Bei der Formulierung der Präambel des EG-Vertrages stellten die Vertragsparteien die beiden Ziele der wirtschaftlichen und der sozialen Integration scheinbar gleichberechtigt nebeneinander. Über 40 Jahre später ist die Diskrepanz zwischen der jeweils erreichten inhaltlichen Breite und und institutionellen ′Tiefe′ -im Sinne des Grades supranationaler Autorität- offenkundig. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Arbeit ein Versuch, die folgenden Fragen zu beantworten, die sich aus dem obigen Zitat in bezug auf die Herausbildung einer Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft ergeben:
Weshalb blieb die Politik der Europäischen Gemeinschaft zur aktiven Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen so weit hinter dem Abbau der trennenden Schranken, insbesondere der Handelsschranken, zurück? Unter welchen Rahmenbedingungen vollzieht sich heute die Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik?
Welche Ergebnisse hat diese Politik erbracht?
Wie ′entstehen′ die sozialpolitischen Zielsetzungen in der EU? Welche Akteure und Akteurskoalitionen tragen mit welchen Handlungsmotivationen dazu bei?
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Arbeit in vier Kapitel gegliedert:
Im Kapitel 2 werden die Grundlagen für die Analyse der EU-Sozialpolitik unter der dargelegten Fragestellung gelegt: Dazu gehört zunächst eine ausführliche Darstellung der Möglichkeiten supranationaler Sozialpolitik in einem Kontext aus wirtschaftlicher Integration und der Ausdifferenzierung staatlichen Handelns in Mehrebenensystemen. Als weiteres wird der methodische Analyserahmen für die sozialpolitischen Outputs sowie für die Analyse der Akteure, ihrer Handlungsmotivationen und Präferenzen abgesteckt. Dazu werden unter anderem anhand grundsätzlicher Überlegungen zu politischen Handlungsmotivationen wie Interessen und Normen Annahmen über ihre Präferenzen gemacht. Schließlich werden, ausgehend von umfassenden theoretischen Ansätzen zur Erklärung des europäischen Integrationsprozesses, Hypothesen für die Entwicklung der EU-Sozialpolitik formuliert.
Im Kapitel 3 werden Outputs der EU-Sozialpolitik dargestellt und anhand einzelner Policies einige mittlerweile erkennbare Tendenzen und Besonderheiten dieser Politik aufgezeigt.
Im Kapitel 4 werden maßgeblich an der Formulierung von EU-Sozialpolitik beteiligte Akteure vorgestellt. Dabei werden, soweit möglich, anhand von deren Äußerungen, Stellungnahmen u.ä., sowie anhand der Forschungsliteratur die Annahmen über ihre Präferenzen überprüft.[...]
Inhalt
Erklärung
Abkürzungsverzeichnis
Zitierweise
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
1.2. „Soziale Dimension“ und EU-Sozialpolitik - Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
2. Grundlagen der Arbeit
2.1. Rahmenbedingungen der EU-Sozialpolitik
2.1.1. Sozialpolitik im Kontext internationaler wirtschaftlicher Integration
2.1.2. Die EU-Sozialpolitik als ‚positive Integration’: Binnenmarkt-Flankierung oder Sozialraum-Gestaltung
2.1.3. Die EU als ‚Mehrebenensystem im Werden’: Sozialpolitik und Subsidiaritätsprinzip
2.1.4. EU-Sozialpolitik und Pfadabhängigkeit
2.2. Methodische Grundlagen: Die Anwendung von Policy- und Netzwerkanalyse auf die EU-Sozialpolitik
2.2.1. Policy -Analyse
2.2.1.1. Klassifizierung von Policies
2.2.1.2. Der Policy -Zyklus
2.2.2. Netzwerkanalyse
2.2.2.1. Politiknetzwerke in der EU
2.2.2.1.1. Zum Konzept des Politiknetzwerks
2.2.2.1.2. Netzwerke im Mehrebenensystem
2.2.2.1.3. Netzwerke und sektorielle Integration
2.2.2.2. Klassifizierung der Akteure
2.2.2.3. Auswahl der untersuchten Akteure
2.2.2.4. Probleme bei der Ermittlung von Akteurspräferenzen
2.2.2.4.1. Normen vs. Interessen
2.2.2.4.2. Empirisch-induktive und theoretisch-deduktive Präferenzermittlung
2.2.2.5. Annahmen über die Präferenzen der Akteure
2.2.2.6. Die Durchsetzungsfähigkeit von Akteuren
2.2.2.7. Koalitionsbildung
2.3. Integrationstheoretische Hypothesen für die EU-Sozialpolitik
2.3.1. Funktionalistische Hypothese
2.3.2. Intergouvernementalistische Hypothese
2.3.3. Hypothese der transnationalen gesellschaftlichen Verflechtung
3. Der Output der EU-Sozialpolitik
3.1. Historische Entwicklung
3.2. Die Polity der EU-Sozialpolitik
3.2.1. Improvisation und Polity -Entwicklung
3.2.2. Die Stärkung der sozialpolitischen Kompetenz der EU in der Entwicklung der Verträge (EEA, Maastricht, Amsterdam)
3.2.3. Die Reform der legislativen Entscheidungsverfahren
3.2.4. Die Institutionalisierung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene
3.2.4.1. Der Soziale Dialog vor Maastricht
3.2.4.2. Vom Sozialen Dialog zur Kollektivvertragspartnerschaft
3.2.4.3. Gesetzgebung durch Kollektivverhandlungen
3.3. Exemplarische Einzelmaßnahmen
3.3.1. Arbeitsschutzbestimmungen
3.3.1.1. Die Ausgangssituation vor der Einheitlichen Europäischen Akte
3.3.1.2. Die Einheitliche Europäische Akte, die Arbeitsschutzrahmenrichtlinie von 1989 und ihre Ausgestaltung
3.3.2. Das Recht der Arbeitnehmer auf Information und Konsultation
3.3.3. Beschäftigungspolitik
3.4. Zusammenfassung und Bewertung
4. Die Formulierung von EU-Sozialpolitik: Akteure und ihre Präferenzen
4.1. EU-Institutionen
4.1.1. Fortschreitende Integration als institutionelles Interesse der supranationalen Institutionen
4.1.2. Die EU-Kommission
4.1.3. Das Europäische Parlament
4.2. Transnationale Akteure
4.2.1. „Euro-Korporatismus“: Voraussetzungen und Verbandsinteressen
4.2.2. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB)
4.2.2.1. Der Dachverband und seine Mitglieder: Organisationsprobleme und politischer Einfluß
4.2.2.2. Sozial- und beschäftigungspolitische Positionen des EGB und seiner Mitgliedsverbände
4.2.3. Die Vereinigung der Europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände (UNICE)
4.2.3.1. Mitglieder, Strukturen und die ‚Stärke durch Schwäche’
4.2.3.2. Sozial- und beschäftigungspolitische Positionen der UNICE und ihrer Mitgliedsverbände
4.3. Nationale politische Akteure
4.3.1. Länderübergreifende Feststellungen
4.3.2. Deutschland
4.3.2.1. Regierungspositionen
4.3.2.2. Positionen der Parteien und Politiker im nationalen Kontext
4.3.2.3. Der Einfluß anderer Institutionen und Akteure
4.3.3. Frankreich
4.3.3.1. Regierungspositionen
4.3.3.2. Positionen der Parteien und Politiker im nationalen Kontext
4.3.3.3. Der Einfluß anderer Institutionen und Akteure
4.3.4. Großbritannien
4.3.4.1. Regierungspositionen
4.3.4.2. Positionen der Parteien und Politiker im nationalen Kontext
4.3.4.3. Der Einfluß anderer Institutionen und Akteure
4.3.5. Zusammenfassung: Regierungspositionen, Parteien und Integrationspolitik
5. Entscheidungssituationen und -prozesse in der EU-Sozialpolitik
5.1. EU-Sozialpolitik als „Spill-over“ -Ergebnis der Wirtschaftsintegration:
Die Arbeitsschutz-Regulierung
5.1.1. Überprüfung der neofunktionalistischen Hypothese
5.1.2. Die Bildung eines ‚funktionalen Subnetzwerks’ Arbeitsschutz
5.1.3. Der Gesetzgebungsprozeß der Bildschirmrichtlinie als Beispiel
5.1.4. Der funktionalistisch-technokratische Ausweg aus der Politikverflechtungs-Falle im Politikfeld Arbeitsschutz
5.1.5. Zusammenfassung und Ausblick
5.2. EU-Sozialpolitik als Ergebnis intergouvernementaler Bargaining -Prozesse: Die Beschäftigungspolitik
5.2.1. Überprüfung der intergouvernementalistischen Hypothese
5.2.2. Warum gab es keinen Spill-over zur Beschäftigungspolitik?
5.2.3. Der deutsch-französische ‚Tauschhandel’
5.2.4. EU-Beschäftigungspolitik zwischen Amsterdam und Köln
5.2.5. Zusammenfassung und Ausblick
5.3. Transnationale Vernetzung der Sozialpartner:
Probleme „euro-korporatistischer“ Regulierung und Steuerung
5.3.1. Überprüfung der Hypothese der transnationalen gesellschaftlichen Verflechtung
5.3.2. Probleme sozialpartnerschaftlicher Regulierung: Das Beispiel EBR-Richtlinie
5.3.3. Probleme einer Beteiligung der europäischen Sozialpartner an der makroökonomischen Koordinierung
5.3.4. Zusammenfassung und Ausblick
6. Schlußbemerkung: Die EU-Sozialpolitik bleibt abhängig von interinstitutionellen Koalitionen und Konkordanzverfahren
Literaturverzeichnis
Erklärung
Ich erkläre, daß ich die Arbeit selbständig und nur mit den angegebenen Hilfsmitteln angefertigt habe und daß alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken entnommen sind, durch Angabe der Quellen als Entlehnungen kenntlich gemacht worden sind.
Tübingen, den 26. April 2001
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zitierweise
(1) Werden Artikel des EG-Vertrags zitiert, so beziehen sich die Artikelangaben, soweit nicht anders angegeben, auf die derzeit gültige Fassung im Wortlaut des Amsterdamer Vertrags einschließlich der Umnumerierung der Artikel. Werden Artikel im Zusammenhang mit Vertragsänderungen (Einheitliche Europäische Akte, Maastrichter Vertrag, Amsterdamer Vertrag) zitiert, so bezieht sich der Zusatz „a.F.“ auf die jeweils vor der in diesem Zusammenhang erwähnten Vertragsänderung gültige Fassung, der Zusatz „n.F.“ auf die jeweils nach dieser Vertragsänderung gültige Fassung.
(2) Alle von mir vorgenommenen Änderungen in wörtlich aus anderen Quellen übernommenen Textpassagen stehen in eckigen Klammern. Dies gilt sowohl für Kürzungen - [...] - als auch für Ergänzungen - [Text]-. Wenn innerhalb von Zitaten Textpassagen in runden Klammern stehen, dann ist dies so unverändert aus der Quelle übernommen worden.
(3) Hervorhebungen innerhalb von Zitaten sind aus der Quelle übernommen, soweit nicht in der entsprechenden Fußnote anders angegeben.
(4) Soweit ich selbst fremdsprachige Zitate übersetzt habe, ist dies in der entsprechenden Fußnote angegeben. Sofern es nicht zur Einfügung in den deutschen Satzbau notwendig war, sind englische Zitate nicht übersetzt.
Internet-Quellen sind ebenso wie andere Quellen zitiert. Im Literaturverzeichnis ist nach der www-Adresse das Datum des Herunterladens bzw. des Ausdrucks angegeben. Über die Verfügbarkeit dieser Quellen zu einem späteren Zeitpunkt kann keine Gewähr übernommen werden.
In dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen,
Entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen,
In dem Vorsatz, die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben...
Präambel des Vertrages zur Gründung
der Europäischen Gemeinschaft
1. Einleitung
1.1. Fragestellung
Bei der Formulierung der Präambel des EG-Vertrages stellten die Vertragsparteien die beiden Ziele der wirtschaftlichen und der sozialen Integration scheinbar gleichberechtigt nebeneinander. Über 40 Jahre später ist die Diskrepanz zwischen der jeweils erreichten inhaltlichen Breite und und institutionellen 'Tiefe' -im Sinne des Grades supranationaler Autorität- offenkundig. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Arbeit ein Versuch, die folgenden Fragen zu beantworten, die sich aus dem obigen Zitat in bezug auf die Herausbildung einer Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft ergeben:
Weshalb blieb die Politik der Europäischen Gemeinschaft zur aktiven Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen so weit hinter dem Abbau der trennenden Schranken, insbesondere der Handelsschranken, zurück? Unter welchen Rahmenbedingungen vollzieht sich heute die Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik?
Welche Ergebnisse hat diese Politik erbracht?
Wie 'entstehen' die sozialpolitischen Zielsetzungen in der EU? Welche Akteure und Akteurskoalitionen tragen mit welchen Handlungsmotivationen dazu bei?
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Arbeit in vier Kapitel gegliedert:
Im Kapitel 2 werden die Grundlagen für die Analyse der EU-Sozialpolitik unter der dargelegten Fragestellung gelegt: Dazu gehört zunächst eine ausführliche Darstellung der Möglichkeiten supranationaler Sozialpolitik in einem Kontext aus wirtschaftlicher Integration und der Ausdifferenzierung staatlichen Handelns in Mehrebenensystemen. Als weiteres wird der methodische Analyserahmen für die sozialpolitischen Outputs sowie für die Analyse der Akteure, ihrer Handlungsmotivationen und Präferenzen abgesteckt. Dazu werden unter anderem anhand grundsätzlicher Überlegungen zu politischen Handlungsmotivationen wie Interessen und Normen Annahmen über ihre Präferenzen gemacht. Schließlich werden, ausgehend von umfassenden theoretischen Ansätzen zur Erklärung des europäischen Integrationsprozesses, Hypothesen für die Entwicklung der EU-Sozialpolitik formuliert.
Im Kapitel 3 werden Outputs der EU-Sozialpolitik dargestellt und anhand einzelner Policies einige mittlerweile erkennbare Tendenzen und Besonderheiten dieser Politik aufgezeigt.
Im Kapitel 4 werden maßgeblich an der Formulierung von EU-Sozialpolitik beteiligte Akteure vorgestellt. Dabei werden, soweit möglich, anhand von deren Äußerungen, Stellungnahmen u.ä., sowie anhand der Forschungsliteratur die Annahmen über ihre Präferenzen überprüft. Dadurch sollen die vor dem Hintergrund übereinstimmender Präferenzen bestehenden Möglichkeiten für Integrationskoalitionen deutlich werden.
In Kapitel 5 werden die Ergebnisse, ausgehend von der Feststellung der jeweils in bestimmten Entscheidungssituationen ‚treibenden Kräfte’, in einen umfassenderen integrationstheoretischen Kontext eingefügt. Es soll aufgezeigt werden, daß die ‚Entstehung’ des EU-Politikfeldes Sozialpolitik im wesentlichen durch inkrementelle, pragmatische Ausweitung der Aktivitäten erfolgt. Selbst wenn einzelne Akteure ein umfassenderes Konzept einer ‚Sozialunion’ verfolgen, kann von einer EU-Sozialpolitik ‚aus einem Guß’ keine Rede sein.
