss sich sein Weltbild erst im Laufe seines Lebens selbstständig erwerben. Die Welt setzt sich zusammen aus unzählbar vielen Bedeutungsträgern. Jedes Ding, jeder Gegenstand in der Umwelt eines Menschen, trägt eine bestimmte, individuelle Bedeutung für jeden Einzelnen. Es gibt für den Menschen keine angeborenen Bedeutungsträger. Jeder Bedeutungsträger muss erst zu einem solchen werden; selbst der gleiche Gegenstand kann für jedes Individuum einen anderen Gehalt haben; außerdem ist der Mensch nicht an einen Bedeutungsträger gebunden. Für das Tier gibt es angeborene Bedeutungsträger, die als Auslöser fungieren und es in der entsprechenden Situation „richtig“ handeln lassen.
Nun ist die Frage: Wie wird ein unbekannter Gegenstand für das Kind zu einem Bedeutungsträger? Die Antwort liegt in unseren Sinnen, wobei nicht nur Nitschke vorallem den Tastsinn in den Vordergrund stellt. „ Das Greifen der Dinge ist - [...] - in der Ontogenese Voraussetzung für ihr Begreifen. Nur das Ergriffene lässt sich nach Belieben explorieren, und die Sache wird (in ihrer Form, ihrem Volumen, ihrer Schwere, Härte, Feuchtigkeit, Formbarkeit, Zerbrechlichkeit, usw.) dem Greifenden in einer Evidenz erkenntlich, die durch bloßes Hinsehen niemals erreichbar ist. Alles Erkennen beginnt mit dem, was << mit den Händen zu greifen >> ist“ (Pohlmann, S. 63).
Weiterhin ist der Mensch als einziges Lebewesen dazu in der Lage einer Sache, einem Ding, und auch sich selbst mit einer gewissen Distanz entgegenzutreten. Einzig und allein diese Distanz befähigt ihn auch den Gehalt eines Dings zu erfassen. Nur so kann der Mensch die Welt erfahren und sie sich erschließen. Er weiß, dass er ein Mensch ist, er weiß, dass er lebt und dass er sterben wird, und er weiß auch, dass es immer ein morgen geben wird. All das macht die einzigartige, exzentrische Position des Menschen aus - wie Plessner sie bezeichnet hat - im Gegensatz zur zentrischen Position des Tieres. „ Das Tier steht in einem unvermit-telten Wirklichkeitsbezug: es nimmt unter erheblichen perspektivischen Verkürzungen konkret Gegebenes wahr und reagiert instinktiv oder aufgrund von Lernleistungen darauf; dem Menschen hingegen gelingt ein denkendes Erfassen und Bewältigen der Wirklichkeit, was nicht nur Rückblicke, sondern auch planendes Vorausdenken, Fragen, Zweifeln, Begriffsbildung und dgl. beinhaltet“ (Hamann, S. 103).
Wir wissen, dass der Mensch auch bedingt nach Trieben handelt, doch hat er im Gegensatz zum Tier die Möglichkeit, Distanz zwischen Antrieb und Handlung einzulegen, z.B. muss er nicht essen, wenn er Hunger hat und ein Steak vor ihm liegt. Eine derartige Verhaltensweise ist dem Tier nicht vorbehalten.
Der Tastsinn wurde vorhin schon als der wichtigste Sinn auf dem Weg zur Welterschließung hervorgehoben. Selbstverständlich tragen die anderen Sinne mit ihren jeweiligen, unersetzbaren Funktionen auch entscheidend zur Erfassung der Welt bei. Doch letztendlich ist der Mensch darauf angewiesen aktiv zu handeln. Denn „ Seine ursprüngliche Natur ist sein handelndes Wesen. Handlung heißt mit einem anderen Wort : Motorik, genauer gesagt : Willkürmotorik. Alles was der erwachsene Mensch schließlich erhalten hat, erworben hat, erhält er über die Motorik“ (Nitschke, S. 109). Die Motorik des Menschen ist zwar nicht so vollkommen wie die eines Tieres, aber dafür ist sie unendlich vielfältig, und hat bei jedem Menschen eine ganz spezifische, individuelle Note. Die einzigartige Motorik eines jeden Menschen drückt auch ein Stück seines individuellen Charakters aus.
Es stellt sich nun die Frage, was dieses treibende Element ist, dass das Kind dazu bewegt über all die Anstrengungen und Unannehmlichkeiten, die unvermeidlich zur Welterschließung dazugehören, hinwegsieht, und Stück für Stück, fast automatisiert, die Welt für sich erobert. Vielleicht liegt es daran, dass es sich nicht des vollen, gewaltigen Umfangs an Dingen, die es noch lernen muss, bewusst ist. Nitschke unterstellt diesem treibenden Element eine Bedingung, nämlich meint er, dass nur wenn die Welt dem Kind freundlich entgegentritt, das Kind das Verlangen hat, diese Welt erschließen zu wollen. Dabei schreibt er der Mutter – Kind – Beziehung eine unheimlich entscheidende Rolle zu (vgl. Nitschke, S. 198).
