Die Arbeit setzt sich mit Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbildern in David Faßmanns Zeitschrift - Gespräche in dem Reiche derer Toten - auseinander. Die vier Gespräche zwischen Peter dem Großen und Ivan dem Schrecklichen werden dabei genau unter die Lupe genommen. Ergebnis der sehr gut bewerteten Untersuchung (1,3) ist, dass Faßmann keinen Beiträg zur Aufklärung leistet, sondern eher Geschichtsbilder produziert und Klischees zum grausamen Russland Ivans des Schrecklichen festigt, auf der anderen Seite Peter den Großen einseitig als den großen Aufklärer ausruft.
1. Einleitung
Im Jahre 1725 kommt es zu einem wundersamen Zusammentreffen zweier bedeutender russischer Alleinherrscher: Peter der Große und Ivan der Schreckliche – zwischen deren jeweiligem Sterbejahr fast 150 Jahre liegen – begegnen sich im Totenreich und unterhalten sich ausführlich über ihr vergangenes Leben, ihre Leidenschaften, Leiden und Leistungen.
Forum dafür ist David Faßmanns Zeitschrift „Gespräche in dem Reiche derer Todten“. Hier treffen zumeist jüngst verstorbene und historisch bedeutsame Persönlichkeiten wie Fürsten, Könige oder Kaiser im Jenseits aufeinander, um sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte zu erzählen – Faßmann spricht jeweils von einer Historie. Peter der Große und Ivan der Schreckliche begegnen sich von der 83. bis 86. Entrevue (franz. Zusammenkunft) insgesamt vier Mal im Totenreich. Diese Gespräche sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
Auch wenn der Raum, den Faßmann für die Konversationen seiner Protagonisten wählt, fiktiv ist, so schreibt er insgesamt doch mit dem Anspruch auf Richtigkeit und Glaubwürdigkeit dessen, was die jeweiligen Gesprächspartner berichten. Zuweilen nennt er sogar die Informationsquellen, auf die er für das Verfassen der Zusammenkünfte zurückgegriffen hat. Dabei handelt es sich zumeist um Zeitungen oder historiographische bzw. biographische Werke. Die Protagonisten der jeweiligen Entrevue erzählen von Krieg und Frieden, Politik, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion vergangener wie gegenwärtiger Zeiten.
Die Zeitschrift erscheint in außergewöhnlich hohen Auflagen in den Jahren 1718 bis 1740, ist sehr erfolgreich und fällt damit – in der hohen Zeit der Epoche der Aufklärung – auf fruchtbaren Boden beim bildungsdurstigen deutschen Lesepublikum. Damit wird sie zu einem Medium, das Geschichte vermittelt, und Faßmann selbst hat diese Intention geschichtlicher Bildung formuliert (s.u.).
Die Frage, die sich nun stellt, ist aber diese: Wie lässt sich die Geschichtsschreibung Faßmanns charakterisieren und welchen Bedingungen unterliegt sie - welche Geschichte von Ivan dem Schrecklichen, Peter dem Großen und dem russischen Volk vermittelt Faßmann?
In methodischer Hinsicht liegt der Untersuchung ein induktives Arbeiten zugrunde. Nach den ersten Kapiteln zur allgemeinen Hinführung zum Thema (Geschichtswissenschaftliche Grundlage, Autor, Intention, Zeitschrift, Zeitalter, Gesellschaft ...) sollen zunächst die vorliegenden Totengespräche zwischen Peter und Ivan inhaltlich nach Schwerpunkten untersucht werden – dieser Teil wird stark deskriptiv sein; er ist aber unerlässlich, um die Arbeit auf ein solides Fundament zu stellen. Daran schließen sich Untersuchungen zur Darstellung (Diktion, Literarizität etc.) und zu den Quellen und Faßmanns Umgang mit diesen an. Konkretes Ziel dieser Untersuchung wird es sein, Faßmanns „Geschichtsschreibung“ in der 83. bis 86. Entrevue auf Stereotype, Verkürzungen und Verzerrungen et cetera hin zu überprüfen. Dabei handelt es sich um Kriterien, die die geschichtswissenschaftliche Kategorie des Geschichtsbildes konstituieren.[1] Daraus ergibt sich folgende Leitfrage: Finden sich Geschichtsbilder in der 83. bis 86. Entrevue?