Dies gilt nicht nur für eher technische Entscheidungen durch Spezialisten und Bürokraten in policy -spezifischen, segmentierten Netzwerken. Dies gilt vielmehr auch für verhältnismäßig kleine, intergouvernemental bestimmte und teilweise nur durch ‚Tauschprozesse’ mögliche Integrationsfortschritte in einem breiteren Politikfeld wie der Beschäftigungspolitik. Gegenüber der Annahme einer ‚treibenden’ Rolle transnationaler gesellschaftlicher Akteure im Rahmen einer zunächst auf der Grundlage des Maastrichter Sozialabkommens möglich gewordenen europäischen Sozialpartnerschaft ist allerdings Vorsicht angebracht.
Auf zwei Fragen kann die vorliegende Arbeit jedoch auf keinen Fall eine Antwort geben: Zum einen auf die – zumindest auch – normative Frage des ‚Zuviel’ oder ‚Zuwenig’ der EU-Sozialpolitik, d.h. ob es sich bereits um einen Fall bürokratischer Überreglementierung handelt oder, am anderen Extrempol der Diskussion, um einen rudimentären, (noch) völlig unzureichenden Politikansatz.
Zum anderen kann hier auch nicht näher eingegangen werden auf eine Diskussion „innerhalb der ‚linken’ politikwissenschaftlichen Europaforschung [...], deren Bruchlinie die gegensätzliche Bewertung der bisherigen Sozialpolitik einerseits als Chance, andererseits als Sieg des Kapitals bildet“[1]. Probleme wie die strukturelle 'Benachteiligung' der positiven, sozialpolitischen Integration gegenüber der negativen Wirtschaftsintegration durch den Abbau von Handelsschranken und Deregulierung können zwar angesprochen werden; inwieweit aber beispielsweise die zunehmende Formulierung eines europäischen Arbeitsrechts allein als eine ‚Flankierung’ des Binnenmarktes zur sozialverträglichen Absicherung der ungehemmten Marktentfaltung zu sehen ist, oder ob sich hier ein neues ‚Europäisches Sozialmodell’ als Gegenentwurf zur ungeregelten Globalisierung abzeichnet, kann in der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden.
1.2. „Soziale Dimension“ und EU-Sozialpolitik – Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
Zuallererst wird eine Begriffsbestimmung notwendig, welche Politikbereiche und/oder einzelnen politischen Maßnahmen zu dieser EU-Sozialpolitik gehören und welche nicht. In der Folge können jedoch auf keinen Fall alle in einem weiten Sinne sozialpolitischen Maßnahmen im einzelnen untersucht werden; es sollen vielmehr die wichtigsten Ziele der EU-Sozialpolitik aufgezeigt werden, wozu bei der genaueren Analyse in Kapitel 3 einige exemplarische Einzelmaßnahmen herangezogen werden.
In einer sehr weit gefaßten Lexikondefinition umfaßt
"Sozialpolitik, Verfahrensordnungen, Entscheidungsprozesse und Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, wirtschaftliche bzw. soziale Nachteile von Einzelpersonen oder Personengruppen zu vermeiden oder unmittelbar zu beheben, die soziale bzw. wirtschaftliche Situation von als benachteiligt geltenden gesellschaftlichen Gruppen nachhaltig zu verbessern sowie Konflikte über die Konkretisierung und Realisierung allg[emeiner] gesellschaftspolit[ischer] Ziele wie Gerechtigkeit oder Gleichheit verbindlich zu regeln."[2]
Unter diese Definition fallen jedoch auch Politikfelder wie beispielsweise Regionalpolitik zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Gebieten mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau, Bildungspolitik und insbesondere Ausbildungsförderungspolitik zur Herstellung von Chancengleichheit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen und viele andere mehr. All dies ließe sich unter dem weiten Begriff der ‚ Sozialen Dimension ’ subsumieren, die demnach alle Auswirkungen der europäischen Integration – Vertragsbestimmungen, Sekundärrecht, Finanztransfers – umfaßt, durch die entweder Finanzmittel (soziale Transfers) oder Rechtsansprüche (z.B. auf Schutz vor bestimmten Risiken) oder persönliche Entwicklungschancen zugunsten von gesellschaftlich und/oder wirtschaftlich benachteiligten Personen bzw. Gruppen umverteilt werden. Die Soziale Dimension wäre also eine Art sozialer Gesamteffekt der Integration, der sich als Summe aus einer Vielzahl von Einzeleffekten zusammensetzt, ohne jedoch ein kohärentes sozialpolitisches Konzept zu verfolgen.[3]
Genau diesem Verständnis der 'Sozialen Dimension' entsprach die ursprüngliche Formulierung des Art. 117 EGV in der Fassung von 1957:
„Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen.
Sie sind der Auffassung, daß sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Gemeinsamen Marktes als auch aus den in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben wird.“[4]
Allerdings – und darauf wird im Kapitel 3 über den sozialpolitischen Output der EU näher eingegangen – begründete dieser Artikel eben gerade keine eigenständigen Handlungs- und Gestaltungskompetenzen der europäischen Ebene.
Als fester, wenn auch kaum definierter, Begriff der Integrationspolitik taucht die ‚Soziale Dimension’ insbesondere seit der Diskussion über den Europäischen Binnenmarkt auf:
„Das Schlagwort von der 'sozialen Dimension' des Binnenmarktes steht für den Versuch, dem Binnenmarkt und der Europäischen Union insgesamt ein humaneres und sozialeres Gesicht zu verleihen und einem von den Gewerkschaften befürchteten 'Sozialdumping' entgegenzuwirken.“[5]
Es liegt auf der Hand, daß die vorliegende Arbeit nicht die Soziale Dimension in dieser Breite – einschließlich der vielen Bereiche ‚impliziter Sozialpolitik’[6] – behandeln kann. Statt dessen wird sie sich auf die EU-Beschäftigungs- und Sozialpolitik im Sinne des EG-Vertrags konzentrieren, d.h. auf die Anwendungsbereiche der Artikel 125-130 (Titel VIII. Beschäftigung) und der Artikel 136-145 (Titel XI. Kapitel 1. Sozialvorschriften).
Dabei wird zum einen der Europäische Sozialfonds (Art. 146-148 EGV) aus den Betrachtungen der vorliegenden Arbeit weitgehend ausgeklammert, da durch diesen zwar auf der Ebene der EU und unter der Verwaltung ihrer Institutionen Fördermittel zwischen verschiedenen Staaten und Regionen umverteilt werden – jedoch kaum zwischen verschiedenen Klassen bzw. Gesellschaftsschichten[7] – , es sich hier aber weitgehend nicht um eine eigenständige sozialpolitische Gestaltung durch die EU handelt:
„[D]er ESF ist kein Instrument aktiver Sozialpolitik, sondern gibt den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit, Geldmittel zur Gestaltung von Fördermaßnahmen zu beziehen.“[8]
Die konkrete Verwendung der Mittel obliegt hierbei weitgehend den Mitgliedstaaten; der Einfluß der Kommission hierauf, ja selbst ihr diesbezüglicher Informationsstand, ist begrenzt.[9] Insgesamt ist aber auch festzustellen, daß der Bereich redistributiver Sozialpolitik, also der Umverteilung durch finanzielle Transfers, unter den Teilbereichen der EU-Sozialpolitik die geringste Bedeutung besitzt,[10] sofern man die sektorielle Umverteilung zugunsten des Landwirtschaftssektors ausklammert.
Zum zweiten wird die Politik zur Gleichstellung der Geschlechter aus zwei Gründen aus der vorliegenden Arbeit ausgeklammert bleiben: Hierzu liegt bereits eine Dissertation jüngeren Datums vor[11], und das Politiknetzwerk in der Frauenpolitik bzw. Gleichstellungspolitik unterscheidet sich so sehr von dem der im folgenden untersuchten Politikbereiche (andere Akteure, andere Interessen, andere handlungsleitende Normen etc.), daß die Arbeit dann de facto zwei getrennte Netzwerkanalysen umfassen würde, was im vorgegebenen Rahmen unmöglich ist.
Dementsprechend wird die Untersuchung der inhaltlichen Seite der EU-Sozialpolitik auf die „ entscheidungsprozedurale Policy “[12], d.h. auf die Entwicklung der Kompetenzen und Entscheidungsverfahren, sowie auf die Policy-Bereiche Arbeitsschutz und Arbeitsrecht (zeitlich beginnend mit der EEA), Mitbestimmung (im Rahmen des Maastrichter Sozialabkommens) und Beschäftigungspolitik (ab der „Maastricht II“/Amsterdam-Regierungskonferenz) beschränkt. Der EU-Policy-Output zu diesen Themen wird im Kapitel 3 genauer dargestellt; sein Zustandekommen von der ‚Agenda-Gestaltung’ bis zur Entscheidung über konkrete sozialpolitische Maßnahmen der EU ist Gegenstand der Analysen in Kapitel 4 und 5.
Fragen der Implementierung können allenfalls am Rande aufgegriffen werden. Die Frage, inwieweit die EU-Sozialpolitik bzw. ihre Implementierung effizient ist, d.h. mit angemessenem Einsatz ihre Ziele erreicht, kann in dieser Arbeit nicht beantwortet werden, da hierzu auch noch die Umsetzungspraxis vor Ort, also von der Richtlinienumsetzung in den Mitgliedstaaten abwärts bis z.B. zur Einsetzung von Europäischen Betriebsräten in den einzelnen Unternehmen, untersucht werden müßte.
2. Grundlagen der Arbeit
2.1. Rahmenbedingungen der EU-Sozialpolitik
Im folgenden sollen überblicksartig die Rahmenbedingungen dargestellt werden, unter denen sich die Herausbildung der EU-Sozialpolitik vollzog und vollzieht. Bei diesen Rahmenbedingungen handelt es sich im wesentlichen um strukturelle Gegebenheiten und Veränderungsprozesse, die als intervenierende Variablen maßgeblichen Einfluß auf die sozialpolitische Integration haben. Dies gilt sowohl für den in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit untersuchten Policy-Output als auch für die in Kapitel 4 dargestellten und analysierten, an der Formulierung der EU-Sozialpolitik beteiligten Akteure und ihre Handlungsmotivationen.
Einige dieser im folgenden genauer dargestellten Rahmenbedingungen finden sich unter den folgenden von Pierson und Leibfried zusammengestellten Merkmalen,
„[die] die EU am deutlichsten von anderen politischen Systemen unterscheiden: eine starke Position der Mitgliedstaaten; ein neues Machtgleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit sowie anderen gesellschaftlichen Interessen und die dadurch entstehenden neuen strategischen Alternativen; eine zersplitterte, territorial bestimmte Struktur politischer Macht mit geringer Entscheidungsgewalt des Zentrums.“[13]
Diese strukturellen Merkmale ebenso wie die gegensätzlichen Interessen der Akteure verschiedener Ebenen und Gruppen, darunter eben insbesondere der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, beschränken die Möglichkeiten der EU-Ebene für eigene sozialpolitische Gestaltung in ganz erheblichem Maße. Im Ergebnis, so schreiben Leibfried und Pierson an anderer Stelle, sei daher eine klar ausgerichtete Sozialpolitik der EU kaum zu erwarten, wohl aber inkrementelle Schritte in ganz spezifischen Bereichen sowie „a variety of pressures and constraints on social policy development“[14].
2.1.1. Sozialpolitik im Kontext internationaler wirtschaftlicher Integration
Entsprechend der funktionalen Beschreibung von Karl Polanyi ist Sozialpolitik durch ihre Aufgabe gekennzeichnet, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor rein marktlich organisierten (d.h. völlig deregulierten) Arbeitsbeziehungen zu schützen. Dies wird verständlich vor dem Hintergrund von Polanyis sehr drastischer Charakterisierung eines Arbeits marktes als reinem Markt für die ‚Ware Arbeit’, d.h. für einen weitgehend homogenen Produktionsfaktor unter anderen[15]:
„Vom menschlichen Standpunkt gesehen bedeutete ein solches Postulat für den Arbeiter extreme Unsicherheit des Verdienstes, das völlige Fehlen beruflicher Standards, eine kriecherische Bereitschaft, sich wahllos herumstoßen und -schieben zu lassen sowie eine völlige Abhängigkeit von den Launen des Marktes. [...] Das natürliche Ziel allen sozialen Schutzes war es, eine solche Institution zu zerstören und ihre Bestehen unmöglich zu machen. Tatsächlich durfte [seit der Einführung sozialpolitischer Maßnahmen in den Industriestaaten] der Arbeitsmarkt seine Hauptfunktion nur unter der Bedingung weiter ausüben, daß Löhne und Arbeitsbedingungen, Standards und Vorschriften so beschaffen sein mußten, daß sie den menschlichen Charakter der angeblichen Ware Arbeit gewährleisteten.“[16]
Dieses ‚klassische’ Konzept der Sozialpolitik bezeichnet im wesentlichen den Schutz des Einzelnen in einer gegebenen gesellschaftlich-ökonomischen Situation, nämlich dem Arbeitsmarkt. Eine vergleichbare Funktion besitzt Sozialpolitik jedoch auch in gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungsprozessen und zwar insbesondere dann, wenn es den Individuen aufgrund ‚persönlicher Umstände’ – mit anderen Worten: eben weil es sich um Menschen handelt – schwerfällt, diese Veränderungen nachzuvollziehen bzw. sich an neue Gegebenheiten anzupassen. In diesem Sinne faßt Kowalsky die Bedeutung der Sozialpolitik in Modernisierungsprozessen und für deren Ermöglichung zusammen:
„Sozialpolitik besitzt die wesentliche Funktion, gesellschaftliche und ökonomische ‚Modernisierung’ zu ermöglichen [...], da sie gegen Systemzwänge partiell abschirmt [...]. Eine Gesellschaft oder Ökonomie, die innovativ bleiben möchte, setzt durch soziale Sicherung die Individuen in die Lage, modernisierende Brüche zu akzeptieren und mitzutragen.“[17]
Verbindet man die beiden Konzepte, so wird deutlich, welche Rolle der Sozialpolitik gerade im Fall von Modernisierungsprozessen zukommt, die zugleich Prozesse des ‚market building’ sind, also einen Abbau von Marktbeschränkungen darstellen. Dies gilt natürlich für die ‚Globalisierung’ insgesamt, d.h. für die weltweite Öffnung der Produkt- und Faktormärkte, insbesondere aber für den Prozeß der europäischen Integration von der Zollunion über den Binnenmarkt bis zur Wirtschafts- und Währungsunion.
Tatsächlich findet jedoch gerade in Prozessen des internationalen ‚market building’ in der Regel keine soziale Abfederung durch Maßnahmen, die über einzelne Staaten hinausgehen, statt. Gleichzeitig aber geraten die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit und des individuellen Schutzes unter zunehmenden Konkurrenzdruck. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn niedrige Schutznormen für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz den Faktor Arbeit in bestimmten Staaten billiger machen als in anderen mit strengeren Vorschriften und dadurch den dortigen Unternehmen Vorteile im europaweiten Wettbewerb entstehen.[18] Und dies gilt auch, wenn im Zuge von Investitionsentscheidungen Unternehmen ganz offen die Schaffung von Arbeitsplätzen an einem bestimmten Ort an Bedingungen knüpfen wie ‚Öffnungsklauseln’, Ausnahmen von gesetzlichen und tarifvertraglichen Regeln zum Schutz der Arbeitnehmer o.ä.[19]
Ein ganz wesentlicher Umstand in diesem Zusammenhang ist, daß zwar zumindest innerhalb des EU-Binnenmarktes rechtlich kein bedeutender Unterschied zwischen der Freizügigkeit der Arbeitskräfte und der Freiheit des Kapitalverkehrs besteht, letzterem jedoch auch keine Hindernisse wie Sprachbarrieren, familiäre Gründe etc. entgegenstehen. So besteht de facto eine wesentlich größere Beweglichkeit des Kapitals als des Faktors Arbeit – für den Weltmarkt gilt dies ohnehin – , wodurch die Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmen strukturell benachteiligt sind.
