Es wird untersucht, ob die verschiedenen Typen von Familienpolitik, die sich in Westeuropa erkennen lassen, eine jeweils unterschiedliche Wirkung auf das Geburtenverhalten bzw. die Fertilität haben und, falls ja, wie diese unterschiedlichen Wirkungen aussehen und entstehen. Oder, ob die Familienpolitik letztlich keine großen Unterschiede im Geburtenverhalten bewirkt und bewirken kann.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Entwicklung des Geburtenverhaltens in Westeuropa
2.1 Begriffsbestimmung „Fertilität“ und „Generatives Verhalten“
2.2 Kenn- und Messziffern der Fertilität
2.3 Geburtenentwicklung in Westeuropa
2.3.1 Der Erste Geburtenrückgang
2.3.2 Der Zweite Geburtenrückgang
2.4 Bestimmungsgründe der Geburtenentwicklung in Westeuropa
2.4.1 Bestimmungsgründe des Ersten Geburtenrückgangs
2.4.2 Bestimmungsgründe des Zweiten Geburtenrückgangs
3 Familienpolitik
3.1 Begriffsbestimmung „Familienpolitik“
3.2 Familienpolitische Interventionsformen
3.3 Familienpolitik-Typologien
3.3.1 Familienpolitik-Typologie von Strohmeier
3.3.2 Familienpolitik-Typologie von Gauthier
4 Literaturübersicht: Die Wirkung familien- und bevölkerungspolitischer Maßnahmen auf das Geburtenverhalten
4.1 Demographischer Ansatz der Wirkungsforschung
4.1.1 Arbeiten des demographischen Ansatzes der Wirkungsforschung
4.1.2 Zusammenfassung und Beurteilung der Arbeiten des demographischen Ansatzes der Wirkungsforschung
4.2 Soziologischer Ansatz der Wirkungsforschung
4.2.1 Arbeiten des soziologischen Ansatzes der Wirkungsforschung
4.2.2 Zusammenfassung und Beurteilung der Arbeiten des soziologischen Ansatzes der Wirkungsforschung
4.3 Kritische Betrachtung der Literatur und Schlussfolgerungen für diese Arbeit
5 Vergleich verschiedener Typen von Familienpolitik und ihrer Wirkung auf das Geburtenverhalten
5.1 Verschiedene Typen von Familienpolitik
5.1.1 Familienpolitik-Typologien von Strohmeier und Gauthier
5.1.2 Darstellung der Familienpolitik in den typologisierten Ländern
5.1.2.1 Familienpolitik in Frankreich
5.1.2.2 Familienpolitik in Deutschland
5.1.2.3 Familienpolitik in Österreich
5.1.2.4 Familienpolitik in Dänemark
5.1.2.5 Familienpolitik in Schweden
5.1.2.6 Familienpolitik in Italien
5.1.2.7 Familienpolitik in Irland
5.1.3 Neue Familienpolitik-Typologie
5.2 Wirkungsweise von Familienpolitik auf das Geburtenverhalten
5.2.1 Wirkungsmodelle von Strohmeier und Kaufmann et. al.
5.2.2 Neues Wirkungsmodell
5.3 Wirkungshypothesen und Überprüfung
5.3.1 Vergleichende Wirkungshypothesen für verschiedene Familienpolitik-Typen
5.3.2 Überprüfung der vergleichenden Wirkungshypothesen
5.3.3 Ergebnisse der Überprüfung und Schlussfolgerungen
6 Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: Familienpolitik-Typologie von Strohmeier
Abb.2: Familienpolitik-Typologie nach Gauthier
Abb.3: Modell der Wirkung staatlicher Maßnahmen auf die generative Entscheidung von Kaufmann et. al.
Abb.4: Einfaches Wirkungsmodell nach Strohmeier
Abb.5: Erste Erweiterung des Wirkungsmodells nach Strohmeier
Abb.6: Zweite Erweiterung des Wirkungsmodells nach Strohmeier
Abb.7: Endversion des Wirkungsmodells von Strohmeier
Abb.8: Familienpolitik-Typologie von Strohmeier
Abb.9: Familienpolitik-Typologie nach Gauthier
Abb.10: Neue Familienpolitik-Typologie
Abb.11: Modell der Wirkung von Familienpolitik auf die Fertilität von Strohmeier
Abb.12: Modell der Wirkung staatlicher Maßnahmen auf die generative Entscheidung von Kaufmann et. al.
Abb.13: Neues Modell der Wirkung von Familienpolitik auf die Fertilität
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) der Ländervertreter
Tab. 2: Kohortenfertilitätsrate (CKR) der Ländervertreter (Geburtskohorte 1965)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
„Kinder kriegen die Leute immer.“
(Konrad Adenauer)
Diese Aussage, die Konrad Adenauer vor etwa 50 Jahren traf, hat längst ihre Gültigkeit verloren. Das „Kinderkriegen“ ist keine Selbstverständlichkeit mehr und die Geburtenzahlen sind nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa auf einem Niveau angelangt, das den einfachen Ersatz der Elterngeneration nicht mehr gewährleistet.
Die Konsequenzen sind zahlreich und in jüngster Zeit vielfach diskutiert worden. Die Schwierigkeiten, die die damit ausgelöste Alterung der Gesellschaft in der Altersversorgung, dem Rentensystem oder dem Gesundheitswesen verursacht, sind nur einige Aspekte dieser Diskussion.
Das „Kinderkriegen“ ist heute zum Politikum geworden.
Und die Familienpolitik hat Konjunktur. Während Ex-Bundeskanzler Schröder dieses Politikfeld zu Beginn seiner Amtszeit noch als Gedöns bezeichnete, gewann es in den letzten Jahren massiv an Bedeutung und avancierte zu einem zentralen Wahlkampfthema der letzten Bundestagswahl, das nun im Zentrum des medialen und öffentlichen Interesses steht.
Dabei geht es heute vorrangig um die Erhöhung der Geburtenzahlen, also um das bevölkerungspolitische Motiv der Familienpolitik, das wegen der rassistischen NS-Bevölkerungspolitik hierzulande lange Zeit ein Tabu war. Bildete vorher der Ausgleich der finanziellen Lasten von Familien den Mittelpunkt der deutschen Familienpolitik, bezeichnet Bundesfamilienministerin von der Leyen nun die Steigerung der Geburtenrate als ihr übergeordnetes Ziel.