Zu Faßmanns „Gesprächen in dem Reiche derer Todten“ ist im vorliegenden Kontext bisher kaum nennenswerte Sekundärliteratur erschienen. Lediglich zwei Werke sollen erwähnt werden, weil ihnen wichtige Anregungen und Informationen entnommen wurden: Nils Eckhardts Dissertation „Arzt, Medizin und Tod im Spiegel der von David Faßmann (1683-1744) in den Jahren 1718 bis 1739 herausgegebenen Zeitschrift „Gespräche in dem Reiche derer Todten“ und Matthes Eckhardts „Das veränderte Rußland“. Erstere Veröffentlichung befasst sich allerdings eher aus medizin- und kulturhistorischer Perspektive mit der Faßmannschen Schrift, wohingegen Matthes Eckhardt die Totengespräche aus einem ähnlichen Blickwinkel wie der Verfasser der vorliegenden Arbeit sieht – er aber beschäftigt sich nicht explizit und ausführlich mit Ivan dem Schrecklichen und Peter dem Großen, sondern untersucht sämtliche in den Entrevuen auftretende russische Potentaten in entsprechend geringerem Umfang.
Als Hauptquelle sind freilich David Faßmanns „Gespräche in dem Reiche derer Todten“ zu nennen. Sie standen in gedruckter Fassung in der Staatsbibliothek in Göttingen zur Verfügung. Darüber hinaus lagen Herbersteins „Rerum moscoviticarum“, Perrys „Russia under the present czar“, Webers „Das veränderte Russland“ und weitere einschlägige, später noch näher benannte Literatur zum Untersuchungsgegenstand vor.
2. Hauptteil
2.1 Geschichtswissenschaftliche Grundlage der vorliegenden Untersuchung
Karl-Ernst Jeismanns geschichtswissenschaftliche Kategorien Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein bieten adäquate Werkzeuge und Terminologien, den Besonderheiten und Charakteristika der Faßmannschen „Geschichtsschreibung“ auf den Grund zu gehen. Was ist unter einem Geschichtsbild, was unter dem Begriff Geschichtsbewusstsein zu verstehen? Die beiden Begriffe lassen sich am leichtesten in einer direkten Gegenüberstellung erklären, denn es handelt sich dabei um Antonyme. Jeismann – bedeutender Theoretiker der Konzeptualisierung und Formulierung der besagten geschichtswissenschaftlichen Theorie – schreibt in seinem Aufsatz „Geschichtsbewusstsein-Theorie“ im Handbuch der Geschichtsdidaktik:
„Geschichtsbewusstsein setzt zunächst das Wissen voraus, dass die Rekonstruktion von Vergangenheiten notwendig an die Erkenntnismöglichkeiten, die Deutungswünsche, die lebensweltlichen Fragestellungen einer Gegenwart gebunden ist. Diese Bestimmung setzt das Geschichtsbewusstsein ab vom „Geschichtsbild“, in dem Vergangenheitsverständnis zum gültigen Abbild der Geschichte erstarrt.“[2]
Geschichte ist eine auf Selektion überlieferter Zeugnisse beruhende und deswegen eine zu vielfacher unterschiedlicher Deutung führende Rekonstruktion des Vergangenen. Die Kategorie des Geschichtsbewusstseins deutet „Geschichtsbilder als Ausdruck einer in den Erfahrungen und Bedürfnissen einer historischen Gemeinschaft wurzelnden Vergangenheitsdeutung“[3] und erkennt sie „in ihrer Partialität wie Historizität.“[4] Wenn das Geschichtsbild die Geschichte als wahres und einziges Abbild einer vergangenen Realität versteht und zeigt, so fragt das Geschichtsbewusstsein danach, wie und aus welchen Gründen eine bestimmte Sicht auf und in die Vergangenheit zustande kommt.
Da es nicht nur eine historische Gemeinschaft mit identischen Erfahrungen und Bedürfnissen gibt, so lautet die logische Schlussfolgerung: Es gibt nicht nur ein Geschichtsbild, sondern vielmehr zahlreiche. Eine Geschichtsschreibung steht nicht für die eine und universell gültige Geschichte. Mit dieser Einsicht verlieren die Geschichtsbilder – die Aufdeckung ihrer vielfachen Bedingtheit macht es deutlich – ihren absoluten Anspruch auf Wahrheit und unbedingte Richtigkeit.
„Geschichtsbilder gehören zur historischen Dimension der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit.“[5] Jeismann erklärt diese Konstruktion mit dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Identifizierung durch „Symbole und Dokumentationen emotionaler Bestätigung.“[6]
Der Blick auf die Geschichte wird damit zu etwas stark Subjektivem. Mit der Kategorie des Geschichtsbewusstseins wird das hohe Ziel verfolgt, Geschichtsbilder zu erkennen, ihr Entstehen und die ihnen innewohnende subjektivistische Reduktion zu reflektieren. Dieses wird ein wesentlicher Bestandteil auch der vorliegenden Arbeit sein.