Alle diese Gründe führen Leibfried und Kodré zu der Feststellung, daß sowohl weltweit als auch in der EU
„ein universalisierbarer Marktrahmen als ‚Sog nach außen und oben’ mit einem faktischen ‚Sog nach innen und unten’ [konfligiert], der Arbeits- und Sozialpolitik erfaßt - und ihre Integration eher dem indirekten, blinden Wirken von Marktkräften (Standortkonkurrenz, Konkurrenz der ‚Regimeverbünde’, ‚Globalisierung’ usw.) [...] überläßt.“[20]
Um diesem ‚Sog nach innen und unten’ entgegenzuwirken, der im Extremfall zu einer Art ‚Sozialabbau-Wettlauf’ führen kann[21], reichen aus der Sicht vieler Beobachter bloße ordnungspolitische Maßnahmen der Marktorganisation, z.B. gegen das Erreichen oder den Mißbrauch von marktbeherrschenden Positionen durch einzelne Unternehmen, wie sie von Anfang an mit der wirtschaftlichen Integration verbunden waren, keineswegs mehr aus. Statt dessen müsse, so beispielsweise Keller, mit dieser Integration die Schaffung eines „European organized space“ einhergehen, in dem unter anderem
„– ähnlich wie in anderen Politikfeldern eines ‚European organized space’ – politische Regulierungen der Beschäftigungsbedingungen durch public policies im Sinne einer Vorgabe verbindlicher Mindest- und Schutznormen auf der supranationalen Ebene notwendig, um eine stärkere Entwicklung der sozialen Dimension der Gemeinschaft zu erreichen, die Jacques Delors zu Recht als deren 'Achillesferse' bezeichnet hat.“[22]
Auch Kowalsky sieht die Herausbildung der EU-Sozialpolitik vor allem im Kontext fortschreitender globaler Konkurrenz und internationaler Interdependenz: Zum einen erkläre diese die allgemeine Tendenz zur Entwicklung regionaler Zusammenschlüsse, zum anderen sei gerade eine gemeinschaftliche Sozialpolitik zu verstehen als supranationale Reaktion auf „säkulare Erosions- und Internationalisierungsprozesse [...], die die modernen Nationalstaaten erfassen.“[23]
Diese ‚Reaktion’ ist jedoch keineswegs selbstverständlich; vielmehr ist bis heute sowohl in der politischen als auch in der wissenschaftlichen Diskussion noch keine einheitliche Antwort auf die folgende Frage auszumachen: Wird die Möglichkeit sozialpolitischer Gestaltung in Europa durch ihre ‚Europäisierung’ erhalten oder verbleibt sie bei den Nationalstaaten – oder geht sie diesen verloren, ohne daß dieser Verlust durch eine neue Politik der EU-Ebene kompensiert würde?
Die Rolle der EU selbst wird dabei durchaus kontrovers diskutiert:
„Einerseits erscheinen Binnenmarkt und Währungsunion als Ausdruck einer im EU-Rahmen (zusätzlich) forcierten Internationalisierung der Ökonomie. Hierdurch werde die Erosion nationaler (sozial-)politischer Handlungsfähigkeit beschleunigt, zumal ein Ausbau sozialpolitischer Steuerungsfähigkeit auf europäischer Ebene nicht gegeben und nicht zu erwarten sei. Andererseits erscheinen gerade der hohe Grad an innereuropäischer Marktintegration und der erreichte Stand politisch-institutioneller Integration als Voraussetzung, das ‚Europäische Sozialmodell’ zu bewahren und zu modernisieren, weil die Globalisierungsfolgen auf der nationalen Ebene nicht mehr, zumindest nicht mehr allein bewältigt werden könnten.“[24]
Wo nationale Sozialpolitik unter den doppelten Druck des internationalen Wettbewerbs, in dem sie nur noch als Kosten- und Standortfaktor zählt, sowie finanzieller Engpässe der Staaten gerät, bleibt als Mittel gegen den ‚Sog nach unten’ nur die doppelte Verschiebung der Sozialpolitik zum einen auf die europäische Ebene – um wenigstens innerhalb des Binnenmarkts den Deregulierungswettbewerb bzw. das ‚Sozialdumping’ zu begrenzen – und zum zweiten in den regulativen Bereich garantierter Mindestrechte, z.B. für Arbeitnehmer, statt der (re-)distributiven Kompensation struktureller Benachteiligungen durch umfangreiche Transferleistungen.[25]
2.1.2. Die EU-Sozialpolitik als ‚positive Integration’: Binnenmarkt-Flankierung oder Sozialraum-Gestaltung
Dem Gegensatz zwischen einem ‚Sog nach außen und oben’ in Binnenmarkt und Globalisierung im Bereich der Wirtschaft und einem ‚Sog nach innen und unten’ bei sozialen Schutzmechanismen steht im Bereich der Integrationspolitik das Begriffspaar negative Integrationspolitik und positive Integrationspolitik gegenüber: Negative Integration betrifft den Abbau nationaler Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen, also politische Maßnahmen, die das ‚market building’ weniger aktiv unterstützen als vielmehr durch den Abbau von Hindernissen sich selbst überlassen. Positive Integration bezeichnet dagegen das gemeinsame Setzen von Regeln, Bedingungen und Beschränkungen, denen dieser Markt unterworfen ist.[26]
Dabei begründete der EWG-Vertrag von Anfang an eine sehr umfassende supranationale Kompetenz nur für die negative Integration, die zusätzlich durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorangetrieben wurde.[27] Dagegen blieb der Vertrag in bezug auf positive Integrationsschritte zunächst auf einige wenige Policy -Bereiche beschränkt, z.B. auf die Regulierung des Agrarmarktes durch die Gemeinsame Agrarpolitik, zu denen erst im Verlauf der späteren Vertragsänderungen (EEA, Maastricht, Amsterdam) weitere Gemeinschaftspolitiken kamen.
Verständlicherweise gelingt es im Kontext eines Integrationsprojekts, zumal solange Maßnahmen im Regelfall nur einstimmig von den Vertretern der Mitgliedstaaten beschlossen werden können, diesen leichter, sich auf die Abschaffung bestehender – und oft von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschiedener – Regeln zu einigen. Die Einigung auf gemeinsame Regeln fällt dagegen ungleich schwerer, vor allem wenn in einem Bereich bereits sehr unterschiedliche nationale Normen, Traditionen oder institutionelle Arrangements existieren.
Nicht allein gehören alle im weitesten Sinne sozialpolitischen Maßnahmen der EU zum Bereich der positiven Integration; vielmehr besteht auch gerade hier das zuletzt angesprochene Problem sehr unterschiedlicher Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten. Daraus erklärt sich ein ‚Ungleichgewicht’ zwischen Wirtschaftsintegration und EU-Sozialpolitik, wobei außerdem noch hinzukommt, daß die Wirtschaftsintegration aufgrund des zunehmenden Konkurrenzdrucks den Spielraum für nationale Sozialpolitik einengt.
Das besondere an der EU-Sozialpolitik ist dabei, daß sie nicht – wie es dem Konzept von Polanyi entsprechen würde und wie es auch bei der Herausbildung nationaler Sozialpolitiken im 19. und 20. Jahrhundert der Fall war – in einen bereits voll entwickelten Markt eingreift oder dessen Entwicklung begrenzt. Vielmehr ist sie „integraler Bestandteil des Baus eines gemeinsamen Markts (market building) selbst.“[28] Daher steht ihre Gestaltung auch in einem engen Zusammenhang mit dem jeweiligen Stand im Prozeß des ‚ market building ’. Platzer formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen:
„Jede vertragliche Weichenstellung hin zu einer neuen, vertieften Stufe der ökonomischen Integration wirft je spezifische Fragen einer sozialen Flankierung der Marktprozesse und politischen Ausgestaltung der ‚sozialen Dimension’ auf. Dabei geht es grundsätzlich um das Verhältnis von zwischenstaatlichem und marktwirtschaftlichem Ordnungswettbewerb einerseits und europäischer Koordinierung, Regulierung und Vergemeinschaftung andererseits.“[29]
Daß die EU-Sozialpolitik seit ihren Anfängen vor allem als legislative Sozialpolitik zur ‚Flankierung’ der Marktintegration geplant war, wird von Autoren kritisiert, die eine aktive und umverteilende Gestaltung des ‚Sozialraumes Europa’ fordern – und nicht nur seine passive Entwicklung im Zuge der Wirtschaftsintegration:
„Es kann keineswegs darum gehen, daß einzig durch solche Sicherungssysteme und Transferleistungen ein im Kern ökonomischer Prozeß ‚flankiert’ wird. Sozialpolitik mit einem gestaltungsbezogenen Impetus ist in einem positiven Sinn nicht denkbar als ‚Zugabe’, sondern nur als integraler Bestandteil, genauer: als übergeordnete Leitlinie der Gesamtpolitik, der andere politische Teilsysteme mehr oder weniger untergeordnet sind. [...] Besonders wichtig ist im Zusammenhang mit der Diskussion um die Europäische Sozialpolitik und deren reduzierte Fassung i.S. einer ‚Flankierungsrolle’ aber folgendes: Es erfolgt immer auch eine Gestaltung des Sozialraumes, wenn diesem Postulat nicht nachgegangen wird und umgekehrt ein ‚Primat der Wirtschaftspolitik’ gesetzt ist – nur unter der Annahme, daß Sozialpolitik allemal allein eine Flankierungsrolle aufweist, könnte man davon ausgehen, daß dann keine Sozialraum-Gestaltung stattfindet.“[30]
Entsprechend kritisiert auch Streeck[31] das Konzept, soziale Mindeststandards zu definieren, auf deren Grundlage sich dann ein europäischer Regimewettbewerb entwickeln solle. So werde zwar schlichtes ‚Sozialdumping’ verhindert, aber nichtsdestotrotz sei eine Angleichung nationaler Regime ‚nach unten’, an Standards nahe beim kleinsten gemeinsamen Nenner, eher zu erwarten als eine fortschrittliche supranationale Sozialpolitik. Ferner könnten auch auf nationaler Ebene durch den Regimewettbewerb „Initiativen zur Verbesserung der sozialen Sicherung entmutig[t]“[32] statt befördert werden.
Aus institutionellen Überlegungen heraus ist auch Scharpf skeptisch, was die Chancen eines Auswegs aus dem Dilemma durch die Herausbildung von Bereichen echter positiver Integration als Kompensation für weggefallene nationale Regulierungen, also eines (sozial-)politischen Ordnungsrahmens für den durch negative Integration entstandenen, deregulierten (Wirtschafts-)Raum, betrifft:
„The most likely result is a competency gap, in which
national policy is severely restrained in its problem-solving capacity, while
European policy is constrained by the lack of intergovernmental agreement.“[33]
Wie sich unter diesen Bedingungen dennoch zumindest eine (partielle) sozialpolitische Integration herausbilden kann, dazu sollen im Abschnitt 2.3. Hypothesen aus der Sicht verschiedener Theorien zur Erklärung von Integrationsprozessen entworfen werden, die dann anhand der tatsächlichen Ergebnisse und einer Untersuchung der beteiligten Akteure und ihres Zusammenwirkens überprüft werden.
2.1.3. Die EU als ‚Mehrebenensystem im Werden’: Sozialpolitik und Subsidiaritätsprinzip
An dieser Stelle soll nicht ausführlich der Frage nachgegangen werden, mit welcher der klassischen staatswissenschaftlichen Definitionen die EU am besten erfaßt wird (ob Internationale Organisation, Staatenbund, Bundesstaat...). In dieser statischen Perspektive ist die EU immer noch „ un objet politique non-identifié “[34].
Selbst wenn man die EU noch immer bloß als ein regionales Subsystem der internationalen Staatenwelt betrachten würde, fiele bei der Analyse der politischen Handlungsbedingungen der einzelnen Staaten sofort dessen einzigartiger Charakter auf (auch im Vergleich mit Integrationsprojekten in anderen Weltregionen, z.B. Lateinamerika). In keinem anderen derartigen Subsystem weisen jedenfalls die internationalen Beziehungen einen so hohen Organisations- und Reglementierungsgrad auf wie in der EU.
Auch die alleinige Darstellung als intergouvernementale Vertragsorganisation wird der EU nicht gerecht. Während nämlich in intergouvernemental organisierten Systemen sich die Staaten zwar vertraglich binden, weitgehend jedoch alleinige Akteure bleiben, haben sich in der EU zusätzliche Schranken staatlicher Autonomie entwickelt:
„(1) die autonomen Aktivitäten der EU-Organisationen;
(2) der Einfluß früher eingegangener politischer Verpflichtungen auf EU-Ebene, die die Mitgliedstaaten auf eine einmal beschlossene Maßnahme festlegen (‚Pfadabhängigkeit’), für die sie sich inzwischen vielleicht gar nicht mehr aussprechen würden[[35] ];
(3) die Auswirkungen der weitläufigen nicht-intendierten Folgen des Handelns der EG sowie zunehmender ‚Politikverflechtung’ in der EU, einschließlich der ‚spillovers’, die zu neuen Initiativen führen[[36] ]; und
(4) die Aktivitäten nicht-staatlicher Akteure, die unabhängig handeln und keineswegs nur ‚durch die Mitgliedstaaten’ agieren[[37] ].“[38]
Betrachtet man, wie die denkbaren Handlungsoptionen der politischen Akteure aus den Mitgliedstaaten, die ja weiterhin von außerordentlicher Bedeutung bleiben, und der supranationalen Akteure und Institutionen sich hier in einem besonderen Ausmaß wechselseitig bedingen und begrenzen, so scheint die beispielsweise von Leibfried und Pierson gewählte Bezeichnung für die Ebene der EU-Institutionen „ als zentrale – jedoch noch schwache – eigenständige Ebene in einem sich entwickelnden Mehrebenensystem staatlichen Handelns “[39] durchaus angebracht.
Dieses damit – wenn auch nur vage – beschriebene System ist zudem dadurch gekennzeichnet, daß die Beziehungen sowohl zwischen den Akteuren auf der EU-Ebene als auch zwischen den verschiedenen Ebenen noch immer im Wandel sind, was das Umfeld für politische Entscheidungen wie auch die Entscheidungen selbst schwer vorhersehbar macht.[40] Für die Praxis des ‚Regierens’ in der EU bedeutet dies:
„there is no centre of accumulated authority but ... changing combinations of supranational, national and subnational governments engage in collaboration.“[41]
Diese Variabilität des politischen Systems, in dem „die Rahmenbedingungen und ‚Spielregeln’ für die Zusammenarbeit nicht den dauerhaften und festgefügten Charakter aufweisen, wie in vielen liberal-demokratischen Nationalstaaten“[42], führe, so Schumann, zu häufigen Machtverteilungskonflikten zwischen Ebenen und Domänen[43], die insbesondere dann aufbrächen, „wenn es um die Einbeziehung neuer Politiken in die Unionszusammenarbeit geht.“[44]
Eine allgemeine Regel zur Lösung derartiger Konflikte stellt das Subsidiaritätsprinzip dar, das mit dem Vertrag von Maastricht in den EG-Vertrag eingefügt wurde:
„In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“[45]
Gerade im Bereich der Sozialpolitik wurde diese ‚vertikale Subsidiarität’ ergänzt um ein Konzept der ‚horizontalen Subsidiarität’, nachdem die ‚staatlichen’ EU-Institutionen nur regulierend eingreifen sollen, z.B. durch den Erlaß von Richtlinien, wenn nicht eine Kollektivvereinbarung der Sozialpartner ebenfalls befriedigende Ergebnisse bringen kann.[46]
Allerdings öffnet die ‚Grundregel’ des Subsidiaritätsprinzips selbst natürlich eine große Bandbreite von Interpretationsmöglichkeiten; denn wann kann schon im voraus objektiv festgestellt werden, ob eine völlig neue Gemeinschaftsmaßnahme einem Problem, wie z.B. der Arbeitslosigkeit, „besser“ gerecht wird als die bisherige Tätigkeit der Mitgliedstaaten?