Das nächste Kapitel wird sich noch genauer mit den einzelnen Stufen der Welterschließung beschäftigen.
3. Wie das Kind sich die Welt erschließt
Vorhin wurde schon angesprochen, dass zwar der Körper eines Neugeborenen nach der Geburt ziemlich fertig ist, jedoch die Psyche des jungen Menschen sich noch keineswegs entwicklen konnte. Das Kind hat noch gar keinen Charakter, es ist ein unbeschriebenes Blatt. Wissenschaftler sind sich noch heute darüber uneinig, welche charakterlichen Eigenschaften angeboren sind, und wie groß die Macht der äußerlichen Umwelteinflüsse eigentlich wirklich ist. Wahrscheinlich ist es die Mischung beider Faktoren, die den einzigartigen Charakter jedes Menschen hervorbringt. Jede Anlage einer bestimmten Fähigkeit bietet auch immer nur die Möglichkeit zum Erlernen oder Ausprägen dieser Fähigkeit; wie sich die Anlagen dann tatsächlich entwickeln ist eine Frage der äußerlichen Einwirkungen.
Auf dem Weg der Charakterbildung und Ausformung der individuellen Fähig - und Fertigkeiten, muss das Kind zunächst lernen sich außerhalb der anfänglichen Instinkthand-lungen wie >>saugen, schlucken, trinken<< erstmals geordenet zu bewegen, nämlich Dinge zu fixieren.
„ Was dem Fixieren zugrunde liegt, ist die erwachende Aufmerksamkeit oder – was sich im Fixieren ausdrückt – die vorhandene Aufmerksamkeit. Jedes motorische Phänomen repräsen-tiert einen gewissen geistigen Gehalt. Es sind geistige und motorische Phänomene unbedingt und unlösbar aneinander gekoppelt, und zwar so sehr, daß wir bei jedem Kind, bei welchem das Fixieren ausbleibt, wenn also das Kind mit 5-8-10 Wochen noch nicht fixiert und es nicht blind ist, sagen können, daß das Kind geistig nicht in Ordnung ist“ (Nitschke, S. 147).
Die zweite Stufe der ersten koordinierten Bewegungen ist die Stufe des Lächelns. Wenn die Mutter ihr Kind anlächelt, vermittelt sie ihm ein Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit, das Kind lächelt zurück, wenn dieses Gefühl bei ihm angekommen ist. Es findet ein wichtiger Austausch zwischen Mutter und Kind statt.
Daraufhin erfolgt das Greifen. Das Kind greift in seine Umwelt hinüber, es erfasst sich die Welt durch seinen Tastsinn. Dass dieser Sinn in diesem
Zusammenhang eine enorm wichtige Rolle spielt, wurde oben schon ausführlich erläutert.
Es folgen noch die Stufen : Sitzen, Stehen, Laufen und Sprechen.
Jede einzelne Stufe sollte von dem Kind zu bestimmten, etwaigen Zeitpunkten bewältigt werden. Falls sich diese Bewältigung zu stark verzögert, ist meist davon auszugehen, dass etwas mit dem Kind nicht in Ordnung ist.
Vorhin kam schoneinmal dieses treibene Element zur Sprache, dass das Kind dazu bewegt, sich überhapt bewegen zu wollen, und all diese Dinge zu lernen. Von großem Vorteil dabei ist, dass das Kind Freude daran hat, sich zu bewegen, seine Mitmenschen zu beobachten, nachzuahmen und zu lernen. Weil das Kind noch nichts gewohnt ist, also Gewohnheit gar nicht kennt, ist für es alles neu und spannend. Da das kleine Kind noch nicht reflektierend handeln und denken kann, fehlt ihm jedes „zu – sich – selbst - Stellung – nehmen“ und es ist ganz nach außen gerichtet, vollkommen weltoffen. Die Tasache, dass die ganze Welt dem Kind fremd und neu entgegentritt, fordert notwendigerweise einen Gegenpol, der dem Kind eine vertraute Stütze ist, und auf den es sich immer verlassen kann, wenn das ständig Neue ihn einmal überfordert und ihm Angst macht. Eine solche Stütze verkörpert sich meist durch die Eltern und das Zuhause. Was passieren kann, wenn derartige Stützen verschwinden oder noch nie existent waren, werde ich an den folgenden Fallgeschichten näher erläutern.
[...]
- Arbeit zitieren
- Irena Eppler (Autor:in), 2005, Zu: Alfred Nitschke - "Das verwaiste Kind der Natur", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75308
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