Diese Arbeit zeigt eine Bestandsaufnahme der Theorien der werkimmanenten Interpretation, vor allem zum Zeitpunkt nach 1945.
Im Rahmen des Seminars „Was ist Literatur?“ soll primär die Frage geklärt werden, was die literaturwissenschaftliche Methode der Werkimmanenz von anderen Interpretationstheorien abgrenzt, im speziellen in Bezug auf das Kriterium des Autors. Eingegangen wird bei dieser Untersuchung hauptsächlich auf die Thesen der beiden Hauptvertreter Emil Staiger und Wolfgang Kayser.
1 Inhaltsverzeichnis
2 Prolog
3 Rekonstruktion eines historischen Augenblicks - Die Situation des germanistischen Wissenschaftsbereichs nach der Niederlage 1945
4 Analyse differenzierter Ansätze der werkimmanenten Interpretation
4.1 Emil Staiger
4.2 Wolfgang Kayser
5 Charakteristik der Werkimmanenz
5.1 Konfrontation der diskutierten Texte
5.2 Kernpunkte der Forschungsliteratur
5.3 Der Faktor Goethe
6 Abschließende Betrachtung
6.1 Leistungen und Kritikpunkte
6.2 Persönlicher Kommentar
7 Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.2 Literatur
7.3 Internetquellen
2 Prolog
„Fast ein halbes Jahrhundert liegt nun zurück, was ich in der Zeit um und nach 1945 erlebte, so weit, dass ich von dem Soldaten, der im Februar jenes Jahres 19 Jahre alt geworden war, gern in der distanzierenden, die kritische Beobachtung unterstützenden Er-Form spreche.[1]“
Das schreibt der Literaturhistoriker Karl Otto Conrady[2] einführend zu einem Aufsatz zur Situation des Jahres 1945.
Allein diesen einen Satz könnte man als Synonym dafür nehmen, wie die deutsche Nachkriegsgeneration sich selber sah – als vom Schicksal für schreckliche Verbrechen benutzte Individuen, ohne Möglichkeit zu entkommen, es einfach nur erduldend, bis es vorbei ist.
Wäre der Mensch nicht ein Meister der Verdrängung, so würde er nicht unbefangen leben können. Auch so reagierten die Menschen nach 1945, mit Schweigen über die deutsche Vergangenheit. Conrady beschreibt es exemplarisch an seiner eigenen Person: „Meine Wahl der Fächer Deutsch und Latein (…) hing damals gewiß damit zusammen, dass es mir schien, als könnte ich in ihnen gegen die Zumutungen der politischen Zeitgeschichte abgeschirmt sein, die die eigene kurze Lebensvergangenheit so heftig gebeutelt und lädiert hatten[3].“
Diese Arbeit zeigt eine Bestandsaufnahme der Theorien der werkimmanenten Interpretation, vor allem zum Zeitpunkt nach 1945.
Im Rahmen des Seminars „Was ist Literatur?“ soll primär die Frage geklärt werden, was die literaturwissenschaftliche Methode der Werkimmanenz von anderen Interpretationstheorien abgrenzt, im speziellen in Bezug auf das Kriterium des Autors. Eingegangen wird bei dieser Untersuchung hauptsächlich auf die Thesen der beiden Hauptvertreter Emil Staiger und Wolfgang Kayser.
Dabei wird zum einen Emil Staigers Text Die Kunst der Interpretation als Untersuchungs-basis genutzt. Dem gegenüber werden die Kapitel „Vorwort, Einführung – Der Gegenstand der Literaturwissenschaft (in Auszügen), Philologische Voraussetzung – Ermittlung des Autors, Der Gehalt – Deutung durch den Dichter, Der Gehalt – Grenzen der Methode“ aus Wolfgang Kaysers Publikation Das sprachliche Kunstwerk durchleuchtet.
Des Weiteren wird der historisch-politische Ursprung der Werkimmanenz aufgezeigt.
