Gegenwärtig versteht man unter Psychiatrie die „Lehre von seelischen Erkrankungen und Behinderungen und ihrer Behandlung. Ursprünglich und bis heute Teilgebiet der Medizin, beschäftigt sich die Psychiatrie mit der Diagnostik, der Therapie und der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen“. Dies war allerdings nicht immer so. Wer als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge verstehen möchte, welche Entwicklungen die Psychiatrie vollzogen hat und worauf die Ängste und Vorbehalte ihr gegenüber beruhen, der muss sich mit der Geschichte der Psychiatrie auseinander setzen. Diese Arbeit möchte ihren Beitrag dazu leisten, sie hat aus diesem Grund eine hohe Relevanz für die Soziale Arbeit. Kenntnisse über die dunklen Zeiten, in denen den psychisch Kranken wenig Gutes widerfahren ist und über die Reformbewegungen, welche das Ziel hatten die Situation der Geisteskranken zu verbessern, sind unabdingbar für einen Sozialarbeiter, der in diesem Bereich tätig werden möchte. Will man die Gegenwart verstehen, dann muss man die Vergangenheit kennen. Denn „nur wer die bisherige Entwicklung mit ihren Erfolgen und Irrwegen klar kennt, kann die Gegenwart kritisch sehen und die Zukunft richtig einschätzen“. Erst dann ist man im Stande Verbesserungen durch sein berufliches Handeln herbei zu führen. Im ersten Teil dieser Arbeit wende ich mich der Geschichte der Psychiatrie zu. Von der Urzeit, der Antike, über das Mittelalter, den Nationalsozialismus bis hin zur Gegenwart werde ich die Entwicklungen im Umgang mit psychisch Kranken, deren Lebensbedingungen (Krankheitsverständnis, Behandlungsmethoden, Unterbringungssituation) beschreiben. Im zweiten Teil gehe ich auf die gegenwärtige Psychiatriestruktur ein und wage schließlich im dritten einen Ausblick in die Zukunft.
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Frühe historische Aspekte vom Umgang mit Irren
2.1 Urzeit
2.2 Frühe Hochkulturen
2.3 Antike
2.4 Mittelalter
2.4.1 Spitalgründungen im frühen Islam
2.4.2 Irrenfürsorge im Westen
2.4.3 Das Krankheitsverständnis
2.4.4 Die Behandlungsmethoden
3 Die Wandlung des Irren zum psychisch kranken Patienten
3.1 Renaissance und Absolutismus
3.1.1 Das Krankheitsverständnis
3.1.2 Die Behandlungsmethoden
3.1.3 Die Unterbringung
3.2 Das 18. Jahrhundert
3.2.1 Das Krankheitsverständnis
3.2.2 Die Behandlungsmethoden
3.2.3 Moral Management
3.2.4 Die Unterbringung
3.2.5 Die Befreiung der Irren von den Ketten
3.3 Das 19. Jahrhundert
3.3.1 Das Krankheitsverständnis
3.3.2 Die Behandlung mit Zwangsmittel
3.3.3 John Conollys Non-restraint-System
3.3.4 Die Unterbringung
3.3.5 Die Psychoanalyse
3.4 Das 20. Jahrhundert
3.4.1 Die Zweiklassenpsychiatrie
3.4.2 Neue Behandlungsmethoden
3.4.3 Alternative psychiatrische Wege
3.4.4 Die Psychiatrie im Nationalsozialismus
3.4.4.1 Die Zwangssterilisation
3.4.4.2 Der Gnadentoderlass
3.4.4.3 Die wilde Euthanasie
4 Zum modernen Verständnis von Psychiatrie
4.1 Die Antipsychiatrie
4.2 Die Psychiatrie-Enquete
4.2.1 Inhalt
4.2.2 Auswirkungen
4.3 Zum Stand der psychiatrischen Versorgung
4.4 Psychiatrie und Soziale Arbeit
5 Die Psychiatrie der Zukunft
5.1 Die stationäre Krankenversorgung
5.2 Alternative Behandlungsansätze
5.2.1 Das Weglaufhaus in Berlin
5.2.2 Die Stationssoteria
5.3 Weitere Zukunftsausblicke
6 Schlussgedanken
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In letzter Zeit erscheinen vermehrt Pressemeldungen, welche über die Zustände in den deutschen stationären Psychiatrien berichten. Z. B. wurde im Artikel ‚Die Psychiatrie wird zur Verwahranstalt’ über katastrophale Zustände im Stuttgarter Bürgerhospital berichtet. Aufgrund des herrschenden Personalmangels würden Patienten zunehmend sediert und fixiert, aufgrund des Platzmangels stünden die Patientenbetten sogar schon auf dem Flur. Die Patienten würden zunehmend verwahrt, anstatt ausreichend betreut.[1] Dies ist kein Einzelfall. Eine weitere Psychiatrie geriet wegen ihrer Personalsituation ebenso in die Schlagzeilen. Im Artikel ‚Aufnahmestopp für Psychiatriepatienten’ wurde über das Zentrum für Psychiatrie Winnenden berichtet. Dort seien ebenso räumlich, wie personell die Grenzen des Leistbaren erreicht. Zeitweilig müsse deshalb sogar ein Aufnahmestopp für Neuzugänge verhängt werden.[2] Egal ob in Zeitungsartikeln, Thrillern oder Spielfilmen - die Psychiatrie schneidet in der Regel nicht besonders gut ab. So wird den Hauptpersonen (wie z. B. in ‚Einer flog über das Kuckucksnest’) die Freiheit entzogen, Gewalt angetan und Rechte aberkannt, bis sie schließlich völlig hilflos der mächtigen Institution gegenüber stehen. Die Psychiatrie muss gegen viele Vorurteile ankämpfen, denn Assoziationen wie Gummizelle, Zwangsjacke, Psychopharmaka, Elektroschock und Lobotomie sind beim Durchschnittsbürger[3] häufig anzutreffen. Woher resultieren diese Ängste und dieser schlechte Ruf?