2.2 Leben und Person des David Faßmann (1683-1744)
David Faßmann wird am 14. Juni 1683 als Sohn des Handelsmannes und Bürgers Alexander Faßmann und der Tochter des Ortspfarrers – Dorothea Rühle – in der Ortschaft Oberwiesenthal im sächsischen Erzgebirge geboren.[7] Der Vater stirbt früh, sodass die Erziehung des Jungen hauptsächlich vom Großvater übernommen wird, der ihn in die Religion, das Latein, Englisch und Französisch und in eifriges Lesen unterweist. David Faßmann wird auf das Gymnasium nach Ansbach geschickt, das er aber schon bald – vermutlich wegen exzellenter Leistungen – verlässt. 1703 nimmt er ein Studium an der Universität Altdorf auf, das er aber auch nach kurzer Zeit schon wieder aufgibt. Die Gründe hierfür sind unbekannt.[8] Im Jahre 1705 tritt Faßmann „eine Stelle als Sekretär der fränkischen Deputierten in Nürnberg an.“[9] An der Seite von Oberleutnant Tucher unternimmt er zahlreiche Reisen, wird auch „ Zeuge der Belagerung Ingolstadts und der Einnahme Ulms.“[10] Nach diversen Anstellungen in verschiedenen Kanzleien, erhält Faßmann 1709 eine Stelle „ als Quartiermeister bei der sächsischen Chevalier-Garde, die man wohl mit Recht als gehoben bezeichnen kann.“[11] Im Gefolge Augusts des Starken – der nach der Schlacht bei Pultawa erneut den polnischen Thron besetzen will – reist er nach Polen, wo er von der gegnerischen Smigielski-Partei aufgegriffen und verschleppt wird. Nahe der ungarischen Grenze kann er sich jedoch befreien und nach Wien fliehen - dieses erreicht er im Herbst 1711.
1712 tritt er in den Dienst eines jungen englischen Aristokraten, für den er als Reisebegleiter und Hofmeister fungieren soll. „Mit diesem jungen Aristokraten bereist Faßmann in den folgenden Jahren halb Europa.“[12] Holland ist die erste Reisestation der beiden. In Utrecht – wo gerade die Friedensverhandlungen zum Erbfolgestreit in Spanien laufen – knüpft Faßmann Kontakte zu zahlreichen preußischen, englischen und französischen Gesandten.[13] Nach etwa achtmonatigem Aufenthalt in den Niederlanden wird die Reise gen England fortgesetzt. Nach einer einjährigen Unterbrechung – zwischen 1713 und 1714 – setzt Faßmann die Reisebegleitung fort; es folgen Aufenthalte in Irland, Frankreich und Italien.
Nach dem Tod des Aristokraten im Jahre 1715 in Neapel reist David Faßmann nach Rom, „wo er an nicht weniger als drei Papstaudienzen teilgenommen haben will.“[14] Nach einem Schiffbruch auf der Überfahrt nach Triest entschließt er sich, Theologie in Halle zu studieren, nimmt das Studium auch tatsächlich auf, beendet es aber schon bald wieder und zieht 1717 nach Leipzig. Hier und jetzt – im Alter von 34 Jahren – beginnt der Oberwiesenthaler sein journalistisches und literarisches Schaffen.
„Eine im Hinblick auf vielseitige politische, diplomatische und administrative Verwendung erhaltene Schulung und eine durch Reisen erworbene Welterfahrung, verbunden mit ausgedehnten gelehrten Kenntnissen, schaffen die Voraussetzung für das erfolgreiche journalist. Wirken David Faßmanns.“[15]
1718 erscheint die erste Entrevue der Gespräche in dem Reiche derer Todten, deren Erscheinen bis ins Jahr 1739 andauert und eine beachtliche Gesamtherausgabe von 240 Entrevuen erreicht. Von 1721 bis 1733 erscheinen die vier Bände des Journals „Der auf Ordre und Kosten seines Kaysers reisende Chineser“, von 1731 bis 1739 wird das Journal „Der curiöse Staatsmann“ veröffentlicht, 1733 erscheint „Glorwürdigstes Leben und Thaten Friedrich Augutsts des Grossen“.[16]
1725 ereilt Faßmann ein Ruf aus Berlin an den Königshof. 1726 tritt er eine Stelle als Zeitungsreferent des Königs an und 1731 – nach dem Tod seines Vorgängers Gundling – wird er zum Präsidenten der königlichen Akademie der Wissenschaften. Dabei bleibt es allerdings nicht lange: Schon einen Monat nach Amtsantritt räumt er den Präsidentenstuhl bereits wieder. Warum er das tut, ist weithin ungeklärt. Das frühe Ausscheiden jedoch schlägt hohe Wellen: Schmäh- und Spottschriften über den „unwürdigen Successor des Gundlings“[17] erscheinen.