Uneinigkeit besteht im politischen Diskurs allerdings darüber, welches die geeigneten Maßnahmen sind, um dieses Ziel zu erreichen. Sollen die öffentlichen Gelder besser in weitere finanzielle Unterstützungen für Familien, wie das soeben eingeführte Elterngeld, fließen?
Oder ist der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und somit der kürzlich von der SPD unterbreitete Vorschlag, finanzielle Unterstützungen, in diesem Fall das Kindergeld, zugunsten des Ausbaus von Kinderbetreuungseinrichtungen „einzufrieren“, der richtige Weg?
Mit jeweils unterschiedlichem Einsatz von staatlichen Unterstützungsleistungen versuchen auch Europas Familienpolitiker die Geburtenraten zu steigern. Dabei lassen sich verschiedene Typen von Familienpolitik erkennen, aus deren Betrachtung sich die folgenden Fragen ergeben:
Welcher Typ von Familienpolitik ist der „richtige“ zur Erhöhung der Geburtenzahlen? Der Typ, der Familien vor allem finanziell unterstützt oder der, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert?
Und: Gibt es überhaupt einen „richtigen“? Oder lassen sich letztlich keine Unterschiede zwischen der Wirkung verschiedener Typen von Familienpolitik auf das Geburtenverhalten ausmachen?
Ebendiesen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Thema „Verschiedene Typen von Familienpolitik und ihre Wirkung auf das Geburtenverhalten“ nachgegangen.
Es wird untersucht, ob die verschiedenen Typen von Familienpolitik, die sich in Westeuropa[1] erkennen lassen, eine jeweils unterschiedliche Wirkung auf das Geburtenverhalten bzw. die Fertilität haben und, falls ja, wie diese unterschiedlichen Wirkungen aussehen und entstehen. Oder, ob die Familienpolitik letztlich keine großen Unterschiede im Geburtenverhalten bewirkt und bewirken kann.
Der Aufbau dieser Arbeit ist derart gestaltet, dass Kapitel 2 bis 4 die Grundlagen darstellen. Die Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Kapitel sollen in die Wirkungsanalyse in Kapitel 5 einfließen.
Zunächst werden in Kapitel 2, nach einer Einführung in Begriff und Kennziffern der Fertilität, die Entwicklung des Geburtenverhaltens in Westeuropa und deren Bestimmungsgründe dargestellt. Aus der Betrachtung dieser Gründe werden mögliche Ansatz- oder Einwirkpunkte für die Familienpolitik abgeleitet, die in der Wirkungsanalyse berücksichtigt werden sollen.
In Kapitel 3 wird der zentrale Begriff dieser Arbeit, Familienpolitik, definiert und von einem benachbarten Politikbereich, der Bevölkerungspolitik, abgegrenzt. Außerdem werden verschiedene familienpolitische Interventionsformen sowie einige Familienpolitik-Typologien vorgestellt, die als Grundlage für die folgende Typologisierung von Familienpolitik dienen werden.
Darauf folgt in Kapitel 4 eine Literaturübersicht bezüglich der Wirkung von Familien- und Bevölkerungspolitik auf das Geburtenverhalten, die den momentanen Forschungsstand wiedergibt. Die Arbeiten bezüglich dieser Thematik werden in zwei verschiedene Ansätze der Wirkungsforschung unterteilt. Aus der kritischen Betrachtung der Methodik und Ergebnisse der jeweiligen Ansätze werden Schlüsse für die Vorgehensweise in der Wirkungsanalyse gezogen.
In Kapitel 5 erfolgt der eigentliche Vergleich der Wirkungen von verschiedenen Familienpolitik-Typen auf das Geburtenverhalten, der die oben aufgeworfenen Fragen beantworten soll. Dabei werden zunächst verschiedene Typen von Familienpolitik und ihre Ländervertreter in Westeuropa benannt. Anschließend wird der Wirkungsanalyse ein theoretisches Wirkungsmodell zugrunde gelegt, das die Entstehung der Wirkung von Familienpolitik auf das Geburtenverhalten beschreibt. Schließlich werden anhand dieses Modells vergleichende Wirkungshypothesen für die verschiedenen Familienpolitik-Typen aufgestellt, die dann an Daten zum Geburtenverhalten überprüft werden, um die forschungsleitenden Fragen zu beantworten.
Zum Abschluss werden in Kapitel 6 die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst und Schlussfolgerungen für die deutsche Familienpolitik aus ihnen gezogen.
2 Die Entwicklung des Geburtenverhaltens in Westeuropa
In diesem Kapitel werden das Geburtenverhalten in Westeuropa und dessen Bestimmungsgründe dargestellt.
In allen Ländern Westeuropas hat während der letzten 100 Jahre eine ähnliche Entwicklung stattgefunden.
Nach einer kurzen Einführung in Begriff (2.1) und Kennziffern der Fertilität (2.2) wird diese Entwicklung des Geburtenverhaltens nachgezeichnet (2.3).
Die Literatur hinsichtlich der Ursachen und Bestimmungsfaktoren dieses spezifischen Geburtenverhaltens ist zahlreich und fast unübersehbar. Hier werden die wichtigsten und meistgenannten Ursachen und Faktoren dargestellt und erläutert (2.4).
Die Betrachtung der Bestimmungsfaktoren spielt hier insofern eine wichtige Rolle, als dass aus ihr abgeleitet werden kann, welche Faktoren zur Geburtenbeschränkung überhaupt der politischen Beeinflussung zugänglich sind und wo demzufolge mögliche Ansatz- bzw. Einwirkpunkte von Familienpolitik bestehen.
2.1 Begriffsbestimmung „Fertilität“ und „Generatives Verhalten“
Zur Beschreibung des Geburtenverhaltens werden in der Bevölkerungs- und Familienwissenschaft die Begriffe Fertilität und Generatives Verhalten verwendet.
In der wissenschaftlichen Sprache hat sich der lateinische Begriff Fertilität gegenüber der deutschen Bezeichnung Fruchtbarkeit durchgesetzt, da letztere im allgemeinen Sprachgebrauch oft die biologische Fruchtbarkeit einer Frau, die Fecundität, bedeutet (vgl. Höpflinger 1997:47)
Unter dem Begriff Fertilität wird hingegen „das Resultat eines Prozesses der Nachwuchserzeugung oder Nachwuchsbeschränkung“ (ebd.) verstanden.