Aus Gründen des Umfangs dieser Analyse konnte leider nicht auf viele weitere Einfluss habende Vertreter der Werkimmanenz, wie Käte Hamburger, Erich Trunz, Benno von Wiese, Eberhard Lämmert und Franz Karl Stanzel, eingegangen werden, genauso wenig wie auf den literaturwissenschaftlichen Austausch Staigers mit Martin Heidegger.
3 Rekonstruktion eines historischen Augenblicks - Die Situation des germanistischen Wissenschafts- bereichs nach der Niederlage 1945
Der Sieg der alliierten Mächte über das deutsche Reich 1945 zog eine innenpolitische Neuordnung Deutschlands nach sich, die vor allem die akademischen Bereiche betraf. Die angestrebte Entnazifizierung war dabei zwar die primäre Voraussetzung der Siegermächte, jedoch ließ sie sich kurz nach dem Kriegsende kaum Umsetzen. Mehrere Tatsachen kamen dabei zum Tragen, die die prekäre Lage der wissenschaftlichen Landschaft zum damaligen Zeitpunkt – in diesem Fall der deutschen Philologie – aufzeigten. „Daß die Germanistik nach der militärischen Niederlage des deutschen Faschismus (…) keinen sofortigen Positionswechsel vollzog und an eine ideologische Bewältigung ihrer unrühmlichen Vergangenheit ging[4]“, hing vor allem an der personellen Situation. Die beschreibt Eberhard Lämmert so: „Neue Gesichter unter den Professoren waren 1946 noch so gut wie nicht anzutreffen (…)[5]“.
Germanisten, die sich dem Willen des Dritten Reiches nicht beugen wollten, waren entweder exekutiert worden oder ins Exil geflohen. Zahlreiche jener Wissenschaftler, die sich ins Ausland absetzen konnten, blieben auch nach 1945 dort. Des Weiteren waren während des Krieges zahlreiche Forscher an der Front gefallen. Hinzu kam außerdem noch die sehr geringe Anzahl an habilitiertem Nachwuchs. So kam es nach dem Ende des Krieges dazu, dass die Siegermächte in den Besatzungszonen meist keine Wahl bei der Besetzung von Lehrstühlen hatten. Der Kasseler Germanist und Historiker Jost Hermand beschreibt die Situation wie folgt:
„ (…) sahen sich die von den Alliierten (…) eingesetzten Universitätsrektoren dazu gezwungen, viele der durch ihre völkische und später nationalsozialistische Gesinnung kompromittierten Professoren im Amt zu belassen.[6]“
Auch anfänglich suspendierte Professoren wurden nach einiger Zeit – mangels Ersatz – wieder eingesetzt. In der Folgezeit, so beschreibt es Hermand, waren politische Äußerungen, egal welcher Art, auf universitärer Ebene kaum auszumachen oder zu entdecken. In der Germanistik verlegte man die Schwerpunkte auf klassische und mittelalterliche Werke, also thematische Inhalte, die nicht faschistisch berührt waren und voller Werte wie Ehre und Religiosität steckten.
In diesen personellen Problemen, obwohl ein „radikaler Ausschluß aller belasteten Hochschullehrer eine Katastrophe des akademischen Unterrichts bewirkt hätte[7]“, sieht Walter Müller-Seidel die Geburt der Kontinuitäts-Theorie der Germanistik gegenüber dem Neubeginn der Politik, die kaum Persönlichkeiten mit nationalsozialistischem Hintergrund mehr zum Vorschein brachte.
Die ersten Studentengenerationen in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hinterfragten ebenfalls nicht die jüngste Vergangenheit. Sie suchten nach „höheren Werten[8]“, nach Vorgaben, nach denen sie sich in der Zukunft orientieren und richten konnten. Die Literaturwissenschaft wurde folglich stärker als Geisteswissenschaft gesehen, d.h. der Geist wurde als höchstes und wichtigstes Gut der Forschung wieder entdeckt, unantastbar durch Materialismus und historische Geschehnisse. Danach waren der Krieg und der Nationalismus zwar schreckliche Ereignisse, aber von der Wissenschaft nicht mit Definition wie Schuld belegt, sondern als „Schicksal“ anzusehen[9]. Der Zeitraum, in die Herrschaft der Nationalsozialisten fällt, sei demnach der Bruch einer Kontinuität, die Folge ein „der politischen und gesellschaftlichen Realität enthobener Geist[10]“. Journalistische und literarische Bezeichnungen der Nachkriegszeit würden das mit Überschriften wie „Rückkehr ins Lehramt“ und „Wiederaufbau“ deutlich zeigen[11].