David Faßmann kehrt wieder nach Leipzig zurück. „Von nun an scheint das bis dahin doch recht bewegte Leben des Oberwiesenthaler Kaufmannssohnes in gleichförmigen und arbeitsreichen Bahnen verlaufen zu sein.“[18] Faßmann stirbt am 14. Juni 1744 in Lichtenstadt nahe der böhmischen Grenze auf einer Reise nach Karlsbad.
2.3 Die Geschichte der Totengespräche und deren besondere Ausprägung durch David Faßmann
Das literarische Genre Totengespräch hat schon zur Zeit Faßmanns eine lange Tradition. Sie geht auf den Syrer Lukianos aus Samosata zurück, der im 2. Jahrhundert nach Christus lebte und in seinen 30 Totengesprächen „meist burlesk-komische Gesprächsszenen an den verschiedenen Schauplätzen der antiken Unterwelt oder bei der Überfahrt über den Styx“[19] darstellte und als Begründer des Totengesprächs gilt. Eine in sich vielgestaltige Gruppe aus Akteuren – Lukianos` Hauptfiguren sind einerseits die Toten, andererseits die Unterweltgottheiten – bildet auch den formalen Haupttypus des Totengesprächs, „der in den europäischen Literaturen seit dem Humanismus des 15. Jh.s je nach der geschichtl. Situation oder den Absichten und der Eigenart des jeweiligen Autors auf mannigfache Weise erneuert, abgewandelt oder erweitert worden ist.“[20]
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – während dem Abklingen des Humanismus und dem damit verbundenen Nachlassen des Interesses an Lukian – sind in der deutschen Literatur nur vereinzelt Totengespräche anzutreffen. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts – vor allem im zweiten Jahrzehnt – werden die Dialoge im Jenseits
„eine vor allem der Aufklärung dienende beliebte und volkstümliche Lit.form (...), die sich bis ins 2. Jahrzehnt des 19. Jh.s hinein behauptet. Faßmann hat als Erneuerer der Gattung zu gelten, der (...) eine modische Sonderform schafft, derer sich zahllose Nachahmer bedienen.“ [21]
In der deutschen Literatur überhaupt (so auch bei Faßmann) überwiegen – im Gegensatz zum lukianischen Archetypus, bei dem Verstorbene und Götter in burlesk-komischer Szenerie parlieren – sachliche Gespräche von Abgeschiedenen (meist historischen Persönlichkeiten) untereinander.
„Die immer wieder (...) erhobenen Einwände gegen die künstler. Unzulänglichkeiten der Faßmannschen Entrevuen werden der Bedeutung dieser Zs. als einem Organ aufklärerischer Volksbildung und einer frühen journalist. Form nicht gerecht. Mit einem Gespür für die Bedürfnisse eines breiten Lesepublikums wählt er für seine historisch-politische Zs. die unterhaltsame Form des T.s. Im Sinne der Aufklärung will Faßmann sowohl unterhalten als auch belehren und gelehrtes Wissen – zumal über politische Geschichte – auf eine allgemeine verständliche Weise vermitteln und nicht zuletzt den unteren Ständen einen Einblick in Bereiche und Zusammenhänge gewähren, der ihnen bisher versagt worden ist.“ [22]
Die Zeitschrift ist für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts außergewöhnlich erfolgreich (s.u.). Faßmanns Wahl der Gesprächspartner – zumeinst große Potentaten der Weltgeschichte – erweist sich als äußerst geschickt. Zahlreiche seiner Nachahmer greifen zur gleichen Strategie und versuchen in einer nochmaligen Steigerung – indem sie notorische Übeltäter und Bösewichte im Gespräch zusammenführen – die Sensationslust des Publikums zu wecken.