Fertilität kann auf zwei Ebenen erfasst werden. Zum einen lässt sie sich auf einer aggregierten Ebene erfassen, indem zum Beispiel das Geburtenniveau verschiedener Länder miteinander verglichen wird. Zum anderen kann Fertilität auf der Individualebene analysiert werden, wo sich das Geburtenverhalten von Frauen bzw. Paaren beobachten lässt (vgl. ebd.).
Dieses Geburtenverhalten, als Ergebnis einer vielfältigen Kombination von Verhaltensweisen und Unterlassungen, wird seit seiner Einführung durch Mackenroth (1953) unter dem Begriff des Generativen Verhaltens gefasst.
Höpflinger (1997:47) definiert dieses wie folgt: „Generatives Verhalten bezieht sich sowohl auf jene Handlungen, die direkt auf Fortpflanzung abzielen als auch auf Verhaltensweisen, die sich aufschiebend oder einschränkend auf die Fortpflanzung richten.“
Die Fertilität einer Bevölkerung wird somit zum einen durch das generative Verhalten von einzelnen Individuen und Paaren bestimmt, zum anderen aber auch durch die Bevölkerungsstruktur. Von Bedeutung sind hier vor allem die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter und die Generationenabstände (vgl. Höpflinger 1997:48).
2.2 Kenn- und Messziffern der Fertilität
Um die Fertilität einer Bevölkerung in Zahlen fassen zu können, gibt es verschiedene Kenn- und Messziffern. Die gebräuchlichsten von ihnen werden im Folgenden vorgestellt (vgl. BiB 2004:88f; Schmid 1976:166ff; Hauser 1982:123).
Die rohe Geburtenziffer (CBR = Crude Birth Rate) berechnet sich durch die Geburtenzahl je 1000 der mittleren Bevölkerung[2] in einem Jahr:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nachteil dieser Kennziffer ist allerdings, „dass sie von der Altersstruktur der Bevölkerung beeinflusst ist und die Geburten auf die gesamte Bevölkerung bezogen sind, in der auch die sehr jungen und alten Menschen enthalten sind, die selbst nicht zur Anzahl der Neugeborenen beitragen“ (BiB 2004:88).
Um diesen Altersstruktureffekt auszuschließen, berechnet man die altersspezifische Fruchtbarkeitsziffer (ASFR = Age Specific Fertility Rate).
Diese ergibt sich, indem man die Geburten nicht mehr auf 1000 der Bevölkerung, sondern auf 1000 Frauen eines Alters x bezieht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Addiert man die 35 altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten für die Frauen im Alter von 15 bis 49 (die weibliche Reproduktionsphase), so erhält man die geläufigste Kennziffer zur Messung der Fertilität, die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR = Total Fertility Rate).
„Die TFR ist ein vielverwendetes, von Geschlecht und Altersaufbau unbeeinflusstes, summiertes Fruchtbarkeitsmaß. […] Sie ist auch äußerst geeignet für Vergleiche in Raum und Zeit und gilt – nebst der CBR – als wichtigste Fruchtbarkeitsziffer“ (Hauser 1982:123).
Oft wird die zusammengefasste Geburtenziffer als durchschnittliche Kinderzahl einer Frau gedeutet, was jedoch falsch ist, da das Maß die durchschnittliche Kinderzahl einer künstlichen Kohorte wiedergibt.
Die genaue Aussage der TFR (in diesem Fall für 2001 = 1,349) lässt sich folgendermaßen beschreiben: „Würden 1000 Frauen im Jahr 2001, also in nur einem Kalenderjahr, den Altersabschnitt zwischen 15 und 49 Jahren durchleben, dann hätten sie 1349 Kinder zur Welt gebracht“ (BiB 2004:89).
Hiervon zu unterscheiden ist die tatsächliche endgültige durchschnittliche Kinderzahl von Frauengeburtsjahrgängen, die Kohortenfertilitätsrate (CKR = Completed Fertility Rate), die sich aus der Kumulation der verschiedenen ASFR über die gesamte Reproduktionsphase einer Frauenkohorte ergibt (vgl. Hauser 1982:123).
Wichtig zur Beurteilung der Geburtenhäufigkeit ist, ob diese ausreicht, um die Elterngeneration zu ersetzen. Um dies zu ermitteln, wird die so genannte Nettoreproduktionsziffer oder –rate (NRR) errechnet, in die sowohl die Geburten- als auch die Sterbehäufigkeit einbezogen wird.
Ausgegangen wird von 100.000 Frauen. Anhand der altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten wird ermittelt, wie viele dieser Frauen bis zum Ende ihrer Reproduktionsphase überleben. Sind von den 100.000 Frauen im Laufe ihres Lebens wiederum 100.000 Mädchen zur Welt gebracht worden, beträgt die Nettoreproduktionsziffer 1 und ein einfacher Ersatz der Elterngeneration ist erfolgt. Übersteigt die Ziffer den Wert 1, ist die Kindergeneration größer als die der Eltern, liegt sie unter 1, so ist die Kindergeneration kleiner als die der Eltern.
Für den einfachen Ersatz der Elterngeneration ist bei den heutigen Sterbeverhältnissen eine zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) von 2,1 erforderlich (vgl. BiB 2004:19,89; Schwarz 1997:484).
2.3 Geburtenentwicklung in Westeuropa
Zwei große Geburtenrückgänge haben während der letzten 100 Jahre in Westeuropa stattgefunden. Sie werden als der Erste Geburtenrückgang (2.3.1) und der Zweite Geburtenrückgang (2.3.2) bezeichnet und im Folgenden beschrieben.
2.3.1 Der Erste Geburtenrückgang
Der Erste Geburtenrückgang, der auch als säkularer Geburtenrückgang bezeichnet wird, ereignete sich in den meisten westeuropäischen Ländern zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von 1890 bis 1915 sank die zusammengefasste Geburtenziffer in Deutschland beispielsweise von 4,68 auf 2,92 (vgl. Höpflinger 1997:40).
Ausnahmen bilden Frankreich, wo der Geburtenrückgang schon circa 1800 stattfand, sowie Irland, wo die Geburtenzahlen erst 1929 zu sinken begannen (vgl. ebd.).
In dieser Zeit fand erstmals in der Geschichte kein einfacher Ersatz der Elterngeneration mehr statt. Für diesen wäre seinerzeit noch eine zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) von 3,49 notwendig gewesen (vgl. BiB 2004:19).