Dabei ist festzustellen, daß in wenigen Politikfeldern so oft über das Subsidiaritätsprinzip – als Grundlage für ein ‚subsidiäres’ Tätigwerden der Gemeinschaft ebenso wie als Argument gegen die Integration – diskutiert wird wie in der Sozial- und Beschäftigungspolitik.
Zum einen ist gerade in der Sozialpolitik die bereits bestehende nationale Regulierungsdichte besonders hoch, bei großen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten. Schon deshalb stellt sich in besonderem Maße die Frage nach dem ‚Mehrnutzen’ zusätzlicher europäischer Regulierung.
Zum anderen verfügt die EU über nur geringe Mittel für eine eigene redistributive Sozialpolitik in großem Umfang, und ihr fehlen auch eigene administrative Kapazitäten zur Umsetzung sowohl distributiver als auch regulativer Politik. Auch von daher ist fraglich, welche Maßnahmen unter die Erfordernis fallen können, daß die EU-Ebene zu ihrer Durchführung am besten geeignet sein soll.
Dazu kommt, daß die EU-Ebene insgesamt nur in äußerst wenigen Bereichen, wie z.B. der Zollpolitik oder, innerhalb der Währungsunion, der Geldpolitik, über ausschließliche Kompetenzen verfügt. Schon deshalb kann gerade in der Sozialpolitik allenfalls von einzelnen Kompetenzen für bestimmte Maßnahmen oder Maßnahmenbündel die Rede sein - nicht für die Sozialpolitik. Zu dieser häufigen Fehlinterpretation schreibt beispielsweise Däubler:
„Der Überblick über die bisherige Tätigkeit der Gemeinschaft kann leicht zu dem Fehlschluß verleiten, unser Arbeits- und Sozialrecht würde immer mehr durch europäische Rechtsnormen überlagert und schließlich zu einer bescheidenen Restgröße verkümmern. Dem ist nicht so. Weite Felder des Arbeitsrechts – von der Einstellung über den Lohnschutz bis zum individuellen Kündigungsschutz und zur Arbeitsgerichtsbarkeit – sind weiter rein national geregelt. Auch wenn eine Quanitifizierung in solchen Fällen nicht ganz unproblematisch ist, wird man davon ausgehen können, daß mindestens 95 bis 98% aller Fragen weiter auf rein nationaler Grundlage entschieden werden.“[47]
In der nach wie vor bestehenden ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten für bestimmte Bereiche des Arbeitsrechts liege, so Däubler weiter, die zentrale Begründung für dessen „fragmentarischen Charakter“[48] auf EU-Ebene.
Wegen der vielfältigen Kompetenzteilungen zwischen den verschiedenen Ebenen – sowohl sektoriell im Sinne der Ausgrenzung einzelner Sachgebiete als auch funktional, z.B. zwischen Politikformulierung und Implementierung – ist festzustellen, daß es sich bei der EU-Sozialpolitik nicht um eine autonome Politikgestaltung handelt. Vielmehr müssen die sozialpolitischen Aktivitäten in der EU im Kontext des komplexen Mehrebenensystems aus EU-Ebene, nationalstaatlicher und ggf. subnationaler Ebene sowie des Nebeneinanders von EU-Gesetzgebung und einem sich herausbildenden Bereich kollektivvertraglicher Regelungen immer als ein ‚Mitwirken an Sozialpolitik’ angesehen werden.
Dessen sind sich auch die supranationalen Institutionen der EU bewußt. Entsprechend ist beispielsweise aus der Sicht der Kommission bei der sozialpolitischen Integration „die Vielfalt der Kulturen und nationalen Gepflogenheiten unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips zu bewahren, da sie einen grundlegenden Wert darstellt, sofern sie mit dem Prozeß des europäischen Aufbaus und dem Vertrag vereinbar bleibt. Ziel der Kommission und der Union ist somit nicht die vollständige Harmonisierung der Sozialpolitik. “[49]
Ganz ähnlich beschreibt diese Situation beispielsweise Wolfgang Streeck:
„Die Sozialpolitik der Gemeinschaft ist in die Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten eingebettet und steht mit ihnen in einem Wechselverhältnis. Eine realistische Analyse von Sozialpolitik in Europa muß die einzigartige Struktur des politischen Systems des Binnenmarktes ernst nehmen, insbesondere die konstitutionell gesicherte starke Position der Nationalstaaten in einer internationalen, teils supranationalen, teils intergouvernementalen wirtschaftlichen Ordnung.“[50]
Dabei fügt sich der fragmentarische Charakter der Kompetenzen und der Tätigkeit der EU im Bereich der Sozialpolitik ein in eine allgemeine strukturelle Inkongruenz des Mehrebenensystems EU. Diese beschreiben Traxler und Schmitter folgendermaßen:
„Differenziert man zwischen territorialer und funktionaler Interessenrepräsentation, dann zählen zu den Konstituenten staatlicher Organisation vor allem die eindeutige Grenzziehung zwischen Innen und Außen sowie die Einbindung aller territorialen Subeinheiten in ein übergreifendes Gefüge hierarchisch organisierter Herrschaft; und in funktionaler Hinsicht die komplementäre Verteilung zwischen Entscheidungs- und Kontrollinstanzen. Dabei sind territoriale und funktionale Organisationseinheiten in einem kohärenten System staatlicher Institutionen miteinander verknüpft. Der Aufbau eines solchen Institutionssystems ist im Vertrag von Maastricht nicht einmal in Grundkonturen zu erkennen.“[51]
Dies gilt auch und gerade für die nicht deckungsgleichen territorialen Abgrenzungen der EU im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich: Während der Binnenmarkt im Wesentlichen sogar über die EU-Grenzen hinausreicht und auch die EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein umfaßt, bildete Großbritannien zwischen Maastricht und Amsterdam eine Ausnahme von der Sozialpolitik, und es ist zusammen mit Dänemark und Schweden von der Währungsunion ausgenommen.
Ganz anders die Verteilung in einem herkömmlichen – föderalen – Mehrebenensystem: Zwar gibt es hier natürlich Kompetenzen, die auf jeweils unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, aber eben diese Verteilung gilt für alle Einheiten einer Ebene gleichermaßen, z.B. haben alle deutschen Bundesländer die gleichen Kompetenzen – und nicht das eine weniger und das andere mehr, wie soeben für die EU in bestimmten Bereichen angedeutet.[52]
Die Existenz von ‚ Opting-out ’-Möglichkeiten, d.h. das Recht einzelner Einheiten der ‚unteren’ Ebene, Kompetenzen zu behalten, die andere der ‚oberen’ Ebene übertragen haben, ist ein ganz entscheidendes Kriterium, nach dem die EU wohl (zumindest noch) nicht als Staat betrachtet werden kann.
Die noch immer instabile Mehrebenenstruktur der EU hat für die Formulierung von Sozialpolitik in diesem System verschiedene weitere Folgen:
Erstens wird nach wie vor ein großer Teil der politischen Auseinandersetzungen nicht über die inhaltliche Substanz der EU-Sozialpolitik geführt, sondern vielmehr über die Zuweisung bestimmter Kompetenzen an bestimmte Ebenen. Dabei verlaufen auch die entsprechenden Konfliktlinien eben nicht notwendigerweise – wie dies meist in inhaltlichen Auseinandersetzungen im nationalstaatlichen Kontext der Fall ist – zwischen ‚links’ und ‚rechts’, beispielsweise darüber, ob ein Sozialsystem eher eine allgemeine Versorgung der Bevölkerung leisten oder Anreize zur Eigenvorsorge schaffen soll. Vielmehr kommt es zu integrationspolitischen ‚Stellungskriegen’, z.B. zwischen Kommission und einer breiten integrationsfreundlichen Mehrheit im Europäischen Parlament einerseits und einer Koalition eher integrationskritischer Regierungen andererseits. Dabei kommt es zudem oft zu einer schwer zu trennenden ‚Vermischung’ von Zielen, wie z.B. der Forderung nach mehr sozialpolitischen Kompetenzen der EU und einer interventionistischen Politik überhaupt, oder aber der Ablehnung von mehr EU-Kompetenzen im sozialpolitischen Bereich und der allgemeinen Forderung nach dem Abbau sozialpolitischer Regulierung. Dabei wäre es im Hinblick auf die demokratische Struktur einer jeden Ebene wichtig, daß „horizontale“ Auseinandersetzungen über inhaltliche Alternativen zwischen den Akteuren auf einer Ebene geführt und auch als solche wahrgenommen würden.[53]
Genau das Gegenteil ist aber in der Außendarstellung von politischen Konflikten auf der EU-Ebene häufig der Fall: Wahrgenommen wird vor allem das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konzepte des Europäischen Parlaments und des Rates, weiterhin ggf. noch Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen (Gruppen von) Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Interessen. Sehr viel weniger Beachtung finden dagegen die Diskussionen innerhalb des Europäischen Parlaments sowie die Tatsache, daß gerade in den Bereichen Sozial- und Beschäftigungspolitik auch das Verhalten der Mitgliedstaaten im Rat durchaus unter parteipolitischen Gesichtspunkten zu sehen ist.[54]
Zweitens hat sich angesichts der sowohl funktional als auch im Zeitablauf variablen Akteurszusammensetzung eine doppelte Verbändestruktur herausgebildet, wobei den Verbänden mehrere mögliche Strategien der Einflußnahme zur Auswahl stehen. Anders als die Bildung der Nationalstaaten führt nämlich die europäische Integration nicht zu einer allgemeinen Zentralisierung der Macht, unter deren neuen Bedingungen sich auch die verschiedenen Interessengruppen vorwiegend auf das neue Zentrum ausrichten und sich dabei selbst in ihrer Organisation zentralisieren. Vielmehr bleiben die national organisierten Verbände bestehen. Nur teilweise organisieren sie sich transnational in europäischen Dachverbänden, die insgesamt gegenüber ihren nationalen Mitgliedsverbänden schwach bleiben. Möglichkeiten der Einflußnahme ergeben sich sowohl auf der neuen europäischen Ebene, z.B. durch Lobbying bei der Kommissionsbürokratie, als auch nach wie vor bei den nationalen Regierungen und ihren Vertretern im EU-System. Dabei unterscheiden sich die ‚Zugangspunkte’ der Interessengruppen zusätzlich zwischen den verschiedenen Politikbereichen, je nach Stand und ‚Art’ (supranational vs. intergouvernemental) der Integration:
„Whereas the classic nation-state tended to define the ‘structure of political opportunities' for all challenging groups, the emergence of a multi-level polity means that movements are increasingly likely to confront highly idiosyncratic opportunity structures defined by that unique combination of government bodies (at all levels) which share decision-making authority over the issues of interest to the movement. So instead of the rise of a single new social movement form, we are more apt to see the development and proliferation of multiple movement forms keyed to inherited structures and the demands of mobilization in particular policy areas.“[55]
Drittens steht durch die Integration den Mitgliedstaaten auch in ihren eigenen Kompetenzbereichen nur noch eine bestimmte Bandbreite sozialpolitischer Optionen offen. Diese ergibt sich sowohl durch die explizit sozialpolitischen (Mindest-)Vorgaben der EU-Richtlinien als auch durch die Interdependenzwirkungen anderer Policies.
„Member states still 'choose', but they do so from an increasingly restricted menu. At a time when control over social policy often means responsibility for announcing unpopular cut-backs, member-state governments sometimes are happy to accept arrangements that constrain their own options. Given the unpopularity of retrenchment, governments may find that the growing ability to blame the EU allows changes which they would otherwise be afraid to contemplate.“[56]
Diese Einengung der Handlungsalternativen kommt den Regierungen der Mitgliedstaaten also zumindest kurzfristig längst nicht in jedem Fall ungelegen. Sie hat aber auch langfristige Folgen, die weit über bestimmte Einzelentscheidungen und -maßnahmen hinausreichen. Schließlich können Entscheidungen für bestimmte EU- Policies ja nicht beliebig gefällt und wieder rückgängig gemacht werden; außerdem bedingen sie oft Folgeentscheidungen, für die sie ebenfalls wiederum nur einen bestimmten Handlungsspielraum eröffnen, oder auf längere Zeit angelegte Prozesse, die einem bestimmten vorgegebenen Entwicklungspfad folgen.
2.1.4. EU-Sozialpolitik und Pfadabhängigkeit
Die Abhängigkeit politischer Entscheidungen von früher getroffenen Beschlüssen stellt eine weitere zentrale Rahmenbedingung der Integrationspolitik dar, die ebenso wie die Kompetenzverteilung im Mehrebenensystem plötzliche Politikwechsel unmöglich macht:
„Yet in the process of escaping from domestic constraints, national executives have created new ones that profoundly limit their options. Decision-making bodies at both the national and supranational level face serious restrictions on their capacity for social policy intervention, since they have partly 'locked themselves in' through previous steps towards integration.“[57]
Das ‚Funktionieren’ des EU-Systems mit seinen vielfältigen Verflechtungen zwischen verschiedenen Akteuren – zwischen den Ebenen, zwischen den Institutionen, innerhalb von und zwischen Netzwerken – ist darauf angewiesen, daß diese Akteure die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen einhalten, und zwar nicht nur diejenigen, die sich aus rechtskräftigen Verträgen ergeben. Auch bestehen diese Verpflichtungen über den politischen Positionswechsel eines Akteurs oder über den Regierungswechsel in einem Staat hinaus fort, und mit der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof überwachen einerseits supranationale Einrichtungen ihre Einhaltung; eine grundlegende Änderung gemeinsamer oder multilateraler Verpflichtungen auf bestimmte Ziele oder ein bestimmtes Verhalten ist andererseits meist nur durch Zustimmung aller beteiligten Akteure zu erreichen.[58]
Ein Beispiel dafür ist die Begrenzung des EU-Haushalts auf maximal 1,27% des EU-Bruttosozialproduktes durch das System der Eigenmittel und längerfristige Haushaltsplanungen.[59] Über das Eigenmittelsystem entscheidet der Rat auch noch nach dem Amsterdamer Vertrag (Art. 269 EGV n.F.) einstimmig. Selbst wenn also z.B. eine Regierung umfangreiche Ausgaben für eine EU-Beschäftigungspolitik wünschen würde, könnte sie dieses Ziel doch nicht ohne weiteres in den EU-Institutionen einfordern: Zum einen bliebe auch sie zunächst einmal an den Beschluß zur Deckelung der Gesamtausgaben gebunden, zum anderen daran, daß rund 50% der Gesamtausgaben (v.a. die Agrarausgaben) als ‚obligatorische Ausgaben’ für Haushaltsumschichtungen zugunsten anderer gewünschter politischer Schwerpunkte nicht zur Verfügung stehen.