Zum äußeren Bild und Aufbau der Totengespräche lässt sich folgendes sagen: In über zwanzig Jahren erscheinen insgesamt 240 Entrevuen, die in fünfzehn Einzelbände zusammengefasst sind, deren Umfang in der Regel 1200 Seiten umfasst. Durchschnittlich ist eine Entrevue demnach etwa 80 Seiten stark, was ungefähr zehn Bögen des Quart-Formats entspricht. „Wichtige Textstellen, Fremdworte, Zitate u.ä. sind in lateinischen Buchstaben gesetzt und werden manchmal durch Fettdruck besonders hervorgehoben.“[23] Das Schriftbild am Ende mancher Entrevue ändert sich zuweilen dergestalt, dass es abrupt kleiner oder größer wird – dieses ist vermutlich aus Platzgründen geschehen. 1740 erscheint noch ein sechzehnter Supplementband mit Register und Inhaltsangaben zum Gesamtkorpus. Einer jeden Entrevue ist ein „Kupferstich in Tiefdruckmanier vorangestellt“[24]. Darunter ist jeweils ein Vierzeiler – ein Alexandriner – zu lesen.
Sämtliche 240 Entrevuen zeigen den gleichen formalen Aufbau. Sie lassen sich nach dem klassischen Schema in Einleitung, Hauptteil und Schluss aufteilen und sind in sich geschlossen. In der Einleitung wird die Begegnung von jeweils zwei Gesprächspartnern – zumeist großen Potentaten der Weltgeschichte aus Europa, aber auch aus der Türkei oder Marokko – irgendwo im Jenseits[25] geschildert. Nach diesem zumeist sehr kurzen Teil beginnt das eigentliche Gespräch, das aber doch kein Gespräch im herkömmlichen Sinne ist. Vielmehr erzählen sich die beiden Verstorbenen gegenseitig ihre Lebensgeschichte, ohne dass sich ein Gespräch darüber entspinnt. Derjenige, der eigentlich Gesprächspartner sein soll (die eine wie die andere Seite), ist lediglich (und auch das nur sporadisch) Stichwortgeber. De facto handelt es sich um Monologe im Totenreich.
Nachdem beide Gesprächsteilnehmer ihre vita vorgestellt haben, taucht zumeist noch ein Sekretarius auf, der die neuesten Nachrichten aus der Welt der Lebenden überbringt. Dieser Auftritt leitet den Schluss der jeweiligen Entrevue ein. Wenn die Protagonisten schließlich einen oft sehr kurzen Kommentar zu den Neuigkeiten abgegeben haben, verabschieden sie sich voneinander und „versichern sich ihrer gegenseitigen Gewogenheit.“[26]
Inhaltlich greift Faßmann alle Bereiche menschlichen Lebens auf oder streift sie zumindest, rührt sie dezent an: Gesellschaftliches Leben, Politik im Allgemeinen, Krieg, Religion, Mentalität, Wirtschaft, Kultur und Sitten aller Art, Ehe, Liebe und Hass, Gesundheit und Tod.
Stilistisch betrachtet geben die Totengespräche ein vorbildliches Beispiel ihrer Zeit ab. Der weitgereiste, in zahlreichen Sprachen bewanderte, literate und auch durch berufliche Erfahrungen mit unterschiedlichen Diktionen[27] vertraute Faßmann gibt in den Totengesprächen Zeugnis seines gesamten sprachlichen Könnens und seiner Gelehrtheit. Die Entrevuen sind in deutscher Sprache abgefasst aber kontinuierlich durchsetzt mit lateinischen und französischen Vokabeln. Stilistisch sind die Totengespräche demnach als „Dokument einer damals besonders in den vornehmen Kreisen“[28] geläufigen Sprache zu sehen.
Einen nicht geringen Einfluss auf die sprachliche Gestaltung der Entrevuen dürfte aber auch die Tatsache haben, dass Faßmann teilweise ganze Passagen aus biographischen oder historiographischen Werken nahezu unverändert übernommen, d.h. abgeschrieben hat.[29]
2.4 Faßmanns Zeitschrift im Kontext der Epoche der Aufklärung
Die Epoche der Aufklärung[30] – in diese Zeit fällt das Erscheinen der Totengespräche Faßmanns – war eine gesamteuropäische Erscheinung, die vom letzten Viertel des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts andauerte und alle Lebensbereiche des europäischen Menschen erfasste: Politik, Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und gesellschaftliches Leben.[31]
Mit Newtons „Mathematische Prinzipien der Naturlehre“ (1687), mit der „Glorious Revolution“ (1688-90) in England, Lockes „Essay Concerning Human Understanding“ (1690) und Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ (1748) sind nur einige wesentliche geistige Etappen der Aufklärung genannt, die schließlich auch praktische Konsequenzen in nahezu allen Lebensbereichen des Menschen nach sich zogen und in der Französischen Revolution 1789 gipfelten.