Dieser Geburtenrückgang wird häufig anhand des Modells des Ersten Demographischen Übergangs beschrieben . Dieses Modell wurde 1945 von Notestein eingeführt und gegen Ende der sechziger Jahre von der „Population Division“ der UNO weiterentwickelt.
Es beschreibt das Zusammenspiel von Geburten- und Sterbehäufigkeiten bei ihrer Transition von einem sehr hohen zu einem sehr niedrigen Niveau, die jedes Land im Verlauf seiner ökonomischen und sozialen Modernisierung erfährt.
Der Erste Demographische Übergang verläuft idealtypisch in fünf Phasen (vgl. BiB 2004:9ff; Herter-Eschweiler 1998:24; Höpflinger 1997:32f):
In der ersten, Prätransformationsphase, befinden sich sowohl Geburten- als auch Sterberate auf einem sehr hohen Niveau. Dieser Bevölkerungsprozess geht mit der agrarischen Produktionsweise einher.
Die Frühtransformationsphase fällt in die Zeit der einsetzenden Industrialisierung in Europa. In ihr beginnen zunächst die Sterbeziffern zu sinken (was vor allem durch einen Rückgang der Säuglingssterblichkeit bedingt ist), während die Geburtenziffern unverändert hoch bleiben.
Die dritte Phase ist die eigentliche Transformationsphase. In dieser beginnt die Geburtenhäufigkeit ebenfalls schnell zu sinken, wobei sie jedoch immer noch hinter der Sterbeziffer zurückliegt.
In der Spättransformationsphase nähert sich die Geburtenhäufigkeit dem bereits niedrigen Niveau der Sterbeziffer an, das sich kaum noch nach unten bewegt.
Schließlich, in der Posttransformationsphase, haben sich sowohl Geburten- als auch Sterbehäufigkeit auf einem niedrigen Niveau eingependelt.
Der Demographische Übergang ist damit abgeschlossen.
Hinsichtlich der Familienbildung wird der Erste Geburtenrückgang so beschrieben: „Im Ersten Geburtenrückgang bildete sich die heutige „Normalfamilie“, in der zwei Generationen leben, heraus. Vorherrschender Familientyp wurden die auf Liebe und Ehe gegründeten Eltern-Kind(er)-Familien, in denen die Kinder eine wachsende Zuneigung und Aufmerksamkeit erfuhren“ (BiB 2004:21).
2.3.2 Der Zweite Geburtenrückgang
Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begannen die Geburtenzahlen in den westeuropäischen Ländern erneut stark zu sinken. Der Zweite Geburtenrückgang erfasste sie jedoch in unterschiedlichen Ausmaßen.
Dorbritz (2000:242) fasst die Fertilitätsmuster der verschiedenen Staaten Europas während des Zweiten Geburtenrückgangs in vier Ländergruppen zusammen:
In Nordeuropa (u.a. Dänemark und Skandinavien) findet der Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1975 statt. Daran schließt sich eine stabile niedrige Phase bis Mitte der achtziger Jahre an. Ein begrenzter Wiederanstieg der Geburtenhäufigkeit zwischen 1985 und 1990 führt zu einem im europäischen Vergleich höheren Geburtenniveau.
In Westeuropa (u.a. (West-)Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Irland) findet der Geburtenrückgang ebenfalls zwischen 1965 und 1975 statt. Danach verbleiben die Geburtenzahlen auf einem stabil niedrigen Niveau. Eine Ausnahme bildet hier Irland, das in den sechziger Jahren eine außerordentlich hohe zusammengefasste Geburtenziffer von circa 4 aufwies, die allmählich bis in die neunziger Jahre auf circa 2 zurückging.
In Südeuropa (u.a. Italien, Spanien und Portugal) setzt der Geburtenrückgang gleichfalls Mitte der sechziger Jahre ein, verläuft jedoch langsamer und klingt erst Ende der achtziger Jahre auf einem sehr niedrigen Niveau aus.
In den Reformstaaten (u.a. Ostdeutschland, Polen und Ungarn) folgt einem schwachen Geburtenrückgang um 1970 eine im Wesentlichen stabile Phase auf einem höheren Geburtenniveau. Erst der soziale Wandel in den neunziger Jahren bringt schockartige Rückgänge in den Geburtenzahlen.
In keinem der westeuropäischen Länder liegt die zusammengefasste Geburtenrate heute über dem Bestanderhaltungsniveau von 2,1. Dies macht sie laut Definition der United Nations zu so genannten Niedrig-Fertilitäts-Ländern (vgl. Dorbritz 2000:237f). Es findet in keinem dieser Länder ein einfacher Ersatz der Elterngeneration mehr statt.
Der Zweite Geburtenrückgang wird in Anlehnung an den Ersten Demographischen Übergang auch als Europes Second Demographic Transition (vgl. van de Kaa 1987) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist jedoch umstritten, da der Zweite Geburtenrückgang eigentlich nur ein Geburtenrückgang sei und sich an den Sterbeverhältnissen nichts geändert habe (vgl. BiB 2004:13).
Bezüglich der Familienbildung beschreibt das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2004:21) den Zweiten Geburtenrückgang wie folgt: „Im Zweiten Geburtenrückgang beginnt die alleinige Dominanz dieser Familienform [„Normalfamilie“; Anm. d. Verf.] zu schwinden. […] Heiraten und Kinder haben wird weniger selbstverständlich. Das ist die Grundlage, auf der sich neben der Familie vom Grundmodell abweichende, auch kinderlose Formen des Zusammenlebens etablieren können.“
Strohmeier (1993:17) stellt übereinstimmend fest, dass die Familien mit dem Ersten Demographischen Übergang lediglich kleiner geworden seien, mit dem Zweiten Übergang in den 1960er und 1970er Jahren seien sie hingegen weniger geworden.
2.4 Bestimmungsgründe der Geburtenentwicklung in Westeuropa
Wie einleitend bereits erwähnt, gibt es zur Erklärung der beschriebenen Geburtenentwicklung bzw. des Ersten und Zweiten Geburtenrückgangs in Westeuropa keinen paradigmatischen Konsens, sondern eine Vielzahl an Thesen und Theorien.