Gegenwärtig versteht man unter Psychiatrie die „Lehre von seelischen Erkrankungen und Behinderungen und ihrer Behandlung. Ursprünglich und bis heute Teilgebiet der Medizin, beschäftigt sich die Psychiatrie mit der Diagnostik, der Therapie und der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen“.[4] Dies war allerdings nicht immer so. Wer als Sozialarbeiter/Sozialpädagoge verstehen möchte, welche Entwicklungen die Psychiatrie vollzogen hat und worauf die Ängste und Vorbehalte ihr gegenüber beruhen, der muss sich mit der Geschichte der Psychiatrie auseinander setzen. Diese Arbeit möchte ihren Beitrag dazu leisten, sie hat aus diesem Grund eine hohe Relevanz für die Soziale Arbeit. Kenntnisse über die dunklen Zeiten, in denen den psychisch Kranken wenig Gutes widerfahren ist und über die Reformbewegungen, welche das Ziel hatten die Situation der Geisteskranken zu verbessern, sind unabdingbar für einen Sozialarbeiter, der in diesem Bereich tätig werden möchte. Will man die Gegenwart verstehen, dann muss man die Vergangenheit kennen. Denn „nur wer die bisherige Entwicklung mit ihren Erfolgen und Irrwegen klar kennt, kann die Gegenwart kritisch sehen und die Zukunft richtig einschätzen“.[5] Erst dann ist man im Stande Verbesserungen durch sein berufliches Handeln herbei zu führen. Im ersten Teil dieser Arbeit wende ich mich der Geschichte der Psychiatrie zu. Von der Urzeit, der Antike, über das Mittelalter, den Nationalsozialismus bis hin zur Gegenwart werde ich die Entwicklungen im Umgang mit psychisch Kranken, deren Lebensbedingungen (Krankheitsverständnis, Behandlungsmethoden, Unterbringungssituation) beschreiben. Im zweiten Teil gehe ich auf die gegenwärtige Psychiatriestruktur ein und wage schließlich im dritten einen Ausblick in die Zukunft.
Schließlich bleibt noch anzumerken, dass die historischen Ereignisse und Entwicklungen nicht in aller Ausführlichkeit thematisiert werden konnten, da dies den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. Lediglich die für das Thema wichtigsten Aspekte wurden aufgegriffen, sodass diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Für eine weiterführende Lektüre sei auf diesem Wege auf die Werke im Literaturverzeichnis verwiesen. Der Titel dieser Arbeit wurde mit den Begriffen Probandinnen und Probanden bewusst provokant formuliert. Der Umgang mit psychisch Kranken gestaltete sich in der Geschichte lange als menschenunwürdig. Erst recht spät hat man diesen Personenkreis als Patienten und Klienten definiert. Immer wieder erprobte man sich an ihnen um die Wissenschaftlichkeit voran zu treiben. Mit seinem Buch macht Koch auf das Thema Menschenversuche aufmerksam, welche es immer schon in der Geschichte der Medizin gegeben hat.[6] Auch heute noch testet die Pharmazie mit und ohne Einwilligung der Betroffenen neue, noch nicht zugelassene Medikamente. Der Journalist Heitkamp lies sich selbst in die Psychiatrie einweisen und wurde bei seinen Recherchen auf Patientenversuche aufmerksam.[7] Psychisch Kranke wurden in der Geschichte der Psychiatrie immer wieder zu Testpersonen. Dass die Wissenschaft besonders von den Tötungen und Experimenten zu Zeiten des Nationalsozialismus profitiert hat, belegt u. a. Klee.[8] All das spricht für die Bezeichnung Proband.
2 Frühe historische Aspekte vom Umgang mit Irren
Aufgrund der fehlenden Aufzeichnungen lässt es sich schwer rekonstruieren, wie man in der Urzeit und den frühen Hochkulturen mit psychisch Kranken umgegangen ist. In der Urzeit, bei den Naturvölkern, gab es noch keine Psychiatrie. Von einer Wissenschaft, welche sich mit Geisteskrankheiten beschäftigt, fehlt deshalb noch jede Spur.[9]
2.1 Urzeit
Trotzdem kann man davon ausgehen, dass psychische Krankheiten bereits in der Urzeit vorgekommen sind. Allerdings haben die Naturvölker, die so genannten Primitiven, noch nicht zwischen psychischen und physischen Krankheiten unterschieden.[10] Übernatürliche Kräfte wie böse Geister, aber auch Götter, Zauberer und Hexen galten als Krankheit auslösend.[11] Medizinmänner, Schamanen und Priester hatten die Rolle eines Arztes inne.[12] „Der Schamane (...) wurde zur Krankheits-austreibung offiziell ‚beauftragt’; er war Akteur zeremonieller Handlungen und Psychotherapeut im weitesten Sinne insofern, als er - sich selbst mit Rauschmitteln und Trommeln in Ekstase versetzend, um den Dämonen angemessen entgegentreten zu können - den Kranken (...) suggestiv zu beeinflussen suchte“.[13] Dies geschah mittels Zauberformeln, Gesängen, Tänzen, Drogen, Opfergaben und Geister-beschwörungen.[14]
Der Steinzeitmensch schlug ein Loch in den Kopf des Kranken, in der Annahme dass so der Krankheit verursachende böse Geist aus dem Körper entweichen kann.[15] Als belegt gelten rituelle Schädelkulte, welche schon von den Neandertalern ausgeübt wurden. Seit es den Menschen gibt, existieren religiöse, magische Handlungen und Spiritualität. Aber wie genau man in der Urzeit mit Geisteskranken umgegangen ist, welchen Stellenwert sie in der Gemeinschaft hatten, bleibt unklar. Anzunehmen ist, dass Geisteskranke im Überlebenskampf bei Nahrungsmittelknappheit ausgestoßen wurden, um das Überleben der restlichen Stammesmitglieder zu sichern. Sehr gut möglich aber auch, dass sie verehrt wurden, weil sie etwas Besonderes darstellten.[16]
2.2 Frühe Hochkulturen
Je nach Kultur und religiösem Hintergrund hatten die Völker ihre eigenen Ansichten darüber, welche Dämonen existieren, wann sie wirken und welche Krankheiten sie auslösen. Im Erkrankungsfall versuchte man, ähnlich wie bereits in der Urzeit, den dafür verantwortlichen Dämon zum Verlassen des Körpers zu überzeugen. Durch Musik und Schlaf versuchte man dem Dämon gut zuzureden, ihn zu besänftigen. Man glaubte auch daran, dass ein Verjagen böser Geister mittels Lärm, Schock und Flüssigkeitszufuhr möglich sei. Oder dass diese von guten Geistern verjagt werden konnten (die man zuvor erst einmal durch Gebet und Opfergaben um Hilfe anrufen musste).