Ähnliches gilt für die makroökonomische Koordinierung zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik: Die Entscheidung, alle währungspolitischen Kompetenzen auf die sowohl von den nationalen Regierungen als auch von den anderen supranationalen EU-Institutionen unabhängige Europäische Zentralbank zu übertragen, läßt bereits seit dem Abschluß des Maastrichter Vertrages allenfalls noch äußerst geringen Veränderungsspielraum. Dies wird auch bei Schaffung eines wie auch immer gearteten ‚politischen Gegengewichts’ so bleiben.
Die EWU-Mitgliedstaaten sind daher, umso mehr jetzt, nach der Einführung des Euro, eingebunden in „die monetaristische Logik, die vor Jahren entwickelt und angenommen wurde“[60] - und für die sich manche der heutigen Regierungen zumindest in dieser Form vielleicht gar nicht mehr aussprechen würden.
Grundsätzliche Korrekturen an den vertraglichen Regelungen (z.B. am Prinzip der Unabhängigkeit der EZB, aber auch an den haushaltspolitischen Konvergenz- und Stabilitätskriterien) wären nur mit Einstimmigkeit zu erreichen. So bestand beispielsweise für die 1997 ins Amt gewählte Linksregierung in Frankreich lediglich noch die Alternative, nicht – oder zumindest nicht 1999 – an der EWU teilzunehmen. Damit wäre jedoch die insbesondere von ihr eingeforderte Koordinierung erst recht nicht zustande gekommen, zumindest nicht mit Beteiligung Frankreichs, wie der Ausschluß Großbritanniens aus dem Euro-11-Rat zeigt.
Zudem hätte ein Fernbleiben jedoch vermutlich ein Scheitern oder eine Verschiebung der Währungsunion auf unbestimmte Zeit bedeutet – mit ebenfalls ungewissen Folgen für den Integrationsprozeß insgesamt – , wahrscheinlich zusätzlich auch starke Wechselkursschwankungen verursacht.
Das unerwartete Ausscheren eines Mitgliedstaates aus einem begonnenen Integrationspfad bzw. allgemein aus einem längerfristigen politischen Prozeß –nicht nur, aber besonders anschaulich, im Fall des EWU-Prozesses – , wäre mit so hohen Opportunitätskosten verbunden, daß diese Möglichkeit allenfalls theoretisch besteht:
„Der Preis, der für jeden Versuch entrichtet werden muß, sich von früher vereinbarten, aber gegenwärtig unerwünschten Regelungen der Union auszunehmen, wird dadurch schlicht unbezahlbar.“[61]
Nun stellte die Pfadabhängigkeit an sich noch kein so großes Problem dar, wenn die Akteure ihre Entscheidungen im vollen Bewußtsein ihrer wesentlichen Folgen treffen könnten. Genau diese Bedingung vollkommener Information ist aber in dem – historisch und auch im synchronen weltweiten Vergleich einzigartigen – Prozeß der europäischen Integration nicht erfüllt. Dadurch sind spätere Überraschungen hinsichtlich der Folgen eingegangener Verpflichtungen möglich, und es kann durchaus sein, daß die Akteure später ihre früheren Entscheidungen 'bereuen', sie aber dennoch daran gebunden sind.
Schmitter formuliert dieses Informationsproblem folgendermaßen:
„ Decisions about integration are normally taken with very imperfect knowledge of their consequences and frequently under the pressure of deadlines or impending crises. Given the absence of clear historical precedents, actors are likely to miscalculate
(a) not only their capability to satisfy initial mutually agreed-upon goals;
(b) but also the impact of these efforts upon other, less consensual goals.“[62]
Allgemein gilt natürlich, daß die Bedeutung der Pfadabhängigkeit desto größer ist – und der Handlungsspielraum der Akteure mithin desto geringer – , je weiter die Integration in einem bestimmten Politikbereich bereits fortgeschritten ist, je enger die bereits bestehenden Verpflichtungen also bereits sind. Das bedeutet, daß in einem Politikbereich wie der Beschäftigungspolitik die Regierungen zumindest bis zum Vertrag von Amsterdam über relativ viele Handlungsalternativen verfügten - von der Beibehaltung der überwiegend nationalen Zuständigkeit über Initiativen für eine „gemischte“ Zuständigkeit bis hin zur Forderung nach eigenen Beschäftigungsprogrammen der EU - , weil in diesem Bereich bisher wenig vertragliche Verpflichtungen bestanden.
Weiterhin fällt auf, daß realistische Handlungsmöglichkeiten in der Regel nur darin bestehen, in einem bestimmten Politikbereich den integrationspolitischen Status quo beizubehalten oder die Integration zu vertiefen. Wenn politische Kompetenzen erst einmal durch eine Vertragsänderung oder einen einstimmigen Beschluß nach Art. 308 EGV n.F. auf die Gemeinschaftsorgane übertragen sind, oder wenn nationales Recht durch EU-Recht ersetzt ist, scheint es für eine Regierung so gut wie aussichtslos, ihre Außenpolitik darauf auszurichten, diesen Integrationsschritt rückgängig zu machen. Allenfalls kann sie weitere Integrationsschritte in diesem Bereich ablehnen.
Auch bei den verschiedentlich diskutierten Konzepten differenzierter oder flexibler Integration ist in der Regel nicht die Rede davon, den bestehenden Acquis communautaire dadurch bedeutend zu verringern, daß Staaten bereits an die EU übertragene Kompetenzen zurückerhalten, bzw. wählen können, ob sie sich weiterhin an einzelnen bereits vergemeinschafteten Politiken beteiligen oder sich im Alleingang daraus zurückziehen (Europa à la carte).[63] Die differenzierte Integration wird vielmehr nur als „verstärkte Zusammenarbeit“ einzelner Mitgliedstaaten über den bestehenden Acquis communautaire hinaus verstanden, und als solche ist sie auch in den Amsterdamer Vertrag aufgenommen worden.[64]
Betrachtet man die verschiedenen Richtungen, in die der ‚Integrationspfad’ auf der Ebene aus ‚Integrationsbreite’, also Zahl der Gemeinschaftspolitiken („scope of authority“), und ‚Integrationstiefe’, d.h. der Autorität der supranationalen Ebene („level of authority“), entsprechend der Abbildung 2-1 führen kann, so ist folgendes festzustellen: Weder „spill back“ noch „retrench“ noch „muddle about“ sind bisher in Form einer kohärenten Strategie von einem Mitgliedstaat angestrebt worden – allenfalls werden sie gelegentlich von einzelnen politischen Akteuren auf mitgliedstaatlicher Ebene, bevorzugt aus der Opposition heraus, gefordert. Selbst die integrationspolitische Krise von 1965/66 bestand lediglich darin, die zwar beschlossene, aber noch nicht verwirklichte Erweiterung des „level of authority“, d.h. den Übergang zur qualifizierten Mehrheitsabstimmung, zu verhindern. Und die Europapolitik einer Margaret Thatcher bestand zwar in vielen Politikbereichen in der Ablehnung weiterer Integrationsschritte[65], jedoch kaum darin, auf einen Status quo ante geringerer Integration zurückzukehren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2-1: Mögliche ‚Pfade’ und Akteursstrategien im Integrationsprozeß
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. in Giering 1997, S. 83, dort nach Schmitter, Philippe C. (1971): A Revised Theory of Regional Integration.
Vielmehr bleiben als Alternativen für eine Entwicklung der europäischen Integration nur noch Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs und/oder der Autorität der Gemeinschaftseinrichtungen oder eben das Verharren auf dem Status quo, zumindest für politische Akteure, die unmittelbar für das europapolitische Handeln eines Mitgliedstaates und damit auch für die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen verantwortlich sind. Sowohl Renationalisierung von Kompetenzen als auch ein umfassendes Gemeinschaftshandeln weit über den bestehenden Acquis communautaire hinaus und mit finanziellen Auswirkungen jenseits der gesetzten Grenzen, z.B. in der Beschäftigungspolitik, lassen sich aus der Opposition heraus leicht fordern; jedoch „findet sich jede Regierung eines europäischen Staates nach der Wahlparty in einem Geflecht von Bedingungen ihres Handelns wieder, das ihr nur begrenzten Spielraum läßt.“[66]
2.2. Methodische Grundlagen: Die Anwendung von Policy- und Netzwerkanalyse auf die EU-Sozialpolitik
2.2.1. Policy -Analyse
2.2.1.1. Klassifizierung von Policies
In der Untersuchung und Bewertung des sozialpolitischen Policy-Outputs der EU-Ebene[67] möchte ich mich im Wesentlichen an den vier Dimensionen zur Klassifizierung von Policies [68], wie sie Windhoff-Héritier unterscheidet, orientieren:
(1) Nominalkategorien, wie beispielsweise eben gerade ‚Sozialpolitik’, entsprechen Politikfeldern, deren Abgrenzung sich inhaltlich durch sachliche Zusammenhänge und formal durch institutionelle Kompetenzbereiche bestimmt.
Besonders treffend für die Analyse der EU-Sozialpolitik, also die übergreifende Analyse sowohl einer erst allmählich geschaffenen Zuständigkeit und ihrer materiellen Erfüllung als auch des sich entwickelnden Entscheidungssystems, ist die folgende Darstellung:
„Nominell bezeichnete Policies stellen das Ausgangsfeld dar für die Analyse institutioneller Zuständigkeiten und Handlungsgeflechte. Denn die Herausbildung staatlicher Aufgaben, die die Nominalkategorie bezeichnen, vollzog sich in Wechselwirkung mit der Herausbildung institutioneller Kompetenzen, und beide sind nicht voneinander zu trennen.“[69]
Mit der Wahl des Themas dieser Arbeit und der obigen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ist die Frage der Nominalkategorie, zu der die unten analysierten Policies gehören, schon entschieden, weswegen sich hier eine weitere Erörterung erübrigt.
(2) „ Unterscheidung nach Wirkungen “[70]: Diese Dimension wird dadurch gekennzeichnet, ob eine Policy distributive oder redistributive Wirkung hat. Im ersten Fall werden also z.B. öffentliche Güter zur Verfügung gestellt oder verteilt, zwar vielleicht mit unterschiedlichem Nutzen für den Einzelnen, aber ohne individuellen Betroffenen die Kosten aufzuerlegen. Ein Beispiel hierfür im Bereich der Sozialpolitik wären Weiterbildungsangebote als Teil einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die aus allgemeinen staatlichen Haushaltsmitteln finanziert werden. Wer an derartigen Maßnahmen teilnimmt, hat einen zusätzlichen Nutzen, wer nicht daran teilnimmt, hat zwar keinen unmittelbaren Nutzen davon, aber es entstehen ihm auch keine individuell zurechenbaren Kosten. Dies ist bei redistributiver Wirkung von Policies anders: Hier gibt es sowohl klar definierbare ‚Empfänger’ als auch ‚Kostenträger’, wenn auch in einem nicht nur finanziellen Sinn. Hierunter fallen Leistungen an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, z.B. Altersversorgung, die von einer anderen Bevölkerungsgruppe bezahlt werden, aber auch Rechte einer bestimmten Gruppe, die eventuell zu Lasten von bisher bestehenden Rechten einer anderen Gruppe gehen, z.B. Rechtsgarantien der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern.
Allerdings ist die Unterscheidung zwischen distributiver und redistributiver Politik längst nicht so eindeutig, wie sie zunächst scheint:
„Die Gefahr besteht, daß redistributive und distributive Policy sich in Subjektivität auflösen: Was dem einen seine Verteilungspolitik ist, ist dem anderen seine Umverteilungspolitik – je nachdem, wie er Kosten und Nutzen subjektiv einschätzt. In dieser Subjektivität liegt die Schwäche, aber auch die Stärke des analytischen Begriffspaars. Der individuellen Wahrnehmung des Nutzens kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn sich die Frage stellt: Wie reagieren Individuen und Gruppen auf vorgeschlagene Policies?“[71]
Interessant im Zusammenhang mit der EU-Sozialpolitik ist hier beispielsweise die Frage nach der Bewertung von Arbeitsschutzmaßnahmen, da diese ja gerade eine wichtige Regelungsmaterie der EU im sozialpolitischen Bereich darstellen:
„Über eine analytische Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Betroffenheit hinaus gilt es auch, die Veränderung einer Policy im Verlaufe der Zeit im Auge zu behalten. Was zunächst als redistributive Maßnahme gilt, kann sich nach einiger Zeit als distributive Maßnahme entpuppen oder umgekehrt. So stellen sich Sicherheitsvorkehrungen im Arbeitsschutz zu Beginn als redistributive Maßnahmen zugunsten der Belegschaft dar. Treten jedoch weniger Arbeitsunfälle auf, so werden die Beiträge zur Unfallversicherung gesenkt, damit reduzieren sich die Kosten für die Arbeitgeber und Arbeitsschutzmaßnahmen verlieren unter Umständen ihren Umverteilungscharakter.“[72]
(3) Nach Steuerungsprinzipien können Policies unterschieden werden, deren Ziele erreicht werden sollen:
(a) durch Gebot bzw. Verbot,
(b) durch Anreize, wie an bestimmte Bedingungen geknüpfte Zuschüsse – „ Anreiz als Steuerungsprinzip basiert auf einer indirekten Verhaltenssteuerung, indem Belohnungen meist materieller Art in Aussicht gestellt werden, um ein bestimmtes Verhalten auszulösen“[73] – ,
(c) durch nicht bedingte Angebote von Leistungen – „ Angebot als Steuerungsprinzip stellt Leistungen zum Nutzen von Zielgruppen zur Verfügung, ohne daß damit eine spezifische Verhaltensweise gefördert werden soll“[74] –,
(d) durch argumentativ-aufklärende und/oder emotional-appellative Überzeugung,
(e) durch Vorbild.
Zum Typ (e) wären gerade in jüngerer Zeit auch ‚ benchmarking ’-Prozesse zu zählen, also öffentliche Evaluation der Ergebnisse und Herausstellung der besonderen Erfolge und Leistungen, z.B. bei vorbildhaftem Abbau der Arbeitslosigkeit durch besondere Maßnahmen in einem EU-Mitgliedstaat, die in der Folge, z.B. in Veröffentlichungen der Kommission, den anderen Staaten zur ‚Nachahmung’ empfohlen werden.
(4) Auf der inhaltlichen Ebene lassen sich Policies nach ihrer „ Beschaffenheit “[75] unterscheiden: Sollen die vom ‚Gestalter’ angestrebten Ziele durch materielle Leistungen seinerseits (Bereitstellung von Geld, Infrastrukturen oder Sachmitteln), immaterielle Dienstleistungen oder „verhaltensnormierende Policy ohne Leistungscharakter“[76], also durch Regulierungen, Empfehlungen etc. erreicht werden? Gerade sozial regulative Politik spielt im Bereich der EU-Sozialpolitik eine wichtige Rolle:
„ Protektiv-regulative Policy konzentriert sich auf die Regulierung der negativen Konsequenzen wirtschaftlicher Produktionstätigkeit und versucht, bestimmte Personengruppen davor zu schützen (z.B. Arbeitsschutz, Umweltschutz).“[77]
Entsprechend der hier unter den Punkten (2) bis (4) dargestellten Kriterien werden die als Beispiele ausgewählten einzelnen EU- Policies -Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz; Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer; Beschäftigungspolitik- bewertet und in der Übersicht in Tabelle 3-5 zusammengestellt.