Einigkeit besteht in der betrachteten Literatur jedoch darüber, „dass es sich bei der Beschränkung der Kinderzahl in der Familie um ein multifaktorielles Bedingungsgeflecht handelt und dass demzufolge monokausale Erklärungen den vielfältigen Entscheidungsprozeß nicht ausreichend erklären“ (Nave-Herz 1997:24).
Höhn (1986:313) vertritt diesbezüglich die Auffassung, „dass es sich bei den Bestimmungsgründen des generativen Verhaltens um ein Geflecht von Ursachen handelt, und dass diese Gründe auf der Mikroebene der Individuen und Familien, der Mesoebene der Bezugsgruppen sowie auf der Makroebene (Wirtschafts- und Sozialstruktur, Normen und Werte) zu suchen sind.“
Die in der Literatur am häufigsten genannten Bestimmungsgründe des Ersten Geburtenrückgangs (2.4.1) und des Zweiten Geburtenrückgangs (2.4.2) werden im Folgenden dargestellt und erläutert.
2.4.1 Bestimmungsgründe des Ersten Geburtenrückgangs
Der Erste Geburtenrückgang wird vielfach auf einen Funktionswandel von Kindern im Zuge der Industrialisierung und des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates zurückgeführt. Kinder seien mit zunehmender industrieller Entwicklung und beruflicher Spezialisierung als Arbeitskräfte immer mehr entwertet worden. Hinzu seien das Verbot der Kinderarbeit und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gekommen, die den Eltern die Verfügungsgewalt über die kindliche Arbeitskraft genommen hätten. Außerdem hätten Kinder mit Einführung der Sozialversicherung ihren Nutzen als Sicherung der älteren Familienmitglieder bei Krankheit und im Alter verloren (vgl. Nave-Herz 1997:22; BiB 2004:19f; Gerlach 2004:49; Höhn 1986:314).
Dies habe zu einer Verschiebung von materiellen zu immateriellen Werten von Kindern geführt und eine Reduktion der Kinderzahl zur Folge gehabt.
Nave-Herz (1997:22) führt diesbezüglich aus: „Je niedriger nun der technische Industrialisierungsgrad eines Landes ist, umso eher werden materielle und sozial-normative Werte mit Kindern verknüpft. […] Je höher der technische Industrialisierungsgrad eines Landes ist, desto stärker werden mit Kindern allein immaterielle Werte verbunden, wie die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, z.B. die von Kleinkindern ausgehende expressive Stimulation; die Freude sie aufwachsen zu sehen; das Zärtlichsein mit ihnen wird geschätzt u.a.m., und dazu reichen weniger Kinder aus.“
Andere Autoren führen die Beschränkung der Kinderzahlen auf das durch den oben beschriebenen Wandel veränderte Kosten-Nutzen-Verhältnis von Kindern zurück. Sowohl in Lindes Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung (1984) als auch in Caldwells Wealth-Flow-Theory of Fertility Decline (1982) stellt das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Kindern einen zentralen Ansatzpunkt zur Erklärung des Geburtenrückgangs dar. Sie argumentieren, dass sich der Nutzen von Kindern durch ihren Wegfall als Arbeitskräfte verringert habe, während gleichzeitig ihre Kosten, beispielsweise durch den Schulbesuch, gestiegen seien. Somit sei es für Eltern unökonomisch geworden, viele Kinder zu haben (vgl. Höpflinger 1997:66ff).
Gerlach (2004:49), Höhn (1986:314) und das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2004:20) führen die durch den Wandel entstandene neue Stellung der Kinder als Grund für geringere Kinderzahlen an.
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2004:20) stellt dazu fest: „Aber auch die Situation der Kinder selbst hatte sich verändert. Der Wandel von Gemeinschaft zu Gesellschaft […] bot neue Chancen, denn der Lebensweg war nun nicht mehr starr vorgezeichnet, sondern gestaltbarer. Es ging zunehmend um das Kind selbst, um seine Erziehung und Ausbildung, die für die Lebensperspektive verantwortlich war. Schnell setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Familie ihre neue Funktion mit weniger Kindern viel besser erfüllen kann.“
Dieses Verhalten habe sich zuerst in den höheren Schichten, wie dem Bürgertum durchgesetzt, sich jedoch nach und nach auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet (vgl. ebd.).
Als weitere Faktoren des säkularen Geburtenrückgangs werden die zunehmende Bildung, die Abwendung von religiösen traditionellen zu materiellen Werten, die Emanzipation der Frau sowie der Übergang von der ländlichen zur städtischen Lebensweise genannt (vgl. Höhn 1986:312; BiB 2004:19).
2.4.2 Bestimmungsgründe des Zweiten Geburtenrückgangs
Für den Zweiten Geburtenrückgang, der Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts einsetzte, werden andere Entwicklungen verantwortlich gemacht, wie etwa Individualisierungstrends in der Gesellschaft (vgl. Dorbritz 2004:321; Gerlach 2004:50; Kaufmann 1990:385f).
„Unter Individualisierung wird in den Sozialwissenschaften allgemein der Bedeutungsverlust traditioneller Institutionen für die Ausrichtung des Lebensverlaufs verstanden“ (BiB 2004:70). Daraus folgt, dass Biographieverläufe nicht mehr vorgeschrieben sind, sondern von jedem frei gewählt werden können und müssen. Für das generative Verhalten bedeutet dies, dass Ehe und Kinderhaben keine Selbstverständlichkeit mehr darstellen und sich neue, auch kinderlose Lebensformen etablieren.
Gerlach (2004:50) konstatiert: „Waren zuvor Ehe und Familie Stationen auf dem Lebensweg von Männern und Frauen, die nur von extrem kleinen Minderheiten nicht angesteuert wurden, verloren beide mit Einsetzen der zweiten Phase der demographischen Entwicklung ihre Monopolstellung.“
Und Kaufmann (1990:385) beschreibt die Individualisierung in Bezug auf das generative Verhalten folgendermaßen: „Ehe und Elternschaft werden zunehmend nicht mehr als normativ vorgegebene, selbstverständliche Lebensperspektive, sondern als Gegenstand freier Wahl und individueller Lebensentscheidung verstanden.“
Weiter werden die Veränderungen im Status und im Verhalten der Frau als ein zentraler Faktor zur Erklärung des Zweiten Geburtenrückgangs angesehen (vgl. Höpflinger 1997:59ff; Dorbritz 2004:321; Kaufmann 1990:385). Gemäß einer international vergleichenden Studie von Lesthaege (1992:345) ist der Wandel der Stellung der Frau für die Entwicklung der demographischen Variablen wesentlich wichtiger als sozio-ökonomische Veränderungen.