Es ist überliefert, dass bereits frühe Hochkulturen über die Ursachen psychischer Beeinträchtigungen nachgedacht haben. Mit unterschiedlichen Methoden versuchte man eine Heilung herbei zu führen Von einer systematischen psychologischen Erforschung der psychischen Erkrankungen kann man allerdings noch nicht sprechen.[17] Ägypter und Babylonier haben bereits 2000 v. Chr. Symptome verschiedener Krankheiten beschrieben. Auch sie glaubten, dass übernatürliche bzw. göttliche Kräfte für psychische Krankheiten verantwortlich seien.[18] Schutzpatrone wurden angerufen[19] und böse Geister mittels Ritualen vertrieben. Der von einem bösen Geist Besessene galt als ansteckend und unrein. Um nicht selber krank zu werden trug man Amulette, zum Schutz vor dem bösen Blick, Mund bzw. Finger. Therapiert wurde mit so genannten Entsprechungszaubern, im Glauben, dass dadurch die Krankheit von einem Menschen auf ein Tier übertragen wird und so eine Heilung möglich sei.
Die Hebräer hielten in der Niederschrift des Alten Testamentes auch Krankheiten fest. Ihrer Überzeugung nach bringt die Sünde Krankheit und Tod in die Welt. Das Gebet, Fasten und Befolgen der hygienischen Vorschriften hätte dagegen eine heilende Wirkung.[20] Wahnsinn galt bei den Hebräern als Strafe Gottes, denn schon Gott sprach zum Volke Israel:
„Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt“.[21]
Die Hebräer glaubten also, dass alle Krankheiten dem Menschen von Gott auferlegt wurden und dass nur Gott allein diese wieder zum Verschwinden bringen kann.
2.3 Antike
Die Geschichte der Psychiatrie fängt eigentlich erst mit der Antike an. Mit den Griechen beginnt die Wissenschaft der Medizin und somit auch der Psychiatrie.[22] Sie nahmen als erste an, dass seelische Erkrankungen natürliche Ursachen haben müssten. Der übernatürliche Charakter von Geisteskrankheiten wurde zum ersten Mal überwunden, aus dem dämonologischen Ansatz wurde ein somatologischer. Mit seiner Viersäftetheorie war Hippokrates dabei der dominierende Arzt. Ihm zufolge beruhen alle Krankheiten auf einem Ungleichgewicht der im Körper vorkommenden vier Säfte: Gelbe und schwarze Galle, Schleim und Blut. Der Grundstein, dass psychische Probleme durch gestörte körperliche Vorgänge hervorgerufen werden, war somit gelegt.[23]
Daraufhin konnten sich weitere Theorien entwickeln, wie z. B. dass die Wanderung der Gebärmutter im Körper der Auslöser von Hysterie sei. Oder dass Krankheit von einer zu starken Zusammenziehung bzw. Erschlaffung des Gewebes abgeleitet werden kann; ersteres hätte Manie, zweiteres Depression zur Folge. Als Sitz der Geisteskrankheit galt das Gehirn. So verschieden die Theorien über den Ursprung von Krankheiten waren, so verschieden waren auch die Therapievorschläge. Platon propagierte Diät und Gymnastik gegen Krankheiten, Aristoteles gab den Ratschlag angestaute Leidenschaft durch Musik abzureagieren, empfehlenswert war aber auch Isolation, Ölumschläge, Aderlass, Schaukeln, Massagen, Spaziergänge, Lesen, Gespräche und Schachspielen. Kaltes frisches Wasser und Opium als Medikament wurde genauso wertgeschätzt, wie Traumdeutung und Inkubationsriten.[24]
Dem Heilgott Asklepios waren Wallfahrtstätten, eine Mischung zwischen Kirche und Spital, gewidmet. Sehr viele Kranke suchten dort Heilung. Als Therapie wurde dort Tempelschlaf angewendet. Dem betenden und badenden Kranken erschien in der Nacht der Heilgott um ihn zu heilen. Der Aufenthalt an einem prächtigen Ort, die Erfolg versprechenden Riten, das hoffnungsvolle Warten und letztendlich die Entspannung in Kombination mit Gerüchten über bereits erfolgte Heilungen dürften zur Beliebtheit dieser Wallfahrtstätten geführt haben.[25]
Die Römer führten psychische Probleme auf ein verzerrtes Denken und Wahrnehmen zurück, verursacht durch Ärger, Angst und Neid. Eine Heilung sei nur mit Hilfe eines Therapeuten möglich, denn der Mensch sei aufgrund übermäßiger Eigenliebe nicht in der Lage sich selbst zu heilen.[26] Celsus empfahl Schock, Furcht und Schmerz als heilsame Behandlungsmethoden, weil sie sich positiv auf den Geist, die Seele und die Gemütslage auswirken würden.[27] Soranus bevorzugte dagegen eine ganzheitliche und schonungsvollere Behandlung: Fasten, Aderlass, gute Ernährung, Spaziergänge sowie geistige Beschäftigung. In dieser Zeit galten Hirnerkrankungen in der Regel als unheilbar. Aus diesem Grund hätte ein Arzt auch moralisch das Recht eine Behandlung dieses Patientenkreises abzulehnen.[28]
2.4 Mittelalter
Als eine großartige medizinische Erfindung des Mittelalters gelten die Spitäler. Ansonsten ist auf dem Gebiet der Psychiatrie während dieser Zeit wenig Positives und Fortschrittliches passiert. Im Gegenteil, das Wenige, das die Griechen wussten, ging verloren. Nur noch Vereinzelte, wie z. B. Temkin, hielten an der griechisch-psychiatrischen Tradition, dem somatologischen Ansatz, fest. Vielmehr fiel die Psychiatrie auf frühere Kulturstufen zurück und der dämonologische Ansatz breitete sich wieder aus.[29]
2.4.1 Spitalgründungen im frühen Islam
Die Wissenschaft und Medizin wurde im Mittelalter von den Religionen dominiert. Im arabischen Raum entstanden unter dem Einfluss des Islam die ersten Spitäler. Geisteskrankenabteilungen wurden in Bagdad im 8. Jahrhundert, in Kairo im 9. Jahrhundert errichtet. Die Moslems standen den Geisteskranken recht wohlwollend gegenüber.[30] Diese Einstellung hängt mit dem frühen Islam zusammen. Dieser kennzeichnete sich auf dem medizinischen Gebiet durch Toleranz, Mitleid und Krankenpflege aus. Die Geisteserkrankungen wurden im islamischen Konzept zu einem wichtigen Thema.[31] „Mohammed, der möglicherweise selbst an Epilepsie litt, gab Anweisung, die Geistesgestörten - im Koran als ‚Gottesgesandte’ bezeichnet - freundlich aufzunehmen, zu ernähren, zu pflegen und geduldig mit ihnen umzugehen“.[32] Es wird überliefert, dass Mohammed Botschaften während seinen Träumen und Visionen empfangen habe. Deshalb galten Traumdeutung, pharmakologische Behandlungen durch Kräuter, Kaffee, Drogen und Wein, sowie psychotherapeutische Methoden (Gespräche), Zerstreuung, exorzistische Methoden und Musik als wirksame therapeutische Behandlungsmethoden.[33]