Getragen vom Bürgertum, war die Aufklärung Ausdruck einer zunehmenden Emanzipation von religiösen Bindungen, ständischen Schranken und politischer Unmündigkeit im (aufgeklärten) absolutistischen Staat. Geistesgeschichtlich liegt ihr ein lineares Verständnis von Geschichte zugrunde.[32] Auch wenn es innerhalb der Aufklärungsbewegung unterschiedliche Strömungen gab, so lassen sich diese grundlegenden Gemeinsamkeiten und Zielvorstellungen dennoch benennen. Religionskritik[33], die Herausbildung eines starken Bürgertums und die Forderung nach Toleranz, Freiheit, Menschlichkeit und zunehmender politischer Partizipation[34] breiterer Gesellschaftskreise zeugen von tiefgreifenden Veränderungen dieser Zeit.
Im Deutschen Reich des beginnenden 18. Jahrhunderts – einem Konglomerat zahlreicher Einzelstaaten - versucht das Bürgertum seinen Platz im Gesellschaftsgefüge zu behaupten und auszubauen. Es setzt Wissen und Bildung, Moral und Vernunft, aber auch Kunst und Unterhaltung zu den Idealen seines Standes. Dieses äußert sich vor allem in Fragen der Religion, der Erziehung, der Lebensart und der Politik.[35]
Was daraus resultiert, ist ein stets wachsendes Selbstverständnis des Bürgertums. Zeitschriften und Journale bedienen dieses Selbstverständnisses mit Inhalten aus dem naturwissenschaftlichen, politischen und philosophischen Leben und stellen sie zunehmend neben Bibel und Erbauungsliteratur, wenngleich sie diese (noch) nicht zu verdrängen vermögen.[36]
1688 erscheint die erste deutschsprachige Zeitschrift unter dem Titel Schertz- Und Ernsthaffte, Vernünftige Und Einfältige Gedanken Über Allerhand Lustige Und Nützliche Bücher Und Fragen. Der Verfasser, ein Professor namens Christian Thomasius, verärgert mit seiner sachlich nüchternen, aber auch volkstümlich derben und polemisch geißelnden Diktion Obrigkeit und Klerus dermaßen, dass ihn nur die Flucht aus Leipzig vor einer Gefangennahme und Bestrafung retten. Die Herausgabe der Zeitschrift wird schon zwei Jahre nach dem Ersterscheinen wieder eingestellt. Von nun an erschienen zahlreiche Zeitschriften und Journale in deutscher Sprache, die dem Bedürfnis der nicht des Lateins mächtigen, aber großen Leserschaft nach Wissenschaft und Bildung nachzukommen trachteten. So wird
„die Publizistik (...) zu einem der meistbeschrittenen Wege, die die Aufklärung nutzt (...) Historisch-politische Journale und moralische Wochenschriften werden zum hervorragendsten Träger der Aufklärung.“[37]
Im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus kommt Faßmann mit seinen Totengesprächen und dem darin
„aufbereiteten Wissensstoff einem Bedürfnis des zum Selbstbewusstsein erwachenden und zu wirtschaftlicher Bedeutung aufsteigenden dt. Bürgertums entgegen, zu einer seiner neuerworbenen gesellschaftlichen Stellung gemäßen histor. und polit. Bildung zu gelangen.“[38]
2.5 Die Verbreitung und die Adressaten der Totengespräche
Es ist nicht unwichtig zu wissen, welche selbsterklärten Absichten Faßmann mit der Publikation seiner Totengespräche hatte, welches Lektüre-Publikum er sich vorstellte und wünschte und welche Breitenwirkung seine insgesamt 240 Entrevuen hatten. Der Autor selbst hat sich dazu geäußert; darüber hinaus sind auch andere zeitgenössische Kommentare der ablehnenden wie der affirmativen Art erhalten. In der Dedikation seiner 145. Entrevue schreibt Faßmann: „Genug, dass eine grosse Anzahl vernünftige, brave und rechtschaffner Personen allerley Standes, Patronen, Freunde und Liebhaber meiner Gespräche sind.“