Dieser Wandel sei unter anderem durch die zunehmende Bildung von Frauen erfolgt. Die das ganze 20. Jahrhundert andauernde Zunahme der Bildungsbeteiligung der Frauen habe sich nach 1960 stark beschleunigt (vgl. Kaufmann 1990:385). Der höhere Bildungsstand von Frauen verändere ihren gesellschaftlichen Status und ermögliche ihnen nun auch andere Lebensentwürfe als nur jenen, die Mutterrolle zu übernehmen.
Mit wachsendem Bildungsstand der Frau steigen also ihre Optionen und somit die Opportunitätskosten des Kinderhabens.
Der Begriff der Opportunitätskosten, der aus den mikro-ökonomischen Erklärungsansätzen zum Geburtenrückgang, den so genannten New Home Economics, stammt, beziffert den entgangenen Nutzen, der im vorliegenden Fall durch die Entscheidung für Kinder und gegen eine Erwerbsarbeit entsteht (vgl. Becker 1960; zit. n. Kröhnert/ Klingholz 2005:3).
Birg et. al. (1991) erweitern diesen ökonomischen Begriff der Opportunitätskosten im Rahmen der biographischen Theorie des generativen Verhaltens und entwickeln das Konzept der biographischen Opportunitätskosten.
Wie bereits erwähnt, sind im Zuge der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft immer mehr biographische Optionen für den Einzelnen entstanden. Die frühe Entscheidung für ein Kind schränke unter diesen Umständen die Entscheidungsfreiheit (besonders für Frauen) ein und führe zu hohen biographischen Opportunitätskosten.
Die zentrale Hypothese des biographischen Ansatz lautet in den Worten von Höpflinger (1997:94) wie folgt: „Je größer die biographische Wahlfreiheit ist, desto größer ist das Risiko einer langfristigen irreversiblen Festlegung im Lebenslauf und desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, dass die Festlegung erfolgt. Oder konkret: Je größer die biographischen Opportunitätskosten und das Risiko von Festlegungen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer langfristig irreversiblen Festlegung, wie die Geburt eines Kindes“.
Auch die starke Zunahme der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird von einigen Autoren als Grund für die gesunkene Fertilität angeführt (vgl. Kaufmann 1990:385; Dorbritz 2004:321).
Andere Autoren wie Höpflinger (1997) und Hoffmann-Nowotny (1988) meinen jedoch, dass diese These von einem direkten Zusammenhang des Anstiegs der weiblichen Erwerbstätigkeit und dem Zweiten Geburtenrückgang bei genauerer Betrachtung stark relativiert werden müsse. So habe sich beispielsweise auch die Geburtenhäufigkeit von nicht-erwerbstätigen Frauen oder von Hausfrauen verringert und umgekehrt seien Frauen jedes Zivilstandes und jeder Familiengröße heute häufiger erwerbstätig als früher (vgl. Höpflinger 1997:61).
Hoffmann-Nowotny kommt aufgrund dieser Überlegungen zu dem Schluss, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen nicht generell die Fertilität einschränke und der Geburtenrückgang somit nicht mit einer globalen Zunahme der Erwerbstätigkeit der Frauen erklärt werden könne (vgl. Hoffmann-Nowotny 1988; zit.n. Höpflinger 1997:61).
Höpflinger meint: „Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen weiblicher Berufstätigkeit und generativem Verhalten wesentlich von Kontextbedingungen (Häufigkeit und Normalität weiblicher Erwerbstätigkeit, strukturelle Vereinbarkeit beziehungsweise Unvereinbarkeit beider Rollen usw.) bestimmt. […] Einzig in Ländern mit mangelhaft ausgebauter familienexterner Kinderbetreuung ist die Unvereinbarkeit von Berufs- und Familienkarrieren für Frauen weiterhin so ausgeprägt, dass sich auch in den 1980er und 1990er Jahren ein bedeutsamer negativer Effekt weiblicher Erwerbstätigkeit auf die Familiengröße ergibt“ (Höpflinger 1997:62f).
Die Betrachtung dieser Faktoren, die für die Begrenzung der Kinderzahl verantwortlich gemacht werden, zeigt, dass nur wenige von diesen überhaupt einer politischen Beeinflussung zugänglich sind.
Diejenigen, die als „typische Strukturmerkmale der Industriegesellschaft“ (Höhn/ Schubnell 1986:11) angesehen werden können, wie etwa der Wegfall von Kindern als Arbeitskräfte oder als Alterssicherung, können nicht mehr rückgängig gemacht werden und entziehen sich somit jeglicher familienpolitischer Beeinflussung.
Auch die Individualisierung oder die stark gestiegene Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen können und sollen nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Sehrwohl von der Familienpolitik beeinflussbar sind jedoch die Gegebenheiten oder Kontextbedingungen, in denen Familie und die veränderte Stellung der Frau gelebt werden kann.
Einen wichtigen Ansatz- oder Einwirkpunkt für die Familienpolitik bildet dementsprechend die Opportunitätsstruktur, d.h. die Gelegenheits- oder Möglichkeitsstruktur von Familien, durch die wiederum die Opportunitätskosten des Kinderhabens bestimmt werden.
Diese Überlegungen sollen in der Wirkungsanalyse in Kapitel 5 berücksichtigt werden.
3 Familienpolitik
In diesem Kapitel wird Familienpolitik, als zentraler Begriff dieser Arbeit, definiert. In der betrachteten Literatur lassen sich verschiedene Definitionen finden, von denen hier einige dargestellt werden, um aus ihnen wichtige konstitutive Merkmale von Familienpolitik herauszuarbeiten und letztere von einem benachbarten Politikbereich, der Bevölkerungspolitik, abzugrenzen (3.1).
Des Weiteren werden hier Interventionsformen der Familienpolitik (3.2) und verschiedene Familienpolitik-Typologien (3.3) dargestellt, die als Grundlage für die in Kapitel 5 folgende Typologisierung von Familienpolitik dienen sollen.
3.1 Begriffsbestimmung „Familienpolitik“
In einer ersten allgemeinen Annäherung kann der Begriff Familienpolitik als ein Bereich politischen Handelns zugunsten der Familie bezeichnet werden.