2.2.1.2. Der Policy -Zyklus
Von der Wahrnehmung eines Sachverhalts, auf den mittels einer Policy reagiert wird, bis zum Abschluß dieser Policy unterscheidet Windhoff-Hériter fünf Phasen[78], von denen die letzte der Ausgangspunkt einer Fortsetzung oder Modifizierung der Policy sein kann. Diese Phasen sind im einzelnen:
(1) Problemdefinition,
(2) Agenda-Gestaltung,
(3) Politikformulierung,
(4) Politikimplementation und
(5) Termination und / oder Reaktion und Verarbeitung.
– Phase 1: Problemdefinition –
„[S]ie läßt sich keinen institutionellen Strukturen zuordnen, die für ‚Problemformulierung’ zuständig sind. Vielmehr beteiligen sich beliebige gesellschaftliche Gruppen, Individuen und Institutionen an diesem Prozeß, der sich auf subtile, fließende, informelle und schwer objektivierbare Weise im öffentlichen Bewußtsein vollzieht, ohne daß klar gesagt werden kann, wer daran in welcher Rolle mitwirkt.“[79]
Für das erfolgreiche öffentliche ‚Bewußtmachen’ eines Problems ist allgemein zum einen natürlich die jeweilige Durchsetzungsfähigkeit der Gruppe, die es als solches erkennt, entscheidend, zum anderen, inwiefern dieses Problem vor dem Hintergrund subjektiver Wertvorstellungen tatsächlich auch von einem größeren Teil der Gesellschaft als solches verstanden wird.[80] Allerdings ist hierzu in bezug auf die EU festzustellen, daß es (zumindest noch) keine annähernd einheitliche europäische Öffentlichkeit gibt, in der die gleichen Sachverhalte als problematisch und nach einer Lösung verlangend anerkannt würden. Vielmehr wird in der politischen Öffentlichkeit eines Staates oft als Problem artikuliert, was in einem anderen Staat gar nicht existiert oder nicht als problematisch empfunden wird, z.B. im Bereich ergonomischer Arbeitsschutzbestimmungen.
Ferner kommt hinzu, daß ein Problem nicht nur erkannt und einer politisch-administrativen Bewältigung zugewiesen werden muß[81], damit es zum ‚EU- Policy -Problem’ wird, sondern vielmehr muß die EU-Ebene ja auch als geeignete Adressatin erscheinen.
– Phase 2: Agenda-Gestaltung –
In dieser Phase wird aus der Vielzahl als solcher vorgebrachter Policy -Probleme die deutlich geringere Zahl ausgewählt, die tatsächlich von den politischen Entscheidungsinstanzen behandelt werden; es handelt sich hierbei also um die – sowohl machtpolitisch als auch im Hinblick auf den Inhalt hohe – Hürde, die ein Anliegen nehmen muß, um beispielsweise aus dem Forderungskatalog einer Interessenvereinigung auf die Tagesordnung eines Gesetzgebungsorgans zu gelangen.[82] Dabei sind in der EU einige Besonderheiten festzustellen:
„Die [...] Anforderungen in der Phase der Agenda-Gestaltung sind gerade in der Union besonders hoch. Dort ist es nicht nur notwendig, zumindest die Mehrheit der Regierungen der Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, daß die entsprechende Materie einer Bearbeitung bedarf, sondern auch, daß diese Bearbeitung auf der supranationalen Ebene erfolgen muß. Das bereitet zwar in Politikfeldern mit weitgehender und akzeptierter Unionskompetenz kaum Schwierigkeiten, kann aber dann zur nahezu unüberwindlichen Hürde werden, wenn es darum geht, neue Bereiche in die Zusammenarbeit einzubeziehen.“[83]
Neben dieser Hürde, die auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht, besteht noch eine weitere besondere Schwierigkeit aufgrund des institutionellen Systems der EU. Anders als beispielsweise im politischen System Deutschlands, wo es bekanntlich mehrere ‚Zugänge’ zum Gesetzgebungsverfahren gibt, muß nämlich jedes vorgebrachte Problem von der Kommission für ‚agendawürdig’ erachtet werden. An ihrem alleinigen Initiativrecht für alle Maßnahmen im Rahmen des EG-Vertrags führt kein Weg vorbei; was bei ihr im „Papierkorb“[84] landet, kann als definitiv aus dem Policy -Prozeß ausgeschieden gelten. Selbst Aufforderungen des Rates oder des Europäischen Parlaments an die Kommission, einen formellen Vorschlag zu einer gewünschten EU-Maßnahme zu unterbreiten, sind nicht verbindlich.
– Phase 3: Politikformulierung –
„In der Politikformulierung ziehen die politischen Entscheider all die Fäden, die vorbereitend geknüpft und gespannt worden waren, zusammen. Eine Policy wird beschlossen. Informationen werden gesammelt, verarbeitet und zu Programmvorschlägen verdichtet, die sodann einem politischen Organ zur Entscheidung vorgelegt werden. Aus Konflikt- und Einigungsprozessen geht schließlich eine Mehrheitsentscheidung hervor, die dem Programm einen rechtlich-verbindlichen Charakter und Legitimität verleiht.“[85]
Das Bild, das diesem Zitat zugrunde liegt, ist das eines verhältnismäßig einfachen politischen Systems, in dem sich die Politikformulierung im wesentlichen zwischen einer Regierungsbürokratie und den Ausschüssen eines Parlaments vollzieht und das Parlament in einer Plenarsitzung abschließend entscheidet. Deutlich komplexer stellt sich natürlich das oben beschriebene, ‚variable’ Mehrebenensystem der EU dar, in dem eine sehr viel größere Zahl von Akteuren an der Politikformulierung beteiligt sind und zudem Entscheidungsprozesse durch besondere Erfordernisse wie Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheiten erschwert werden.
Von daher sind in der EU auch bei der Politikformulierung informelle Aushandlungs- und ‚Abstimmungs’-Prozesse zwischen beteiligten Akteuren, darunter auch die Verknüpfung von sachlich nicht zusammengehörenden Entscheidungen zu ‚Paketlösungen’, von größerer Bedeutung. Dazu kommen Probleme, die durch vermeintlich nicht-rationale Entscheidungsabläufe in stark gegliederten Entscheidungssystemen entstehen, z.B. durch Konkurrenz und unvollständigen Informationsaustausch innerhalb einer in Ressorts gegliederten Bürokratie oder durch die Gliederung in mehrere Ebenen, die um Kompetenzen und ggf. Ressourcen konkurrieren. Gerade im Hinblick auf die Politikverflechtung zwischen mehreren Ebenen muß daher berücksichtigt werden, daß diese Gefahr läuft, vom Steuerungskonzept – Konzertierung, funktionale Ebenentrennung z.B. bei den Zuständigkeiten für Gesetzgebung und Ausführung, etc. – zum Steuerungsproblem – langsame Entscheidungsprozesse, Blockadesituationen – zu werden.[86]
Die Implementierung (siehe Phase 4) der EU-Sozialpolitik ist zwar nicht Gegenstand dieser Arbeit; auf einen Punkt soll aber am Rande hingewiesen werden: Dabei handelt es sich um die Rolle, die bereits in der Phase der Politikformulierung eventuelle Vorgaben für die Umsetzung spielen. Entscheidend ist hier die Frage, ob z.B. bereits in Gesetzestexten sehr detaillierte Einzelvorschriften gemacht werden oder ob nur allgemeine Rahmenbedingungen gesetzt werden, die auszufüllen den jeweiligen Bürokratien oder sogar privaten Akteuren -in Mehrebenensystemen außerdem ganz wichtig: niedrigeren Ebenen- überlassen wird:
„Einige rechtliche Begriffe eignen sich vorzüglich dafür, Kosten- und Nutzenentscheidungen der Politikformulierung in der Schwebe zu halten. So eröffnen Bestimmungen wie ‚nach dem gegenwärtigen Stand der Technik’ im Umweltschutz oder ‚soweit wirtschaftlich vertretbar’ im Arbeitsschutz den durchführenden Bürokratien weite Handlungsspielräume.“[87]
Je größer die für die Durchführung überlassenen Entscheidungsspielräume sind, desto geringer wird das politische Konfliktpotential einer Policy bei ihrer Formulierung sein, da sich mehr Akteure mit der Grundausrichtung identifizieren können und sich auf ihren Einfluß bei der Umsetzung verlassen werden. Durch derartige Unbestimmtheiten wird jedoch ein weiteres Feld der Auseinandersetzung eröffnet: Je größer der Ermessensspielraum bei der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben, desto größer ist auch der Interpretationsspielraum und die Möglichkeit eigenständiger Weiterentwicklung von Policies für die Gerichte.[88]
Eine kohärente und detaillierte Politikformulierung wird in der EU zusätzlich durch die unterschiedlichen Lebensverhältnisse erschwert, deren Vielfalt wohl größer ist als in jedem modernen Nationalstaat.[89] Auch dies erhöht die Neigung zu nur umrißartiger Politikformulierung, z.B. in der Form von Rahmengesetzgebung mit breiten Ausgestaltungsspielräumen. In diesem Zusammenhang sind auch die gerade im Bereich von EU-Programmen häufig praktizierten Pilotvorhaben sowie ‚weiche’ Vorgaben mit anschließender Evaluation (benchmarking) zu sehen: Hier wird in einem kleineren regionalen Rahmen und bei geringem finanziellem Aufwand gleichsam ‚experimentelle Politik’ praktiziert, wobei die ‚Experimente’ nicht von oben oktroyiert sondern vor Ort geplant werden. Auch dies ist ein Mittel zur Konfliktvermeidung bei der Politikformulierung.[90]
– Phase 4: Politikimplementation –
Die Politikimplementation ist gerade bei den hier bearbeiteten Policies im Wesentlichen die alleinige Angelegenheit der Mitgliedstaaten – sei es durch nationale Gesetzgebung, durch Kollektivverträge der nationalen Sozialpartner, durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Rahmen nationaler Aktionspläne o.ä. Die Mitgliedstaaten sollen dabei die ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien, beschäftigungspolitischen Leitlinien, Zielvorgaben etc. ergreifen, sind aber frei in der Auswahl der Mittel. Dadurch entstehen besondere Umsetzungs- und Kontrollprobleme, die in dieser Arbeit jedoch nicht erörtert werden können.
– Phase 5: Termination und/oder Policy-Reaktion und politische Verarbeitung –
Hiermit ist der Abschluß einer politischen Maßnahme gemeint oder aber die Evaluation ihrer Ergebnisse nach Ablauf eines gewissen Zeitraums. Dabei kann das Ende des Politikzyklus gegebenenfalls dem Beginn eines neuen entsprechen, wenn der im vorhergehenden Zyklus geschaffenen Zustand immer noch, bzw. wiederum als problematisch empfunden wird. Dieser Zustand stellt dann die neuen Ausgangsbedingungen dar.
In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich im Wesentlichen auf die Phase der Politikformulierung beschränken, wobei jedoch zum einen Aspekte der Problemdefinition durch Verbände, die später auch maßgeblich an der Politikformulierung und Implementation beteiligt sind, und zum anderen die EU-spezifische Form der ausschließlichen Agenda-Gestaltung durch die Kommission nicht ausgeblendet werden können. Auch muß auf die Tatsache hingewiesen werden, daß die den ausgewählten Policies zugrundeliegende Problemdefinition ja ihrerseits auf zurückliegende Politikzyklen verweisen kann.
Das dargestellte Konzept des Policy- Zyklus legt auf den ersten Blick eine Problembehandlung nahe, die von der Problemdefinition bis zur Politikformulierung zunächst ‚von unten nach oben’ abliefe und dann, nach einer autoritativen Entscheidung einer zentralen Planungsinstanz, wieder über die Umsetzung bis zur Wahrnehmung der Schwierigkeiten vor Ort ‚von oben nach unten’. Die Verweise auf Spezifika im EU-System haben jedoch bereits deutlich gemacht, daß der Zyklus einer EU- Policy keineswegs allein als eine Abfolge rationaler Entscheidungen in einer hierarchischen Struktur verstanden werden kann, da von einer derartigen, fast ‚allmächtigen’ Zentrale keine Rede sein kann:
„Der Begriff des Politiknetzwerks und die damit verbundenen steuerungstheoretischen Implikationen sind im Hinblick auf die Neuorientierung der Politikfeldanalyse deshalb besonders wichtig, weil gerade dieser Begriff dem traditionellen Bild einer klaren Trennung von Staaten und Gesellschaft und der Vorstellung des Staates als dem Zentrum oder der Spitze der Gesellschaft klar widerspricht. Nicht mehr eine zentrale Autorität erzeugt Politik, sondern Politik entsteht in einem komplexen Prozeß, an dem eine Vielzahl öffentlicher und privater Akteure beteiligt ist. Kein politisch-administratives System paßt so gut auf diese Vorstellung wie das komplexe System der Europäischen Union, das offensichtlich durch keine der traditionellen politikwissenschaftlichen Kategorien mehr erfaßt werden kann.“[91]
2.2.2. Netzwerkanalyse
2.2.2.1. Politiknetzwerke in der EU
2.2.2.1.1. Zum Konzept des Politiknetzwerks
Der Begriff des Netzwerks in der sozialwissenschaftlichen Analyse entstammt ursprünglich der Organisationssoziologie, die sich seit den 70er Jahren vermehrt den ‚interorganisatorischen Beziehungen’ zugewandt hat, ausgehend von der Erkenntnis,
„daß das Umfeld von Organisationen zum guten Teil aus anderen Organisationen besteht, so daß diese und nicht etwa ein amorphes Publikum für sie die relevantesten Interaktionspartner sind.“[92]
In einer etwas verengten Verwendung des Netzwerkbegriffs umfassen Politiknetzwerke (oder Policy -Netzwerke) diejenigen öffentlichen und privaten korporativen Akteure, die in einem gegebenen politischen Gesamtsystem an der Politikentwicklung und/oder Implementation in einem bestimmten Politikbereich beteiligt sind. Wie der Begriff ‚Netzwerk’ bereits nahelegt, sind ferner die Beziehungen der beteiligten Akteure untereinander von größter Bedeutung, so für die in diesem Bereich erzielten politischen Ergebnisse (Output). In Zusammensetzung und Art der Interaktion variieren Politiknetzwerke zwischen politischen Systemen, Politikbereichen und im Zeitablauf.[93] Unter den Bedingungen einer „zunehmenden Fragmentierung von Macht“[94] durch die Verteilung von Kompetenzen und Ressourcen – auch und gerade innerhalb ein und desselben Policy -Bereichs – auf eine wachsende Zahl von Entscheidungsebenen, öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren erscheint jedoch die Untersuchung von Netzwerken ungleich interessanter als beispielsweise in einem Einheitsstaat mit einem ‚souveränen’ Einkammerparlament, einem Zweiparteiensystem und schwachen Interessenverbänden:
„Analytisch interessant sind die Policy-Netze nur, wenn sie als Faktoren politischer Konflikt- und Koalitionsprozesse auftauchen. Und dies wird in der politischen Wirklichkeit westlicher Demokratien immer häufiger beobachtet. Intern – innerhalb eines Policy-Netzes – rivalisieren die Akteure durchaus miteinander, nach außen solidarisieren sie sich jedoch.“[95]
Somit besteht die Möglichkeit einer gewissen Autonomie des durch ein Netzwerk gebildeten Subsystems im gesamten politischen System; das ‚Paradebeispiel’ ist hier wohl die Autonomie von sozialpartnerschaftlich organisierten Netzwerken (Tarifautonomie). Dies gilt auch für Netzwerke, die öffentliche und private Akteure miteinander verbinden. Davon profitieren durchaus nicht nur die privaten Akteure, z.B. Wirtschaftsverbände, die durch die Einbindung in Netzwerke am politischen Prozeß beteiligt werden. Vielmehr ist eine derartige Kooperation in der Regel zum Nutzen aller Beteiligten.[96] (Warum sollten sie sie sonst auch eingehen?) Im Gegensatz zur Hierarchie beruht sie nicht auf Unterwerfung, im Gegensatz zu marktlichen Lösungen können durch die netzwerkinterne Koordination externe Effekte internalisiert werden.[97] Öffentliche Akteure ziehen aus einem Netzwerk mit privaten Akteuren insbesondere den Nutzen einer besseren Versorgung mit Informationen ‚von unten’ sowie bessere Akzeptanzbedingungen bei den Adressaten ihrer Entscheidungen (daher die häufige Beschreibung korporatistischer Netzwerke als ‚Transformationsinstrument’ zwischen der politischen Entscheidungsebene und der ‚Basis’).[98] Wegen der größeren Distanz zwischen Entscheidungszentrum und Adressaten ist anzunehmen, daß die supranationalen EU-Institutionen in besonderem Ausmaß an der Bildung von Netzwerken interessiert bzw. sogar schlichtweg darauf angewiesen sind.