2.4.2 Irrenfürsorge im Westen
Im Westen hingegen wurden vergleichsweise recht spät (13. Jahrhundert) die ersten Irrenabteilungen in Spitälern gegründet.[34] Von einem Anstaltsboom kann man allerdings noch nicht sprechen, denn dieser kam erst viel später auf. Die Mehrheit der Geisteskranken verblieb in den Großfamilien und den jeweiligen Dorfgemeinschaften.[35] Keineswegs so sorgenfrei, wie uns die Vorstellung des in die Dorfgemeinschaft integrierten und von ihr akzeptiert und tolerierten Dorftrottels vorspiegeln möchte.[36]
„Man kann also jede romantische Vorstellung vom Irren früherer Tage, der unbehelligt auf dem Dorfanger herumhüpfen und im Schatten der Eiche vor sich hin grübeln durfte, getrost vergessen. (...) Wer durch Geistes- oder Gemütskrankheit gezwungen war, anders zu sein (...), wurde auf äußerst brutale und gefühllose Weise behandelt“.[37]
In dieser Zeit begannen Mönche die Medizin und die Krankenbetreuung zu dominieren. Sie boten sich als gelehrte Menschen, welche in den Gemeinden zu dieser Zeit eher selten anzutreffen waren, für diese Aufgabe geradezu an.[38] In Deutschland ist die beginnende Irrenfürsorge mit dem Alexianerorden eng verbunden. In ihrem Aachener Kloster haben sich die Alexianer bereits 1396 um Geisteskranke gekümmert.[39] Sie boten Schutz und Versorgung. Allerdings herrschte dort auch der Grundsatz ‚ora et labora’, das Prinzip Armut, Keuschheit und Gehorsam musste auch von den Kranken eingehalten werden.[40] Ein geregelter und strukturierter Tagesablauf, Arbeit, Ordnung und Einsamkeit galten als heilsam und die Bibel als wirkungsvollstes psychisches Therapiemittel.[41]
Die Unterbringung der Irren gestaltete sich im 14./15. Jahrhundert menschenunwürdig. Jene, die nicht in den Großfamilien und Dorfgemeinschaften lebten, wurden in Narrenkäfige (Dorenkisten) gesperrt. Dies waren Holzkisten, extra angefertigt für Irre, um sie darin an Hauptverkehrswegen ausstellen zu können. Man kann sich denken, dass sie dabei der allgemeinen Spottlust der Bevölkerung ausgeliefert waren.[42] Für die Verwahrung von tobenden und unruhigen Irren (so genannten Tollen) boten sich sehr gut Türme an, weil sie von fester Bauart und somit ausbruchsicher waren. Darin konnte man Tolle bequem wegsperren ohne sie permanent beaufsichtigen zu müssen. In Türmen wurden dann aber auch nur jene untergebracht, deren Angehörige den Unterhalt bestreiten konnten. Tolle ohne gesicherten Lebensunterhalt wurden wie oben beschrieben ausgestellt, damit die Reisenden spenden konnten. Gespendet wurde auch, allerdings nicht aus karitativen Gründen, sondern aus egoistischen Gründen, um die eigene Seele zu retten. Die ruhigen Irren (so genannte Narren) wurden dagegen in der Regel in Hospitalgebäuden aufgenommen.[43]
2.4.3 Das Krankheitsverständnis
Wie bereits erwähnt befand sich zu dieser Zeit die Irrenfürsorge in den Händen der Mönche, deren ärztliches Vorbild Christus war. Aufgrund ihres religiösen Hintergrundes führten sie Erkrankungen auf ein übernatürliches Wirken zurück und interpretierten psychische Erkrankungen entweder als von Gott auferlegte Prüfungen bzw. Strafen oder als Teufelswerk. So galt z. B. Lepra als eine Strafe Gottes. Da alles von Gott komme, sei er der oberste Arzt. Die Heilkunst der weltlichen Ärzte hänge allein von seiner Gnade ab. So gesehen sei der sündige Kranke durch negative Lebensführung mitverantwortlich für die eigene Krankheit.[44] Da man sich die Ursachen von psychischen Erkrankungen zum damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand anders nicht erklären konnte, war man überzeugt, dass Geisteskranke vom Teufel bzw. bösen Geistern besessen oder gar Hexen bzw. Hexer sein mussten.[45]
Denn wenn ein „Volk die Gründe für körperliches Leid nicht zu durchschauen vermag, lastet es dieses gerne dem Einfluß (sic!) und dem Wirken höherer, unsichtbarer Mächte an; es glaubt (...) unter einem bösen Fluch zu stehen oder von einem bösen Blick getroffen zu sein; die Leute schieben ihre Krankheiten der Zauberei und der Hexerei zu und wenden zur Heilung Beschwörungen, Zaubersprüche und magische Abwehrmittel an“.[46] Und genau das passierte auch im Mittelalter. Auf diesem Wege fand die Astrologie ebenso Eingang in die Medizin. Man begann zu glauben, dass zwischen individuellem Organismus, dem Sternzeichen und der Planetenkonstellation ein Zusammenhang herrschen müsste.[47] Deshalb seien bestimmte Behandlungsarten auch von astrologischer Konstellation abhängig.[48]
2.4.4 Die Behandlungsmethoden
Interessanterweise findet man im Mittelalter kaum Beobachtungen über Geisteskrankheiten in medizinischen Büchern der damaligen Ärzte, sondern hauptsächlich in Handbüchern und Aufzeichnungen der Teufelsaustreiber und Hexenverfolger. So erschien im Jahre 1486 der Hexenhammer, das berüchtigte Handbuch der beiden Dominikaner Krämer und Sprenger.[49] „Unter seiner Anleitung wurden über mehr als 200 Jahre hinweg Hunderttausende von geisteskranken Männern, Frauen und sogar Kindern gejagt, angeklagt, bis zum Geständnis gefoltert und im Falle eines Schuldspruchs öffentlich hingerichtet“.[50] Im Spätmittelalter wüteten in Europa schlimme Krankheitsepidemien. Krankheiten wie Pocken, Masern, Lepra und Pest veränderten das damalige Weltbild. Bei kollektiven Ängsten versucht der Mensch stets die Schuld für Missstände auf Andersartige zu projizieren.[51] Die Suche nach Sündenböcken für all diese göttlichen Strafen hatte begonnen und man wurde auch recht schnell fündig.