Faßmann war ein umfangreich gebildeter Mensch, aber eben doch kein Spezialist, der Anspruch darauf hätte erheben können, fachmännischer Autor der jeweils verfassten Entrevue zu sein. Dafür waren Themenvielfalt und Umfang der Entrevuen zu groß. Außerdem forderte das publizistische Gebot der Aktualität und Periodizität seinen Tribut – Zeit zu profunder Recherche blieb kaum. Demnach schrieb Faßmann auch nicht für „Sachkenner“[39] sondern betrieb vielmehr „Aufklärung für ein breites, durchschnittlich gebildetes Publikum des Bürgertums ebenso wie des Adels.“[40] Faßmann konzipiert seine Zeitschrift derartig, dass „auch Ungelehrte, indem sie solche lesen, unter denen Gelehrten mit passiren, und als Politici und Moralisten discuriren können.“[41]
Diese selbsterklärte Absicht scheint auch tatsächlich mit Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Denn was die Verbreitung und das Lektüre-Publikum der Zeitschrift betrifft, so schreibt der schwäbische Journalist Schubart: Die
„ Todtengespräche waren die Lieblingsleserei der deutschen Fürsten, Minister, Generale, Rumoren auch noch in den Wachstuben. Sie las der Prälat und der Dorfschulmeister, die Matrone und das Nähmädel mit gleichem Entzücken. Auch stifteten sie wirklich ungemein viel Gutes. Wie viel Modescribenten können dies jetzt sagen?“[42]
Dieses zeitgenössische Zeugnis belegt sowohl die Verbreitung als auch die Beliebtheit der Totengespräche - davon zeugt auch eine beachtliche Zahl an Druckexemplaren (durchschnittlich 3000, für eine Entrevue sogar 15000), ungewöhnliche Auflagenhöhen (bis zu fünf) und zahllose Raubkopien.
2.6 Das Interesse des Deutschen Reiches an Russland
Elf Entrevuen der insgesamt 240 Nummern der Totengespräche befassen sich unmittelbar mit dem Russischen Reich. Erstmals 1725 – im Todesjahr Peters des Großen – wird das Thema aufgegriffen und ausführlich behandelt. Auf diese 83. Entrevue folgen noch im gleichen Jahr[43] drei weitere Zusammenkünfte zwischen Peter I. und Ivan Basilowitz, genannt der Schreckliche. Allein diese ungewöhnliche Konzentration[44] auf ein Thema zeigt, wie groß das Interesse an Russland im Deutschland dieser Zeit war. Peters I. Tod hatte Anlass dazu gegeben, den Blick des Lesers auf Russland zu lenken und den vergangenen wie gegenwärtigen Zustand dort zu fokussieren.
„Als der, von dem immutablen Destin beschlossene fatale Moment herbey kam, in welchem der vortreffliche Czaar von Moscau, Petrus Magnus, dessen Gedächtniß, in Ansehung seiner grossen Thaten, nimmermehr vergehen kann, von der Welt gefordert werden sollte, praesentirte sich der Fresser aller Menschen vor denen Augen dieses Potentaten.“[45]
Mit diesen ersten Zeilen der 83. Entrevue begründet Faßmann die Wahl des Moskauer Zaren als Protagonisten und deutet gleichzeitig auch eine weitere Beschäftigung mit ihm in anderen, folgenden Unterredungen im Totenreich an. Diese „Rechtfertigung, mit der Fassmann den Blick des Lesers auf Russland lenkte, war für die Zeit stereotyp und erscheint in anderen Veröffentlichungen ungezählte Male wieder.“[46]
[...]
[1] Eine genauere Definition dieses Terminus wird im ersten Kapitel des Hauptteils gegeben.
[2] Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewusstsein-Theorie. In: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen und Gerhard Schneider, Seeke-Velber 1997, 42 (künftig: Jeismann, 1997, S. xy)
[3] Ebenda.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda.
[7] Wenigen anderen Quellen zufolge ist sein Geburtstag der 20. September 1685.
[8] Möglicherweise waren nach dem Tod des Großvaters finanzielle Gründe dafür ausschlaggebend. Auch die drohende Gefahr eines Krieges ist von Eckhardt in Erwägung gezogen worden.
[9] Eckhardt, Nils: Arzt, Medizin und Tod im Spiegel der von David Faßmann (1683-1744) in den Jahren 1718 bis 1739 herausgegebenen Zeitschrift „Gespräche in dem Reiche derer Todten“, Düsseldorf 1987, 10 (künftig: Eckhardt, 1987, S. xy)
[10] Ebenda
[11] Ebenda, 11
[12] Ebenda
[13] Auf diesem Wege sammelt er schon jetzt den Stoff, aus dem er später (ab 1718) einige seiner Totengespräche stricken wird.