Der Familie wird in modernen Industriestaaten eine besondere rechtliche und politische Beachtung geschenkt. In den meisten Verfassungen werden Familien ausdrücklich als schützens- und förderungswürdig anerkannt, da sie bestimmte Funktionen in herausragender Weise zu erfüllen vermögen (vgl. Fux 1994:159).
Wingen (1997:19) bezeichnet Familienpolitik als „das bewusste und planvoll-ordnende, zielgerichtete und machtgestütze Einwirken von Trägern öffentlicher Verantwortung auf Struktur und Funktionen familialer Lebensgemeinschaften“.
An anderer Stelle schreibt er: „Familienpolitik lässt sich inhaltlich fassen als Schaffung und dauernde Sicherung der Bedingungen für eine optimale Funktionsentfaltung der Familien“ (Wingen 1994:382).
Gerlach (2004:210) versteht unter dem Begriff „die Summe aller Handlungen und Maßnahmen, die im Rahmen einer feststehenden Verfahrens-, Kompetenz- und Rechtfertigungsordnung eines Staates normativ und/ oder funktional begründbar die Situationen von Familien im Hinblick auf eine als wünschenswerte definierte Erfüllung von deren Teilfunktionen hin beeinflussen“.
Und für Lampert und Althammer (2001:335) umfasst die Familienpolitik „die Gesamtheit der Einrichtungen und Maßnahmen, mit denen die Träger der staatlichen Sozial- und Gesellschaftspolitik das Ziel verfolgen, die Familien als eine Institution zu schützen und zu fördern, die für die Gesellschaft unentbehrliche Funktionen erfüllt“.
In diesen Definitionen ist sowohl von einem Adressaten, nämlich der Familie, als auch von einem Träger der Familienpolitik die Rede.
Als Träger können in erster Linie staatliche (Bund, Länder, Kommunen), aber auch parastaatliche (Organisationen und Verbände) und private (Familien durch Selbst- und Gemeinschaftshilfe) Akteure in Erscheinung treten (vgl. Fux 1994:163; Gerlach 2004:123ff).
Für den Terminus Familie, als Adressat der Familienpolitik, gibt es in der Wissenschaft keine einheitliche Definition. Je nachdem welcher zu untersuchende Problemzusammenhang zugrunde liegt, unterscheiden sich die Definitionen bzw. wird der Begriff enger oder weiter gefasst.
Es müssen jedoch einige Kriterien erfüllt sein, um sinnvollerweise von Familie sprechen zu können.
Nave-Herz (2004:30) nennt folgende konstitutive Merkmale des Familienbegriffs: „Familien sind im Vergleich zu anderen Lebensformen gekennzeichnet: 1. durch ihre „biologisch-soziale Doppelnatur“, d.h. durch die Übernahme der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion neben anderen gesellschaftlichen Funktionen, die kulturell variabel sind, 2. durch die Generationsdifferenzierung (Urgroßeltern/ Großeltern/ Eltern/ Kind(er) und dadurch dass 3. zwischen ihren Mitgliedern ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis besteht, aus dem heraus die Rollendefinitionen festgelegt sind.“
Darüber hinaus stimmen die genannten Definitionen insofern überein, als dass in ihnen Familienpolitik als Förderung der Erfüllung von familialen Funktionen verstanden wird.
Zu diesen Grundfunktionen, die die Familie heute für die Gesamtgesellschaft erfüllt, gehören die Reproduktionsfunktion (biologische und soziale) oder die generative Funktion, die Sozialisationsfunktion, die Platzierungsfunktion, die Freizeitfunktion und die Spannungsausgleichfunktion (vgl. Nave-Herz 2004:79ff; Wingen 1997:41f), die hier nicht im Einzelnen erörtert werden sollen.
Besonderes Augenmerk gilt im Rahmen dieser Arbeit nur der biologischen Reproduktionsfunktion oder der generativen Funktion, zumal es hier um familienpolitische Maßnahmen als Förderung zur Erfüllung eben jener Funktion geht.
Betrachtet man die pauschale Motivation eines jeweiligen Staates, Familien bei der Erfüllung ihrer Funktionen zu unterstützen, differenziert, so können die folgenden Teilmotive für Familienpolitik identifiziert werden (vgl. Kaufmann 1995:178f):
das bevölkerungspolitische Motiv: die Geburtenraten sollen erhöht werden
das sozialpolitische Motiv: die Ungleichheit der Lebenslagen der Familien und ihre Benachteiligung in der primären Einkommensverteilung sollen abgebaut werden
das familieninstitutionelle Motiv: die Familie als Wert an sich soll gefördert werden
das emanzipatorische Motiv: die in den herkömmlichen familialen Lebensformen enthaltenen Herrschaftsbeziehungen und Machtstrukturen sollen aufgebrochen und die Abhängigkeit der Frauen von ihren Männern wie die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern sollen abgebaut werden
„In der Praxis der politischen Auseinandersetzungen um die Förderung der Familie lassen sich diese vier Motive in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen nachweisen“ (Kaufmann 1995:179).
Aufgrund der Tatsache, dass in der Familienpolitik auch die generative Funktion der Familie eine wichtige Rolle spielt und hieraus ein bevölkerungspolitisches Motiv abgeleitet wird, steht sie in einem engen Verhältnis zu einem benachbarten Politikbereich, der Bevölkerungspolitik.
„Unter Bevölkerungspolitik versteht man zielgerichtetes, begründetes Handeln zum Zwecke der planmäßigen Beeinflussung demographischer Tatbestände wie Größe, Altersaufbau, regionale Verteilung und Wachstumsintensität der Bevölkerung. Die strategischen Zielkomponenten für bevölkerungspolitische Maßnahmen sind Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Wanderungen“ (Höhn/ Schubnell 1986:4).
Die gleichen Maßnahmen, die eigentlich familienpolitische Absichten verfolgen, in diesem Fall die Förderung der generativen Funktion der Familie, können also auch zur Erreichung bevölkerungspolitischer Ziele eingesetzt werden. So ist es zum Teil schwierig, diese beiden Politikbereiche genau voneinander abzugrenzen.
Strohmeier ist der Ansicht, dass es nicht die Wirkungen seien, die diese beiden voneinander unterscheiden, sondern allein die Absichten (vgl. Strohmeier 2002a:109).