Die Beschreibung des „Kahlschlags“ wird begründet von Wolfgang Weyrauch, Mitglied der Gruppe 47. Deren Gründer, Hans Werner Richter, bezeichnet die Nachkriegsliteratur als „die Reduzierung der Sprache auf das Notwendigste, eine Abkehr vom Leerlauf der schönen Worte und eine Hinwendung zu ihrem unmittelbaren Realitätsbezug“[12]. Dass dieser Realitätsbezug in der Folgezeit nicht unbedingt seinen Einzug in die literaturwissenschaftlichen Kreise fand, wird diese Forschungsarbeit klar aufzeigen.
Jedoch war auch schon kurz nach dem Kriegsende vereinzelt der Versuch zu entdecken, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzten. So sieht sich Karl Otto Conrady hin- und hergerissen zwischen einer Welt des Geistes und der Konfrontation mit der präsenten Wirklichkeit, die sich „neu formiert und aus der Betäubung erwacht“[13].
Der emigrierte Literaturwissenschaftler Egon Schwarz sieht den Zwiespalt der Germanistik, in der sich jene 1945 befindet: „Die des Ausgesetztseins an eine übermächtige geschichtliche Macht und die vom Eigenrecht des literarischen Werks.[14]“ Die Aufgabe der darauf folgenden Jahre bezeichnet er als das Zusammenbringen von Literaturwissenschaft und Alltag, von Biographie und Beruf[15].
Die Methode der Werkimmanenz wurde fortan in der Literaturwissenschaft genutzt und fand ihre Definition in knapp 170 Publikationen zwischen 1945 und 1968[16]. Erst geraume Zeit später setzte die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ein und sorgte für eine Absetzung der werkimmanenten Methode.
Vor allem der Münchner Germanistentag 1966 trug dazu bei, auf dem die seit 1964 aufkeimende Diskussion über die Funktion der Germanistik im Dritten Reich ihren Höhepunkt fand[17].
4 Analyse differenzierter Ansätze der werkimmanenten Interpretation
4.1 Emil Staiger
Emil Staiger wurde am 8. Februar 1908 in Kreuzlingen geboren und starb 1987 im Alter von 79 Jahren in Horgen am 28. April.
Im Jahr 1932 promovierte er mit einer Arbeit über Anette von Droste-Hülshoff an der Universität Zürich, wo er später auch lange Zeit als Professor für Germanistik arbeitete. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen Grundbegriffe der Poetik[18] und die Kunst der Interpretation[19].
Staigers werkimmanente Position der Textanalyse lässt ihn die Arbeitsbereiche, welche bei der Untersuchung eines Textes zu beachten und zu gebrauchen sind, in ganz unterschiedliche wissenschaftliche Gebiete gliedern. Der Germanist ist für die Untersuchung der Verwirklichung von Sprache[20] und alleine für die „Worte des Dichters[21]“ zuständig. Die Biographie des Autors hat dabei keinen Einfluss auf die Werkinterpretation und sei somit aus der deutschen Philologie auszugliedern in die Geschichtswissenschaft – die Erforschung der Persönlichkeit des Schriftstellers sei sogar eine Angelegenheit der Psychologie. Zur genauen Vorgehensweise der Literaturwissenschaft schreibt Staiger:
„Nur wer interpretiere, ohne nach rechts und nach links und besonders ohne hinter die Dichtung zu sehen, lasse ihr volle Gerechtigkeit widerfahren und wahre die Souveränität der deutschen Literaturwissenschaft.[22]“
Allerdings ist er sich der Schwierigkeit bewusst, literarische Texte in der richtigen Art und Weise zu deuten, da Dichtung nicht rational sei, sich also wissenschaftlich kaum darstellen lasse[23]. Um an einem Gedicht zu „begreifen, was uns ergreift[24]“ muss man sich laut Staiger nicht auf literarische Werkzeuge wie Syntax, Metrik oder Motiv besinnen, sondern auf sein eigenes „privates Gefühl[25]“.