Aufgrund des Hexenhammers galt jeder als Hexe oder Hexer (und somit verantwortlich für jedes Übel), der psychologische Abweichungen bzw. Sonderlichkeiten aufwies, ganz egal ob sich dies in Gestalt von Geisteskrankheit, Impotenz, Verkrüppelung bzw. Unfruchtbarkeit zeigte, oder eine Person mit Säuglingssterblichkeit, Missernten, Viehsterben, Epidemien und Ehebruch in Verbindung gebracht wurde.[52] „Sinnestäuschungen oder exzentrisches Verhalten wurden ebenso als Hexenmerkmal oder Teufelswerk betrachtet wie nichtkonformes, d. h. nicht mit der bizarr-irrationalen und sexualfeindlichen Lehrmeinung der Kirche übereinstimmendes Denken und Benehmen“.[53] Pauleikhoff nennt noch weitere Motive für die Hexenverfolgung: „Ein ganzes Bündel (...) von menschlichen Machtgelüsten, Schwächen und Bosheiten aus politischen, religiösen, mythisch-archaischen Wurzeln liegen den Ketzerprozessen der Inquisition und den aus ihnen erwachsenden Hexenprozessen mit ihrem zusätzlichen unbändigen Frauenhaß (sic!) zugrunde“.[54]
Um all dem Ketzerischen und Teuflischen endlich Herr werden zu können, führte Papst Gregor IX am Anfang des 13. Jahrhunderts die Inquisition ein.[55] Angesichts der herrschenden Hungersnöte und Epidemien und der permanenten Androhung ewiger Verdammnis (= psychische Belastung) kamen im Mittelalter regelrechte wahnhafte Verkennungen, gepaart mit seelischen Desintegrationen auf, welche sich in Form von Massenpsychosen (Tanzwut, Flagellantentum, Kinderkreuzzüge, etc.) manifestierten.[56] Die Menschen fürchteten sich vor dem Wahn wie vor einer ansteckenden Krankheit.[57] Eine Hexenhysterie breitete sich im Volk aus.[58] Die Kirche tat ihr Möglichstes um alles Teuflische zu verbrennen. Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts[59] wurden im deutschen Raum schätzungsweise 25.000 Menschen Opfer der Inquisition. In Europa waren es ca. 100.000 Personen. Die Höhepunkte der Hexenverfolgung lagen in der Neuzeit, in den Zeiträumen 1587-1591, 1626-1630 und um das Jahr 1660 und somit nicht im Mittelalter, wie oft fälschlicherweise angenommen wird.[60] Den Hexenprozessen fielen viele psychisch gestörte und geisteskranke Menschen zum Opfer.[61]
Als Heilmittel gegen psychische Erkrankungen wurden im Mittelalter Teufelsaustreibungen durch Priester (so genannte Exorzismen[62] ) praktiziert. Genesung versprach man sich allerdings auch durch heilskräftige Reliquien. Z. B. pilgerten viele Geisteskranke nach Gheel (Belgien), um am Grab der heiligen Dymphna zu beten und um Heilung zu bitten. Schon damals begannen die Angehörigen Hoffnung auf ferne Orte zu setzen.[63] „Die Sorgen, sie zu heilen, und die, sie auszuschließen, trafen sich, man schloß (sic!) sie am heiligen Ort des Wunders ein“.[64] Oftmals ließen sie ihre Kranken bei den Bauern der Umgebung zurück, damit diese möglichst nahe am Wallfahrtsort weilen konnten. Die Angehörigen konnten sich so zum einen von ihrer ‚Last’ entledigen und zum anderen erhielten die Bauern gut ausnutzbare Stallknechte und Mägde. Deshalb ging diese Rechnung damals gut auf.[65] „Die sich allmählich daraus entwickelnde Familienpflege in Form von ‚Irrenkolonien’ hat ihre Tradition bis heute erhalten“.[66]
3 Die Wandlung des Irren zum psychisch kranken Patienten
Die Wandlung des Irren zum psychisch kranken Patienten vollzog sich zum einen recht mühsam, zum anderen recht langsam. Erst im 18. Jahrhundert kam der Gedanke auf, dass Irrsinn doch eigentlich heilbar sein müsste. Mit der Herausnahme der Geisteskranken aus den Zucht- und Arbeitshäusern und der gleichzeitigen Eröffnung von Heil- und Pflegeanstalten, erhielt der heilbare Irre, allerdings erst im 19. Jahrhundert, einen Anspruch auf medizinische Behandlung, was ihn dadurch zum Patienten machte.