Für Wingen grenzen sich Familien- und Bevölkerungspolitik insofern ab, als dass für die Familienpolitik die generative Funktion zum weiteren Bereich der familialen Grundfunktionen gehöre, deren Erfüllung ermöglicht werden solle. Für die Bevölkerungspolitik jedoch, stelle jene Funktion einen zentralen Ansatzpunkt zur gezielten Beeinflussung der zahlenmäßigen Bevölkerungsentwicklung dar (vgl. Wingen 1997:25).
Aufgrund dieser gemeinsamen Basis trägt die Familienpolitik oft auch bevölkerungspolitische Elemente in sich. Fux (1994:168) beschreibt dies folgendermaßen: „Wir können Familienpolitik […] bestimmen als eine im historischen Prozess ebenso wie im Vergleich zwischen Ländern jeweils variierende Mixtur aus sozial-, familien- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen und Einrichtungen.“
3.2 Familienpolitische Interventionsformen
Kaufmann (2002a,b/2003) unterteilt die Handlungen und Maßnahmen, derer sich eine Familienpolitik bedient bzw. bedienen kann, in vier verschiedene Formen der familienpolitischen Intervention.
Dies sind die rechtliche Intervention, die ökonomische Intervention, die ökologische Intervention sowie die pädagogische oder personenbezogene Intervention (vgl. Kaufmann 2002a:86ff/2002b:435f/2003:2).
Als rechtliche Intervention bezeichnet er Maßnahmen, die den rechtlichen Status der Familienmitglieder aufgrund ihrer Rolle in der Familie beeinflussen. Solche Maßnahmen könnten sich entweder auf die Struktur von Familienbeziehungen beziehen (wie z.B. Regelungen zur Ehe, Scheidung und Elternschaft) oder dritten Parteien auferlegen, die Tatsache einer Elternschaft zu berücksichtigen (wie z.B. die Berücksichtigung von Elternzeiten in der Rentenversicherung).
Bei der ökonomischen Intervention handele es sich um Maßnahmen, welche unmittelbar die wirtschaftlichen Ressourcen der Familie beeinflussen und zu einer Verbesserung ihrer Einkommensverhältnisse führen sollen. Als solche gelten unter anderem Steuerentlastungen oder finanzielle Transfers zugunsten der Familie.
Unter der ökologischen Intervention versteht Kaufmann Maßnahmen, die die Umwelt und damit die Gelegenheitsstrukturen für Familien und ihre Mitglieder beeinflussen. Zu dieser Form der Intervention zählt er zum Beispiel wohnungspolitische Maßnahmen aber auch die Verfügbarkeit von öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen.
Die pädagogische oder personenbezogene Intervention umfasse Maßnahmen, die sich auf die Förderung oder Wiederherstellung von Fähigkeiten der Familienmitglieder richten. Hierbei könne es sich etwa um gesundheits- und bildungspolitische Maßnahmen handeln oder um Beratungsangebote für Paare oder Eltern.
3.3 Familienpolitik-Typologien
Aufgrund des von Staat zu Staat variierenden Einsatzes von familienpolitischen Maßnahmen lassen sich – allein in Europa - viele verschiedene Familienpolitiken finden. Um die Vielzahl nationalstaatlicher Familienpolitiken zu strukturieren, sind in jüngerer Zeit verschiedene Familienpolitik-Typologien entwickelt worden.
Hier werden die Ansätze von Strohmeier (1995/2002a,b) (3.3.1) und Gauthier (1996) (3.3.2) vorgestellt, da beide als Klassifikationskriterien die familienpolitischen Leistungen in den Vordergrund stellen, die für die folgende Wirkungsanalyse von Bedeutung sein sollen.
Diese Ansätze beziehen sich entweder auf die Länder Westeuropas (Strohmeier) oder auf alle OECD-Staaten, d.h. Industriestaaten westlicher Prägung (Gauthier).
Anhand unterschiedlicher Kriterien werden diese Länder klassifiziert und Idealtypen von Familienpolitik gebildet. Einige Länder gelten als Prototypen, die den jeweiligen Idealtypen am nächsten kommen.
3.3.1 Familienpolitik-Typologie von Strohmeier
Die von Strohmeier (1995/2002a,b) vorgeschlagene Typologie basiert auf den in Kapitel 3.2 beschriebenen familienpolitischen Interventionsformen von Kaufmann. Strohmeier vergleicht den jeweiligen Umfang und das relative Gewicht von ökonomischer (z.B. finanzielle Transfers und Steuerentlastungen) und ökologischer (z.B. öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten) Intervention in verschiedenen Staaten und gelangt so zu folgender Familienpolitik-Typologie:
Klassifikationskriterium
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Familienpolitik-Typologie von Strohmeier
Quelle: nach Strohmeier (1995:22/2002a:111)
Das Profil A, sowohl hohe ökonomische als auch ökologische Intervention, sieht Strohmeier am ehesten in Frankreich und in Dänemark verwirklicht. Hier bestehe für Eltern die größte Wahlfreiheit, da durch finanzielle Transfers eine geringere Notwendigkeit der Erwerbsarbeit beider Eltern bestehe, diese aber gleichwohl durch das Vorhandensein von Kinderbetreuungsmöglichkeiten ermöglicht werde (vgl. Strohmeier 1995:23/2002b:337).
[...]
[1] Mit Westeuropa sind - auch im weiteren Verlauf der Arbeit - ebenfalls die Staaten Nord- und Südeuropas gemeint. Lediglich die Reformstaaten Osteuropas sollen mit dieser Bezeichnung nicht gemeint sein. Diese werden nicht in die Untersuchung einbezogen. Der komplette Austausch der Wirtschafts- und Sozialordnung in den 90er Jahren hat diese Länder in eine tiefe Strukturbruchkrise geführt, die von deutlichen Geburtenrückgängen begleitet war und sie zu einem speziellen Fall macht.
Um die Wirkungen von Familienpolitik auf das Geburtenverhalten zu untersuchen, sollten die untersuchten Länder jedoch ähnliche äußere Bedingungen aufweisen.
[2] Die „mittlere“ Bevölkerung ist der Bevölkerungsstand am 30.06. eines Jahres oder
Bevölkerungsstand am 1.1. + Bevölkerungsstand am 31.12. (vgl. Schmid 1976:166)
- Arbeit zitieren
- Claudia Peters (Autor:in), 2007, Verschiedene Typen von Familienpolitik und ihre Wirkung auf das Geburtenverhalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74414
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