[14] Eckhardt, 1987, 12
[15] Schelle, Hansjörg: Totengespräch, in: Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr (Hrsgg.): Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Bd 4, 1984, 505 (künftig: Schelle, 1984, S. xy)
[16] Siehe Riedl, Gerda: Fassmann, in: Walther Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd 3, o.J., 338
[17] Eckhardt, 1987, 14
[18] Ebenda
[19] Schelle, 1984, 475
[20] Ebenda
[21] Ebenda, 505
[22] Ebenda
[23] Eckhardt, 1987, 15
[24] Ebenda, 16
[25] Die Orte wechseln: Mal muss – entsprechend dem griechischen Hades – ein Fluss überquert werden, mal wandeln die Verstorbenen in einem anmutigen Tal (locus amoenus) oder sitzen in einer parkähnlichen Gegend, mal verbringen sie ihre Gesprächszeit an einem unwirtlichen Ort, zum Beispiel in einer finsteren Ecke; dort harren sie die Zeit bis zum Jüngsten Gericht aus.
[26] Eckhardt, 1987, 18
[27] Faßmann war nicht nur sehr belesen, sondern arbeitete ja auch als Kanzleischreiber.
[28] Eckhardt, 1987, 20
[29] Dieser Umstand wird im Hauptteil exemplarisch untersucht.
[30] Kunsthistorisch handelt es sich um das Barock, das im Allgemeinen dem Absolutismus huldigt. Das spielt eine Rolle bei der Analyse der Titelkupfer der weiter hinter untersuchten Entrevuen.
[31] Siehe Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, 10ff. (künftig: Kondylis, 1981, xy)
[32] Siehe Kondylis, 1981, 21ff.
[33] Als Musterexempel sei etwa an Lessings „Nathan der Weise“ gedacht.
[34] Vor allem Rousseau hat sich für Volksherrschaft und direkte Demokratie eingesetzt, in der die volontè gènèrale dem Einzelinteresse übergeordnet werden soll. Diese Ideen stellt er im „Gesellschaftsvertrag“ (1762) vor.
[35] Siehe Kaiser, Gerhard: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Tübingen und Basel 1996, 22f.
[36] Siehe Gaede, Friedrich: Humanismus, Barock, Aufklärung. Geschichte der dt. Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Bern 1971, 231ff.
[37] Eckhardt, 1987, 2f.
[38] Schelle, 1984, 487
[39] Eckhardt, 1987, 32
[40] Ebenda
[41] Faßmann in der Vorrede zur 145. Entrevue
[42] d`Ester, Karl (Hrsg.): Das politische Elysium oder die Gespräche der Toten am Rhein. Schriftenreihe `Zeitung und Leben`, Bd 30, Neuwied am Rhein 1936, zitiert nach Eckhardt, 1987, 32
[43] Siehe Matthes, Eckhard: Überlieferungen und Entdeckungen in der Publizistik. Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds, in: Mechthild Keller (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht, Bd 2, München 1987, 120 (künftig: Matthes, 1987, S. xy)
[44] Nur in einigen wenigen weiteren Fällen findet sich in den Totengesprächen eine ähnliche Häufung.
[45] Faßmann, David: Gespräche in dem Reiche derer Todten, Drey und Achzigste Entrevue, zwischen dem vortrefflichen Moscowitischen Czaar, Petro Magno und Ivan Basilowiz II. Ebenfalls einem grossen Czaarn von Moscau, Worinnen die Historie des Letztern, so nicht ohne Erstaunen gelesen werden, ingleichen viele Erzehlungen, von des erstern grossen und berühmten Thaten, nebst ausführlichen Nachrichten von der Religion derer Moscowiter enthalten. Samt dem Kern derer neuesten Merckwürdigkeiten, und darüber, gemachten curieusen Reflexionen. Franckfurth und Leipzig, 1725, 157 (künftig: 83. Entrevue, S. xy) Der vollständige Titel der weiteren Entrevuen wird nur im Literatur- und Quellenverzeichnis aufgeführt – der Autor der vorliegenden Arbeit hält es für angemessen, im Fließtext und den Fußnoten künftig lediglich den Kurztitel (also: 84., 85., 86. Entrevue) wiederzugeben.
[46] Matthes, 1987, 120
- Quote paper
- Martin Kragans (Author), 2002, Die vier Gespräche zwischen Ivan dem Schrecklichen und Peter dem Großen in Faßmanns "Gespräche in dem Reiche derer Toten", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7514
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