3.1 Renaissance und Absolutismus
Da die dämonologischen Theorien im Prinzip unüberprüfbar und unwiderlegbar sind, kann man sie zu jeder Zeit willkürlich und missbräuchlich verwenden. Auch in diesen Epochen fanden die bereits unter Punkt 2.4.4 beschriebenen Hexenprozesse statt. Der Wissenschaft gelang es dennoch sich wieder auf die Antike zurück zu besinnen, so dass es ein Wiedererwachen naturwissenschaftlicher Interessen zu verzeichnen gab.[67] Die Gesellschaft legte in dieser Zeit großen Wert auf eine saubere und schöne Stadt, in der jedoch vagabundierende, asoziale, die Ordnung störende und gefährliche Personen unerwünscht waren.[68] Man lies den Randständigen kaum Raum. Alles wurde ausgegrenzt was gefährlich schien: Armut, Kriminalität, Krankheit und Behinderung. Die Irrenfrage war damals eng mit der Armenfrage verbunden. So herrschte im 17. Jahrhundert eine regelrechte Internierungspraxis.[69] „Die vom absolutistischen Staat betriebene Internierung der Geisteskranken war eine Polizeimaßnahme, die den Gedanken der ‚Sicherheit des Publikums’ in den Mittelpunkt stellte. Die Interessen der Allgemeinheit legten den Schutz vor dem Irren, nicht den Schutz des Irren nahe. In der Frühen Neuzeit hat dieser Grundsatz ohne Frage zu einer Brutalität im Umgang mit Geisteskranken geführt. Aber damals versteckte sich diese Brutalität nicht hinter Barmherzigkeit“.[70]
3.1.1 Das Krankheitsverständnis
Zur Zeit der Renaissance gab es auf dem Gebiet der Psychiatrie einiges Neues und Ehrenvolles, denn einige Mediziner (z. B. Agrippa, Paracelsus - dieser äußerte sich allerdings, wie unter Punkt 3.1.2 noch dargestellt wird, recht widersprüchlich) wandten sich vom dämonologischen Ansatz ab, und stellten fest, dass Besessene und Hexen nicht mit dem Teufel im Bunde standen, sondern auf natürliche Weise krank seien. Mit seinem Werk ‚De Praestigiis Daemonum’ verlangte Johannes Weyer eine primäre ärztliche Behandlung für Geisteskranke. Der wissenschaftliche Protest gegen die Hexenverfolgung hat begonnen.[71] Weyer bekannte gegen die Inquisitoren öffentlich Stellung:
„(...) diese blutgierigen Geier gehen über ihre Privilegien hinaus (...), indem sie sich anmaßen, auch über solche Dinge, die gar nicht ketzerisch, sondern anstößig oder sonst irrtümlich sind, abzuurteilen. Gegen arme Bauernweiber wüten sie auf das Grausamste und unterwerfen die wegen Zauberei Angeklagten oder Denunzierten, oft ohne daß (sic!) das mindeste rechtsbeständige Indizium vorliegt, einer schrecklichen und maßlosen Folter, bis sie ihnen das Bekenntnis von Dingen, an die sie nie gedacht haben, auspressen, um einen Vorwand zur Verurteilung zu gewinnen“.[72]
Nicht unüblich war auch folgende ‚Testvariante’, wobei das ‚Gottesurteil’ letztlich entschied, ob die der Hexe beschuldigte Person tatsächlich mit Satan im Bunde stand oder unschuldig war. Bei der so genannten Schwimmprobe lies man die der Hexerei Verdächtigten mit gefesselten Händen ins Wasser werfen. Wer wieder auftauchte, galt als Hexe und wurde auf dem Scheiterhaufen anschließend verbrannt. Wer nicht wieder auftauchte, galt als unschuldig.[73] Eine groteske Situation, da der Unschuldsbeweis dem Ertrunkenen auch keine Vorteile mehr einbrachte. Es war der Verdienst der damaligen Ärzte, dass man diesen Hexenwahn endlich zu überwinden begann, indem auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten die bisher angenommenen übernatürlichen Ursachen angezweifelt wurden und man sich auf die Suche nach biologischen Ursachen machte. Diesbezüglich bot Paracelsus eine neue Einteilung der Geisteskrankheiten:
- Epilepsie, gehe entweder vom Gehirn, der Leber, dem Herzen, den Eingeweiden oder den Gliedern aus
- Manie, kann durch körpereigene Destillationsdämpfe, welche ins Gehirn emporsteigen, ausgelöst werden
- wahrer Irrsinn, sei dauerhaft, teilweise angeboren und durch die Sterne beeinflussbar
- Sankt Veitstanz (Tanzwut), werde durch Einbildung, Nachahmung und Salze hervorgerufen
- Suffocatio intellectus, werde verursacht durch Eingeweidewürmer, übermäßige Nahrungsaufnahme, zu viel Schlaf, besondere Vorgänge im Uterus, sowie Schläge auf den Kopf
Gleichzeitig glaubte Paracelsus trotzdem noch an die Existenz der Hexen, die Unwetter erzeugen und Krankheiten, Impotenz und Missbildungen hervorrufen konnten. So sei Hexentum angeboren und äußerlich an krummen Nasen erkennbar. Hexen würden nach Verwitwung den Geschlechtsakt ablehnen oder diesen bevorzugt an Samstagen, Freitagen und Donnerstagen ausüben. Seiner Meinung nach gehörten sie erlöst, jedoch nicht verbrannt.[74] Übrigens, auch Luther hielt die Tötung von ‚Wechselbälgern’ und ‚Kretins’ für legitim.[75] Die Tötung dieser ‚Kinder Satans’ sah er als eine gute Sache an.[76]
3.1.2 Die Behandlungsmethoden
Die therapeutischen Behandlungsmethoden gestalteten sich in dieser Zeit recht vielseitig. Je nach Krankheit empfahl Paracelsus entweder Kräuter, Einhornpulver, Drogen, das Öffnen bestimmter Stellen - damit der aufsteigende Destillationsdampf entweichen kann, aber auch besondere Quintessenzen, welche gegen die Anziehungskraft der Sterne helfen würden oder dunkle Zellen, Salben, Wurmmittel, Abführmittel, kaltes Wasser und das Fasten. Er appellierte primär dafür die Irren zu verstehen, sie gut zu behandeln. Gleichzeitig forderte er die Allgemeinheit auf zu beichten, um so der eigenen Verrücktheit vorzubeugen. Ebenso könnten vom Teufel Besessene nicht durch ärztliche, also menschliche Behandlung geheilt werden, sondern nur durch die Macht Christi.[77] „Sollten sich Geisteskranke durch Zureden, Beten und Fasten nicht bessern, so empfiehlt Paracelsus deren Verbrennung, um dem Teufel keine Chance zu geben“.[78]