Aufgrund der spezifischen Zusammensetzung von Politiknetzwerken erscheinen Verhandlung und Konsenssuche als dominante Handlungslogik der Netzwerkakteure.[99] Allein mit Tauschprozessen und strategischen Interaktionen der Akteure im Sinne ihrer eigenen Interessen läßt sich jedoch der Output von Netzwerken mit stabilen, über einen längeren Zeitraum gewachsenen Strukturen nicht mehr erklären; vielmehr kann es fallweise auch dazu kommen, daß in den Verhandlungsprozessen Akteure auch zu Zugeständnissen zugunsten systemoptimaler Entscheidungen bereit sind. Dies gilt um so mehr, wenn sich Akteursübergreifend in einem Netzwerk als Verhaltensnorm eine ‚technokratische Etikette’ herausbildet, zu der unter anderem eine grundsätzliche Kompromißbereitschaft und die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung zugunsten effizienter Entscheidungsfindung gehören.[100] Davon wird insbesondere bei der Untersuchung der supranationalen Akteure noch die Rede sein; denn eine derartige ‚Euro-Etikette’ ist insbesondere in der Kommissionsbürokratie und im Europäischen Parlament weit verbreitet.[101]
In entgegengesetzter Richtung wirkt jedoch, daß gerade die sozialregulative Politik grundlegende normative Vorstellungen berührt, wie eine Gesellschaft überhaupt organisiert sein soll. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, daß innerhalb eines sozialpolitischen Netzwerks die Entscheidungsprozesse immer nur nach strikten Rationalitätskriterien ablaufen.[102] Dies gilt insbesondere für redistributive Politik, in der in einem Netzwerk durchaus auch scharfe ideologische Gegensätze aufbrechen können. Dagegen spricht Windhoff-Héritier vom „freundlich gleichgültigen Verhalten der Akteure in der befriedeten distributiven Arena [...], in der der individuelle Nutzen einzelner Gruppen unter Umständen durch wechselseitige politische Unterstützung gesichert wird.“[103] Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen dem Politikbereich und dem Verhalten der Akteure sowie der Struktur des Politiknetzwerks, die zumindest teilweise dadurch geprägt wird, welche Personen und Personengruppen von einer Policy betroffen sind, für welche Gruppen davon Nutzen und für welche Kosten zu erwarten sind .
2.2.2.1.2. Netzwerke im Mehrebenensystem
Die größere Zahl beteiligter Akteure und die oft komplexen Interaktionsprozesse machen die Netzwerkanalyse für die Beschäftigung mit Mehrebenensystemen zu einer besonders interessanten Methode. Hier stellen sich Netzwerke besonders komplex dar, weil sie nicht nur ‚horizontal’ unterschiedliche Akteure wie z.B. ‚Staat’ (Regierung, Parlament, Bürokratie) und ‚Verbände’ umfassen, sondern zudem auf der ‚vertikalen’ Achse, ggf. in unterschiedlicher Zusammensetzung, deren jeweilige Ebenen. Dies gilt in besonderer Weise für die EU:
„Die strukturprägenden informellen Verbindungen zwischen den supranationalen und den nationalen Ebenen entfalten ihre politische Wirksamkeit [...] quer zu den nach wie vor noch weitgehend hierarchischen und national homogenen Behördenstrukturen der Staatsadministrationen. Dabei konstituieren die zusammenwirkenden Netze der europäischen Interessenverbände, Parteien und Bürokratien ein in seiner komplexen ‚Transversalität’ neuartiges und bisher kaum erforschtes, institutionelles Arrangement von kollektiver Interessenformierung, funktionaler Repräsentation, paktierter Konfliktinstitutionalisierung und dezisionistischer Verteilungsgerechtigkeit.“[104]
In der EU existiert aber nicht für jeden Politikbereich ein Politiknetzwerk, sondern vielmehr koexistieren in vielen Bereichen ein EU-Netzwerk und die nach wie vor bestehenden nationalen Politiknetzwerke. Dabei verfügen mittlerweile sowohl die supranationale als auch die nationale Ebene – in einigen Mitgliedstaaten zudem die regionale Ebene – jeweils über eine eigenständige Legitimitätsbasis, so daß zumindest in manchen Politikbereichen auch zwischen den Ebenen keine klare Hierarchie feststellbar ist. Dabei gilt aber m.E. nicht die Einschätzung von Richardson, daß die EU sich 15 nationalen Netzwerken gegenübergestellt sehe, „each reflecting national power structures [...] and national compromises in defining the 'national interest'“[105], sondern diese Netzwerke durchdringen sich vielmehr gegenseitig:
Nationale Akteure werden durch eigenes Lobbying auf EU-Ebene aktiv, auch an den nationalen politischen Vertretern vorbei, und selbst einzelnen Bürgerinnen und Bürgern steht unter bestimmten Bedingungen der Weg zum Europäischen Gerichtshof offen, der gerade deshalb in der Sozialpolitik ein bedeutender Akteur geworden ist. Gerade korporative Akteure mit ausreichenden Lobbying-Möglichkeiten können die Wahl der jeweils erfolgversprechendsten Ebene für ihre Einflußnahme bereits in ihr strategisches Kalkül mit einbeziehen. Selbst im Falle einer Niederlage auf einer Ebene, z.B. in der nationalen politischen Arena, kann einem Akteur immer noch der Weg in die EU-Arena offenstehen, um dort, gegebenenfalls in einer Koalition mit Akteuren der EU-Ebene oder aus anderen Mitgliedstaaten, das selbe Ziel zu verfolgen.[106] Die Erkenntnis neuer Handlungsmöglichkeiten auf EU-Ebene durch die Akteure beeinflußt im Übrigen durchaus auch deren grundsätzliche Einstellung zur europäischen Integration, wie weiter unten noch an der veränderten Haltung der britischen Gewerkschaften und der Labour Party zur EG seit Mitte der 80er Jahre gezeigt werden wird.
Umgekehrt dringt auch die EU-Ebene in bestehende nationale Politiknetzwerke nicht nur durch ‚fertige’ Politik ein, sondern auch durch die Eröffnung von neuen, allerdings inhaltlich ‚gerichteten’ Gestaltungsmöglichkeiten. So ist beispielsweise den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben, den Sozialpartnern auf Antrag die Durchführung sozialpolitischer Richtlinien zu übertragen.[107] Auch die Auslegung vieler Förderprogramme (z.B. ESF) als sachbezogene Angebote, die nur bei Kofinanzierung der Förderprojekte durch die Mitgliedstaaten bestehen, stellt eine solche ‚gerichtete’ Gestaltungsmöglichkeit dar.[108]
2.2.2.1.3. Netzwerke und sektorielle Integration
Da die einzelnen Gemeinschaftspolitiken zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit unterschiedlichen Zielen und unterschiedlicher ‚Integrationstiefe’, also eher ad hoc als im Rahmen eines integrationspolitischen ‚Masterplans’, entwickelt wurden, hat sich im Lauf der Zeit „eher eine größere Heterogenität von policy regimes als ein übergreifendes Modell“[109] herausgebildet. Daher kann von einem europäischen Politiknetzwerk keine Rede sein - nicht einmal von einem ‚typischen’ Netzwerk, das sich zwar je nach Politikbereich aus verschiedenen Akteuren zusammensetzen, aber immer gleich funktionieren würde.
Vielmehr sind die sektorielle Organisation und die zumindest teilweise sehr ausgeprägte Abgrenzung voneinander herausragende Kennzeichen für die Politiknetzwerke in der EU:
„[D]as Zusammenspiel der Ebenen im EU-System [...] erfolgt erstens primär über und innerhalb von einzelnen Politikfeldern. Allgemeine Aussagen dazu - dies die zweite Erkenntnis - sind aufgrund der großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Bereichen gerade in der EU, man denke nur an den unterschiedlichen Vergemeinschaftungsgrad, nicht möglich.“[110]
Folgt man den Ausführungen von Wallace, so erscheint die Herausbildung einer Vielzahl von sektorspezifischen Policy-Netzwerken die geradezu logische Konsequenz der Art, wie im EU-System versucht wird, potentiell große politische Konflikte durch ‚Depolitisierung’ und ‚Technokratisierung’ zu entschärfen:
„The structure of Community policy-making was designed from the outset to disaggregate issues wherever possible, to disguise broader political issues, to push decisions down from ministerial confrontation to official engrenage within the hierarchy of committees which formulated proposals for ministers to approve and the parallel hierarchy of committees which cooperated in their implementation [...]. The rhetoric of technocracy and rational administration reinforced this tendency to de-politicize issues.“[111]
Auch deshalb, weil die einzelnen Netzwerke stark segmentiert sind, da sie sich jeweils im Zusammenhang mit der sektoriellen Integration eines spezifischen Policy- Bereiches herausgebildet haben, erscheint, so Héritier, „die Europäische Gemeinschaft als geradezu ideales Anwendungsgebiet der Policy-Netzwerkanalyse [...].“[112]
2.2.2.2. Klassifizierung der untersuchten Akteure
Anhand der vorangehenden Ausführungen dürfte klargestellt sein, daß mit einer Untersuchung allein der vertraglichen Bestimmungen ein Politiknetzwerk in der EU sowie die an ihm beteiligten politischen Akteure und ihre Handlungsmotivationen keinesfalls hinreichend analysiert werden können. Das politische System der EU besteht eben nicht nur aus politischen und administrativen Akteuren, die in ihrer eigenen Sphäre weitgehend unabhängig entscheiden – selbst dann nicht, wenn man das Gesamtsystem aus supranationalen Akteuren und den Vertretern der Mitgliedstaaten betrachtet. Ebenso für die Regierungsvertreter wie für die europäischen Institutionen stellt sich vielmehr die Frage, wie autonom sie in ihrem Handeln eigentlich jeweils sind. Die notwendigen Ausgleichs- und Aushandlungsprozesse der politisch-administrativen Akteure untereinander wie zwischen ihnen und den ‚privaten’ Akteuren finden sich in den Verträgen nur ansatzweise vorgegeben, gar nicht dagegen das dichte Netz aus informellen Beziehungen zwischen verschiedenartigen Akteuren und die vielfältigen Ansatzpunkte, die sich dadurch für nichtstaatliche Akteure ergeben, europäische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen.[113]
Selbst für den ‚Kernbereich’ intergouvernementaler Verhandlungen, nämlich für den Abschluß bzw. die Änderung der Verträge, gelte, so Schmitter, daß im Rahmen der EU die Vertreter der Mitgliedstaaten und zunehmend selbst bei der Verfassungspolitik die durch die Verträge geschaffenen Institutionen keineswegs die einzigen Akteure sind, die maßgeblichen Einfluß auf einzelne Policies nehmen oder dies zumindest versuchen. Um so mehr natürlich gilt dies jedoch für ‚nachgeordnete’ Policy -Entscheidungen:
„The fact that they [die Staaten] do still possess nominal sovereignty and, therefore, must be the formal co-signatories of the treaties that typically constitute and punctuate the integration process is potentially illusory in that:
(a) their commitment to treaty terms rests on an imagined predominance of national interests that most likely reflects only a temporary equilibrium among the conflicting interests of classes, sectors, professions, parties, social movements, ethnic groups, etc.;
(b) their presumed capacity for unitary and authoritative action masks the possibility that important subnational groups can act independently to either reinforce, undermine or circumvent the policies of national states.“[114]
Dabei werden sich Zahl und Art der beteiligten Akteure im Laufe des Integrationsprozesses verändern, und mit neuen Akteuren treten auch neue Handlungsmotivationen in die politische Arena ein.
„ Actors in the integration process are plural and diverse in nature and cannot be confined to existing national states or their subnational interest groups. They include supranational persons, secretariats and associations whose careers and resources become increasingly dependent upon the further expansion of integrative tasks. Even where their nomination is formally controlled or monitored by national actors, they may:
(a) develop an increasingly independent ésprit de corps and interject ideas and programmes into the process that cannot be reduced to the preferences of national or subnational groups;
(b) acquire, often as the unintended by-product of problem-solving in discrete issue arenas, increased resources and even authoritative capacities to act in ways that countermand or circumvent the intentions of national authorities.“[115]
Die Untersuchung der Akteure, die an der Entwicklung der EU-Politik beteiligt sind, sowie ihrer Interaktion macht eine genauere Klassifizierung notwendig. Dafür bieten sich verschiedene Kategorien an:
(1) Nach ihrer zahlenmäßigen Stärke lassen sich individuelle Akteure und kollektive Akteure unterscheiden. Individuelle Akteure sind in diesem Zusammenhang jedoch kaum anzutreffen; allenfalls Staats- und Regierungschefs sowie vielleicht noch der Kommissionspräsident wären hierunter zu zählen. Auch diese Personen sind jedoch jeweils in kollektive Akteure eingebunden.[116]
(2) Nach ihrer Stellung im politischen System lassen sich zunächst öffentliche, bzw. im weitesten Sinne ‚staatliche’, und private Akteure unterscheiden. Die öffentlichen gliedern sich weiter auf in politische und administrative Akteure, wobei erstere ihre Position durch Wahl erhalten, letztere durch Ernennung (aufgrund von Qualifikation). Die privaten Akteure werden weiter aufgrund ihrer Handlungsmotivation in wirtschaftliche und soziale Akteure unterteilt.
(3) In ihrer Handlungsmotivation unterscheiden sich Akteure in solche, die zumindest tendentiell eher materielle Interessen verfolgen (z.B. Gewinn- bzw. Einkommensmaximierung) oder immaterielle Ziele anstreben, darunter ebenfalls Interessen (z.B. Kompetenzausweitung), aber auch normative Ziele wie die Umsetzung einer handlungsleitenden Ideologie oder eines anderen Wertes (z.B. Bewahrung der natürlichen Umwelt). Dies alles gilt insbesondere auch für entsprechende Verbände: Ein Industrie- oder Arbeitgeberverband versucht, im gesamtwirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Zusammenhang die Gewinne der Unternehmen zu maximieren; eine Gewerkschaft versucht das gleiche für die Einkommen ihrer Mitglieder. Natürlich sind daneben auch normative Gesellschaftsvorstellungen möglicherweise handlungsleitend, aber gerade für die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände können mit Sicherheit materielle Interessen als für die Handlungsmotivation dominant angesehen werden.