Staiger sieht in dem Gefühl, welches man beim Lesen einer Dichtung empfindet, einen Gradmesser der Qualität der nachfolgenden Interpretation. Berührt der Text den Leser nicht, so reflektiere er lediglich Angelerntes auf das Werk um es schablonenhaft zu erläutern. Die Leidenschaft hingegen, die der Rezipient einem Werk gegenüber erbringt, das ihn anspricht, sieht Staiger als die wahre Motivation zur Textdeutung. Er beschreibt dies so:
„Wir lesen Verse; sie sprechen uns an. Der Wortlaut mag uns fasslich erscheinen. Verstanden haben wir ihn noch nicht. Wir wissen noch kaum, was eigentlich dasteht und wie das Ganze zusammenhängt. Aber die Verse sprechen uns an. […] Wir sind nur berührt; aber diese Berührung entscheidet darüber, was uns der Dichter in Zukunft bedeuten soll. Manchmal findet die Berührung nicht gleich beim ersten Lesen statt. Oft geht uns das Herz überhaupt nicht auf. Dann können wir über den Dichter bestenfalls Angelerntes wiederholen. Doch die Erkenntnis seines Schaffens zu erneuern oder gar zu vertiefen, sind wir nicht berufen.[26]“
In der Aussage dieses letzten Satzes sieht Staiger die Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Interpretation: Die Kernaussage eines Werkes in aktuellen Bezug zu setzen.
[...]
[1] Conrady, Karl Otto: Spuren einer Erinnerung an die Zeit um 1945 und an den Weg in die Germanistik. In:
Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997. S. 404.
[2] * 21. Februar 1926
[3] Conrady, Karl Otto: Spuren einer Erinnerung an die Zeit um 1945 und an den Weg in die Germanistik. S. 407.
[4] Hermand, Jost: Geschichte der Germanistik. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994. S. 114.
[5] Lämmert, Eberhard: Ein Weg in Freie. Versuch eines Rückblicks auf die Germanistik vor und nach 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997. S. 414.
[6] Hermand, Jost: Geschichte der Germanistik. S. 114.
[7] Müller-Seidel, Walter: Zur geistigen Situation der Zeit – um 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische
Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997. S. 424.
[8] Hermand, Jost: Geschichte der Germanistik. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994. S. 115.
[9] Vgl. Herrmann, Hans Peter: Das Bild der Germanistik zwischen 1945 und 1965 in autobiographischen Selbstreflexionen von Literaturwissenschaftlern. S. 347.
[10] Ebd. S. 348.
[11] Vgl. Ebd. S. 348.
[12] Treichel, Hans-Ulrich: Gegen Sklavendichter und Panflötenbläser. In: Geo Epoche. Deutschland nach dem Krieg 1945 – 1955. S. 130-131.
[13] Vgl. Ebd. S. 350.
[14] Ebd. S. 354.
[15] Vgl. Ebd. S. 354.
[16] Vgl. Danneberg, Lutz: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation. S. 326.
[17] Vgl. Berghahn, Klaus: Wortkunst ohne Geschichte: Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Band 71, Nummer 4, 1979, S. 394.
[18] 1946
[19] 1955
[20] Vgl. Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. S. 7.
[21] Ebd. S. 7.
[22] Ebd. S. 7.
[23] Vgl. Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. S. 8.
[24] Ebd. S.8.
[25] Ebd. S. 8.
[26] Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. S. 9.
- Citation du texte
- Sascha Rudat (Auteur), 2006, Die werkimmanente Interpretationsmethode - Eine Definition der literarischen Ansichten und Abgrenzungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75244
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