Noch bis 1573 war es in England legal Menschen, welche in den Wäldern herum liefen und sich für Werwölfe hielten, zu erschießen.[79] Da das Arbeiten seelischer Erkrankung vorbeuge, musste die Verhinderung von Müßiggang angestrebt werden. Besonders das Spinnen galt als passende Beschäftigungsmaßnahme. Daher kommt auch die Bezeichnung ‚Spinner’ als umgangssprachliches Synonym für Geisteskranke.[80] Im 17. Jahrhundert wurden Bluttransfusionen als Therapiemittel gegen Geisteserkrankungen eingeführt. Dabei wurde Lammblut den Geisteskranken transfundiert. Viele sind daran gestorben, deshalb wurde die Ausübung dieser Behandlungsmethode später wieder untersagt.[81]
3.1.3 Die Unterbringung
Wie bereits beschrieben (siehe 2.4.2) lebten die meisten der Geisteskranken in ihren Familien. Sie zu versorgen war somit die Aufgabe der Angehörigen. In der Regel wurden sie zu Hause unter unmenschlichen Bedingungen ‚gepflegt’. Nicht untypisch war die Haltung von schwierigen verrückten Angehörigen angekettet in ungeheizten, abgelegenen Räumen, Ställen und Verliesen, gebettet auf Stroh. So siechten sie dahin. Lediglich die Friedlichen hatten das Glück frei herum laufen zu dürfen.[82] Aus den alten Klostergebäuden sind in der Zwischenzeit im 16. Jahrhundert Zufluchtstätten für Siechende, Alte, Kranke und Irre entstanden. Die jeweiligen Landesfürsten begannen sich karitativ zu betätigen und gründeten Landesspitäler, die allen kranken Untertanen offen standen. Jetter beschreibt ganz gut, unter welchen Bedingungen die Insassen in Wirklichkeit, in einer für damals typischen Zufluchtstätte um 1588, leben mussten. Die Insassen wurden wie folgt, in Kategorien eingeteilt, räumlich von einander getrennt verwahrt:
- arbeitsfähige Leichtkranke
- gefähige Pflegebedürftige, sowie Blinde und Epileptiker
- Bettlägerige
- Wahnsinnige, Mondsüchtige, Stumme und Taube (angekettet)
- unruhige und unsaubere Geisteskranke (hüllenlos über einem Bach in einer Kiste untergebracht, damit Urin und Kot ins Wasser fallen und weggeschwemmt werden konnten)[83]
Ansonsten boten sich leerstehende Leprahäuser im 16. Jahrhundert für die Unterbringung von Irren, Arbeitsscheuen, Prostituierten, Straßenkindern, Kriminellen, Tippelbrüdern und streunendem Volk sehr gut an.[84] Im 17. Jahrhundert wurden Geisteskranke in Zucht- und Arbeitshäusern untergebracht.[85] Die absolutistischen Regierungen machten die Unterbringung von Irren in Gefängnissen zur Regel, man versuchte auf diesem Wege die herrschende Armut zu beseitigen.[86] In Gesellschaft von Dieben, arbeitsscheuem Gesindel, Landstreichern, Dirnen, Geschlechtskranken und politisch Andersdenkenden wurden Geisteskranke nun zu billigen Arbeitskräften für die Manufakturen jener Zeit.[87] In England etablierten sich so genannte Workhouses, diese entstanden mit der Industrialisierung.[88] Den arbeitsfähigen Bedürftigen wurde die Armenunterstützung gestrichen, sie wurden zu unangenehmen Arbeiten in einem Workhouse verpflichtet. Dies geschah zu ihrem Wohl, denn ganz nebenbei konnten so Tugenden wie Fleiß, Sauberkeit, Disziplin, Respekt und Gehorsam wieder antrainiert werden. Auch im deutschsprachigen Raum (besonders im 18. Jahrhundert) gab es vielfältige Kombinationen von Werk-, Armen-, Spinn-, Siechen-, Toll- und Zuchthäusern.[89]
3.2 Das 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert prallten die dämonologischen und die naturwissenschaftlichen Theorien aufeinander.[90] Im Zeitalter der Aufklärung zielte man auf die Befreiung vom Irrationalen und dem Unvernünftigen ab. Autonomes Denken und Vernunft wurden zu Leitideen. Der Staat legte Wert auf gesittete Bürger, funktionierende Soldaten und Steuerzahler. Aufgrund der Betonung der Vernunft wurde das Unvernünftige wie unter einem Vergrößerungsglas erst richtig sichtbar. Vernunft galt als dem Menschen angeboren, Unvernünftige mussten daher nur noch erzogen werden.[91]
3.2.1 Das Krankheitsverständnis
Wie bereits angedeutet wurde Krankheit als Unvernunft definiert. Man nahm an, dass jeder Mensch von Natur aus einen freien Willen hätte. Deshalb könne auch jeder entscheiden, ob er sozial angepasst und vernünftig leben möchte oder nicht. Alle die sich unvernünftig, deviant und störend verhalten, hätten sich deshalb logischerweise auch bewusst dazu entschlossen. Aus diesem Grunde musste der Unvernünftige zur Vernunft gezwungen werden. Wenn die Umerziehung nicht akzeptiert wurde, nahm die Gesellschaft von ihrem Recht Gebrauch denjenigen auszuschließen.[92]
Im 18. Jahrhundert kam die naturwissenschaftliche Sichtweise wieder auf. Der Fokus lag nun auf der Untersuchung von Nervenkrankheiten und die Erforschung von Reflexen, des Magnetismus und des Zentralnervensystems. Die Hysterie erklärte man sich (wie bereits in der Antike) mit dem Wandern der Gebärmutter im Körper.[93] In dieser Zeit „wurden psychopathologische Symptome beobachtet, beschrieben und zu Syndromen geordnet“.[94] Endlich lies man den Aberglauben und den Besessenheitswahn hinter sich. Es kam ein philanthropisches Interesse am Geisteskranken auf, gepaart mit einer Zuversicht, dass Irrsinn heilbar sein müsse. Man begann an die Möglichkeit zu glauben, dass Irre wieder zu ‚vollkommenen’ Menschen werden konnten.[95] Dass der Narr heilbar sei, wurde somit zum neuen Glaubensdogma für Ärzte.[96]
Auch begann man sich dafür zu interessieren, wie man Geisteserkrankungen (besonders Alkoholismus) vorbeugen könnte. Es kamen die ersten soziologischen Theorien über die Ursachen für Alkoholsucht auf. Nach der Theorie von Stahl (Animismus) hält die Seele alle Vorgänge des Körpers in Gang. Entsprechend sei Krankheit der Kampf zwischen der Seele und den schädlichen Einflüssen. Er war der Meinung, dass einige Geisteskrankheiten durch Organe verursacht seien. Durch die Entdeckung des Zentralnervensystems wurden Neurosen auf das Nervensystem und nicht mehr auf Destillationsdämpfe bzw. Säfteverderb zurückgeführt.[97]
[...]
[1] Vgl. Keck 2006, S. 23.
[2] Vgl. Rodenhausen 2006, S. 30.
[3] Um die Lesbarkeit zu erleichtern verwende ich in dieser Arbeit grundsätzlich die Männlichkeitsform.
[4] Trost/Schwarzer 2005, S. 17; Hervorhebung im Original.
[5] Pauleikhoff 1987, S. 3.
[6] Vgl. Koch 1996, S. 7ff.
[7] Vgl. Heitkamp 1987, S. 8ff.
[8] Vgl. Klee 1983, S. 395ff.
[9] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 1.
[10] Vgl. Haenel 1982, S. 18.
[11] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 1.
[12] Vgl. Haenel 1982, S. 18.
[13] Payk 2000, S. 14.
[14] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 1.
[15] Vgl. Pfingsten 1985, S. 13.
[16] Vgl. Arenz 2003, S. 15.
[17] Vgl. Pfingsten 1985, S. 12-13.
[18] Vgl. Hardtmann 1991, S. 7.
[19] Vgl. Payk 2000, S. 15.
[20] Vgl. Schott/Tölle 2006, S. 20-21.
[21] Küng 2005, S. 89.
[22] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 10.
[23] Vgl. Pfingsten 1985, S. 13.
[24] Vgl. Arenz 2003, S. 29-42.
[25] Vgl. Haenel 1982, S. 18-19.
[26] Vgl. Pfingsten 1985, S. 14.
[27] Vgl. Jetter 1981, S. 2.
[28] Vgl. Haenel 1982, S. 20.
[29] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 17-18.
[30] Vgl. Haenel 1982, S. 20.
[31] Vgl. Arenz 2003, S. 44.
[32] Payk 2000, S. 21.
[33] Vgl. Arenz 2003, S. 44.
[34] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 18.
[35] Vgl. Haenel 1982, S. 21.
[36] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 22.
[37] Shorter 2003, S. 14.
[38] Vgl. Arenz 2003, S. 45-46.
[39] Vgl. Jetter 1966, S. 53.
[40] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 22.
[41] Vgl. Jetter 1981, S. 6-7.
[42] Vgl. Schott/Tölle 2006, S. 234-235.
[43] Vgl. Jetter 1966, S. 53-55.
[44] Vgl. Arenz 2003, S. 46-50.
[45] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 18.
[46] Jaeggi/Rohner/Wiedemann 1990, S. 18.
[47] Einige Personen stimmen auch heute noch ihr Verhalten anhand der Mondphasen ab (z. B. Friseurtermine).
[48] Vgl. Arenz 2003, S. 48.
[49] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 18.
[50] Pfingsten 1985, S. 14.
[51] Vgl. Jaeggi/Rohner/Wiedemann 1990, S. 17.
[52] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 19.
[53] Payk 2000, S. 23.
[54] Pauleikhoff 1983, S. 379.
[55] Vgl. Haenel 1982, S. 22.
[56] Vgl. Payk 2000, S. 23-24.
[57] Vgl. Hardtmann 1991, S. 11.
[58] Die so genannten Hexen wussten oft über alternative Heilmethoden und Kräuterkunde Bescheid, dieses Wissen ging mit den Hexenverbrennungen für immer verloren.
[59] 1782 wurde in der Schweiz legal die letzte Hexe verbrannt.
[60] Vgl. Arenz 2003, S. 67.
[61] Vgl. Payk 2000, S. 23.
[62] Die katholische Kirche hält auch heute noch in einigen Fällen (siehe Anneliese Michel, 1976) die Ausübung des Exorzismus für notwendig.
[63] Vgl. Jetter 1981, S. 3.
[64] Foucault 1978, S. 28.
[65] Vgl. Jetter 1981, S. 4.
[66] Payk 2000, S. 20.
[67] Vgl. Pfingsten 1985, S. 15.
[68] Vgl. Haenel 1982, S. 23.
[69] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 21.
[70] Blasius 1994, S. 17.
[71] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 19.
[72] Payk 2000, S. 25.
[73] Vgl. Arenz 2003, S. 69.
[74] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 22-27.
[75] Vgl. Schott/Tölle 2006, S. 320.
[76] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 22.
[77] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 22-27.
[78] Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 22.
[79] Vgl. Haenel 1982, S. 23.
[80] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 21-22.
[81] Vgl. Haenel 1982, S. 24.
[82] Vgl. Shorter 2003, 15-17.
[83] Vgl. Jetter 1966, S. 117.
[84] Vgl. Jetter 1981, S. 10-11.
[85] Vgl. Blasius 1994, S. 16.
[86] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 29.
[87] Vgl. Blasius 1980, S. 21.
[88] Vgl. Dörner 1984, S. 20.
[89] Vgl. Wendt 1995, S. 14ff.
[90] Vgl. Arenz 2003, S. 83.
[91] Vgl. Haenel 1982, S. 24.
[92] Vgl. Pfingsten 1985, S. 15.
[93] Vgl. Clausen/Dresler/Eichenbrenner 1996, S. 23.
[94] Arenz 2006, S. 83.
[95] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 34.
[96] Vgl. Jetter 1981, S. 35.
[97] Vgl. Ackerknecht 1985, S. 35-37.
- Quote paper
- Daliborka Horvat (Author), 2007, Ein historischer Überblick über sozialpädagogische Behandlungsformen bei psychisch auffälligen Probandinnen und Probanden, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74587
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