(4) Je nach ihrem Wirkungskreis können Akteure als supranationale (z.B. EU-Kommission), transnationale (z.B. der Europäische Gewerkschaftsbund), nationale (z.B. der Deutsche Bundestag) oder subnationale Akteure (z.B. Regierungen der Bundesländer) bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen supranationalen und transnationalen Akteuren erscheint mir sehr wichtig, auch wenn sie in der Forschungsliteratur nicht überall gemacht wird[117], da sich der Wirkungskreis supranationaler Akteure eben nicht nur über mehrere Staaten erstreckt, sondern diese mit ihren Gesellschaften ganz umfaßt, während der Wirkungskreis transnationaler Akteure sich lediglich über bestimmte Segmente der Gesellschaften in mehreren Staaten erstreckt, z.B. eine bestimmte politische „Richtung“, einen Wirtschaftssektor, eine Klasse etc.
Anhand dieser Punkte lassen sich die Akteure in EU-Politiknetzwerken folgendermaßen klassifizieren:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2-1: Klassifizierung der Akteure in EU-Politiknetzwerken
Es ist zu erwarten, daß die verschiedenen Eigenschaften der Akteure erheblichen Einfluß zum einen auf ihre spezifischen Handlungsmotivationen haben und zum anderen auch auf ihre jeweilige Durchsetzungsfähigkeit. Beides wird in den folgenden Abschnitten noch eingehender behandelt.
Über die bereits genannten Aspekte hinaus ist auch eine Unterscheidung der Akteure in Modernisierungsgewinner und -verlierer möglich, wobei Kowalsky nahelegt, daß dies in vielen Fällen gleichzusetzen ist mit Integrationsbefürwortern und -gegnern. Entsprechend versucht er, als „treibende Kraft“[118] sowohl der Modernisierung als auch ihrer Flankierung durch die soziale Integration „ein Bündnis von Modernisierungsgewinnern (‚Gewinnerkoalitionen’) herauszuarbeiten, in dem die Protagonisten der Europäisierung, das moderne Kapital, der Finanzsektor, exportorientierte, dynamische Zukunftsindustrien, aber auch subventionierte Branchen (z.B. der Agrarsektor) sowie Teile der politischen Klasse und des Bildungsbürgertums den Ton angeben, [...], wohingegen sich die Modernisierungsverlierer im Lager der Europagegner sammeln [...].“[119]
Allerdings kann möglicherweise gerade die sozialpolitische Integration bewirken, daß potentielle oder tatsächliche Modernisierungsverlierer mit dem Gesamtprozeß der Integration ‚versöhnt’ werden. Die Bedeutung von Sozialpolitik für die Abfederung der Integrationsfolgen zum Schutz der Modernisierungsverlierer und damit als Mittel gegen ihre gesellschaftliche und politische Ausgrenzung aus dem Integrationsprozeß macht Kowalsky am Beispiel des Freihandels deutlich:
„Bspw. können Zölle entfallen, weil der Wohlfahrtsstaat Einkommen und sozialen Status sichert und weil die sozialen Gruppen, die unter den Veränderungen leiden, diesen Wandel als legitim empfinden oder zumindest hinnehmen. Diese sozialen Gruppen müssen darauf vertrauen können, daß die Gesellschaft die ‚Verlierer’ nicht im Stich läßt, daß Freihandel und Internationalisierung über kurz oder lang auch für sie vorteilhaft sind. Eine Politik der bloßen ökonomischen Modernisierung, des blinden Sozialabbaus und der Billiglohnkonkurrenz wirkt selbstzerstörerisch, weil sie die sozialen Fundamente der offenen Weltwirtschaft zerstört.“[120]
Dies gilt natürlich auch für den geographisch begrenzten Rahmen der EU.
Solange jedoch eine soziale Absicherung in Binnenmarkt und Währungsunion nicht auch für die breite Öffentlichkeit sichtbar und erfahrbar war bzw. ist, ist es umgekehrt nicht verwunderlich, auf der Seite der Gegner der europäischen Integration gerade die Verlierer von Freihandel, internationaler Konkurrenz, Öffnung der Faktormärkte etc. zu finden – oder diejenigen, die sich als solche empfinden.
Entsprechend stellt beispielsweise Ziebura im Falle Frankreichs fest, Kritik an der als zu ‚wirtschaftslastig’ empfundenen Integration komme vor allem von der Seite der „Modernisierungsverlierer, [der] Unterprivilegierten, die fürchten, daß das Maastricht-Europa ihre Situation keineswegs verbessert, wie es ihnen versprochen wird“.[121] Dabei stehe vor allem der tatsächliche oder vermeintliche Verlust von traditionellen, durch die Nationalstaaten garantierten Besitzstände im Vordergrund, die durch die europäischen Institutionen nicht gewährleistet oder sogar gezielt abgebaut würden.
Und ebenso finden sich dann unter den EU-kritischen politischen Akteuren eben die, die die Modernisierungsverlierer als ihre Stammklientel betrachten: Nur so läßt sich die euroskeptische ‚Koalition’ aus linken Parteien (wie PDS und PCF), ‚traditionalistischen’ Teilen der Sozialdemokratie, konservativen Vertretern des Kleinbürgertums sowie rechtsgerichteten, von sozialem Protest getragenen Gruppierungen erklären.
2.2.2.3. Auswahl der untersuchten Akteure
In der vorliegenden Arbeit soll die Untersuchung in Kapitel 4 auf die folgenden Akteure begrenzt werden:
- die EU-Kommission und das Europäische Parlament als supranationale Akteure (im Fall des Europäischen Parlaments wird insofern von einem korporativen Akteur ausgegangen, als hier in integrationspolitischen Grundsatzentscheidungen in vielen Fällen eine Art „Große Koalition“ zum Tragen kommt, die sowohl in bezug auf die Staatsangehörigkeit der MdEPs als auch in bezug auf ihre parteipolitische Orientierung ein sehr breites Spektrum umfaßt);
- den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) und die Vereinigung der Europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände (UNICE) als transnationale Akteure sowie gegebenenfalls einzelne ihrer Mitgliedsorganisationen;
- die Regierungen und die wichtigsten Parteien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien.[122]
Eine eigene Untersuchung des Rates als supranationale Institution erübrigt sich meines Erachtens, da das institutionelle Eigeninteresse des Rates als korporativer Akteur gegenüber den im Rat vertretenen mitgliedstaatlichen Interessen (und anderen Handlungsmotivationen der Regierungsakteure) unbedeutend sein dürfte.
Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) für die europäische Integration insgesamt ist zwar bekanntermaßen wichtig:
„[V]ery significant extensions of the scope and, especially, the level of Community authority [...] were going on [...] as a result of the deliberations and decisions of the European Court of Justice. Its assertion of the primacy of Community law - in effect, converting the Treaty of Rome into a proto-constituion for Europe - and its imaginative interpretations of specific (if vague) clauses were crucial for supranationalism.“[123]
In der Entwicklung der in Abschnitt 3.3. genauer untersuchten Einzel- Policies hat der EuGH jedoch keine ausgeprägte Rolle gespielt, allenfalls dadurch, daß sein Grundsatzurteil „Cassis de Dijon“ die Harmonisierung von Arbeitsschutznormen befördert hat. Hierauf wird an der entsprechenden Stelle kurz eingegangen; eine umfassende Darstellung des EuGH in Kapitel 4 dagegen erscheint verzichtbar, da es sich ja nur um einen Nebeneffekt des genannten Urteils handelt.
Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) erscheint mir ebenfalls verzichtbar, auch wenn dieser zu allen sozialpolitischen Maßnahmen der EU angehört werden muß – jedoch: „Die Funktionen des WSA sind begrenzt; entsprechend ist seine Wirkung im gemeinschaftlichen Entscheidungsprozeß gering.“[124]
Insgesamt sind mehrere strukturelle Schwachpunkte des WSA feststellbar, wovon die wichtigsten wohl sind, daß er zum einen durch direktes Lobbying der verschiedenen Verbände bei den EU-Institutionen ‚umgangen’ wird und daß „er häufig erst zu einem Zeitpunkt eingeschaltet [wird], wenn die Entscheidungen praktisch schon gefallen sind.“[125] Auch wenn die Anhörung des WSA vorgeschrieben ist, ist er offensichtlich für die EU-Institutionen nicht (mehr) die ‚erste Adresse’, wenn es darum geht, zu einem sozialpolitischen Vorhaben die Meinung der Sozialpartner einzuholen. Seit dem Sozialabkommen ist dies auch vertraglich festgelegt, und zwar durch die zweifache Anhörung der Sozialpartner bereits in der Phase der Erarbeitung von Kommissionsvorschlägen (Art.3 des Sozialabkommens, jetzt Art. 138 EGV).
Auch in ihren Veröffentlichungen betont die Kommission immer wieder die Bedeutung des Sozialen Dialogs, während sie hingegen den WSA nur mehr am Rande erwähnt.[126]
Auf der Ebene der Mitgliedstaaten, bzw. darunter, werden zum einen die nationalen Parlamente vernachlässigt, zum anderen alle subnationalen territorialen Einheiten wie Länder, Regionen etc. und ihre Institutionen. Dabei erfolgt die Ausgrenzung der Parlamente als eigenständige Akteure in der Überlegung, daß diese zwar ein allgemeines institutionelles Interesse an der Stärkung ihrer Mitsprachemöglichkeiten in europäischen Angelegenheiten haben dürften; in spezifischen Sachgebieten wie der Sozial- oder Beschäftigungspolitik wird aber beispielsweise bei der Ausformulierung von Resolutionen dieses institutionelle Interesse nicht im Vordergrund stehen. Lediglich eine kurze Betrachtung der jeweiligen institutionellen Verbindung zwischen Regierung und Parlament bzw. Parlamentsmehrheit wird insofern relevant sein, als davon abhängen dürfte, inwieweit die Positionen, die die Regierungen auf europäischer Ebene vertreten, von den Positionen der sie tragenden Parteien bzw. Fraktionen determiniert werden.
Die Untersuchung der nationalen Verbände von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erscheint insofern interessant, als sie die Positionen der europäischen Dachverbände bestimmen. Daher gehen sie zumindest teilweise in deren Darstellung mit ein. Es muß aber zumindest am Rande darauf hingewiesen werden, daß ihnen aber gerade das netzwerkartige Entscheidungssystem der EU darüber hinaus auch eigene Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet.
Dies gilt selbst dann, wenn einer dieser Verbände über einen längeren Zeitraum systematisch aus der nationalen Politik ausgegrenzt wird, wie dies insbesondere in den 80er Jahren für die britischen Gewerkschaften galt.
„Vielmehr eröffnet der netzwerkförmige Charakter des europäischen legislativen Prozesses auch den nationalen Akteuren, die sich in ihrem Heimatland in einer Minderheitsposition befinden, die Chance, auf der europäischen Bühne neue Koalitionspartner zu finden.“[127]
Durch diese Mitwirkungsmöglichkeit für Verbände unter Umgehung der nationalen Regierung ergeben sich eventuell Rückwirkungen auf die europapolitischen Positionen der betroffenen Akteure selbst, die wiederum im Falle Großbritanniens besonders interessant sind.[128]
Soziale Akteure, d.h. ‚private’ Akteure, die vorwiegend nicht-wirtschaftliche Ziele verfolgen, scheinen – im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Akteuren Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – im Zusammenhang der hier untersuchten Politikbereiche wenig Einfluß zu haben. Allenfalls in Frankreich könnte ein größerer Einfluß tendentiell linksgerichteter, parteiunabhängiger ‚ Associations ’ über bestimmte Zeitschriften auf größere Teile der politischen Öffentlichkeit bestehen; dieser Einfluß ist jedoch schwer meßbar und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden.
Ebensowenig berücksichtigt werden kann leider der spezifische Einfluß und die Handlungsmotivationen von Medien bzw. Medienkonzernen wie insbesondere in Großbritannien der Murdoch-Presse.[129]
2.2.2.4. Probleme bei der Ermittlung von Akteurspräferenzen
Eine Vielzahl verschiedener Beweggründe können nun in einem Politikfeld die unterschiedlichen Akteure zu jeweils spezifischen Verhaltensweisen und Präferenzen veranlassen. Etliche davon werden durch das folgende Zitat angedeutet:
„Es gibt verschiedene Motive, die den Bemühungen, eine gesellschaftliche Situation als Policy-Problem zu definieren, zugrundeliegen. Häufig gibt die Überzeugung den Anstoß, daß eine ungleichgewichtige Verteilung von Ressourcen oder Positionen zwischen verschiedenen Gruppen vorhanden ist. Oder ein Politiker oder eine politische Gruppe heftet sich einen Issue auf die Fahnen und fördert ihn in der Öffentlichkeit, um den eigenen Nutzen zu erhöhen und ein öffentliches Amt zu gewinnen. Eine Issue-Initiierung kann auch durch ein unvorhergesehenes Ereignis erzwungen werden. Schließlich steht bei der Propagierung eines Policy-Problems schlicht eine Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl im Vordergrund [...] oder aber, wie die Diffusionshypothese behauptet: Gleichartige politische und gesellschaftliche Systeme ‚lernen’ voneinander und gleichen sich im Zuge dessen in ihrer Perzeption und politischen Bearbeitung von Policy-Problemen an.“[130]
Dies gilt natürlich nicht nur für die Phase der Problemdefinition, wenn auch hier durch den vergleichsweise offenen Zugang die Vielfalt der Akteure und Beweggründe wohl am größten ist. Aber auch die Phasen der Agenda-Gestaltung und der Politikformulierung werden keineswegs nur durch ‚monolithische’ Interessen bestimmt, wie z.B. das der EU-Kommission an einer Ausweitung ihrer Kompetenzen und das der im Rat vertretenen Regierungen an ihrer Wiederwahl. Vielmehr ist auch hier für das Ergebnis ein äußerst schwer zu trennender ‚Mix’ aus Normen und Interessen verantwortlich, die zum Teil offen geäußert, zum Teil aber auch eher verschwiegen werden.
2.2.2.4.1. Normen vs. Interessen
Ein grundsätzliches Problem bei der Analyse von Präferenzen der beteiligten Akteure in bezug auf die Gestaltung der EU-Sozialpolitik besteht darin, festzustellen, ob die Herausbildung dieser Präferenzen vorwiegend auf der Grundlage handlungsleitender Normen (z.B. angestrebter ideologischer Ziele) oder aber auf der Grundlage von Interessen erfolgt. Ein Beispiel hierfür ist die häufig geäußerte Kritik an einer starken Benachteiligung der Arbeitnehmer durch die wirtschaftliche Integration: Wird diese Kritik geäußert, weil die (behauptete) Benachteiligung einem normativen Ziel „sozialer Gerechtigkeit“ widerspricht oder vielmehr weil dies Wählerstimmen, Spenden von Integrationsgegnern oder den Beitritt neuer Mitglieder einbringt?
Vermeintliche normative Handlungsmotivationen lassen sich insbesondere für die untersuchten nationalen politischen Akteure scheinbar relativ leicht aus programmatischen Aussagen (Parlamentsreden, Partei- und Wahlprogrammen) gewinnen. Ob diese Aussagen jedoch mit den tatsächlichen Handlungsmotivationen übereinstimmen ist keineswegs sicher; beide können relativ unabhängig voneinander sein (was für die politischen Parteien häufig unterstellt wird) oder sich möglicherweise sogar widersprechen.
Umgekehrt ist aber auch eine rein utilitaristische, theoretisch-deduktive Ermittlung handlungsmotivierender Präferenzen aus unterstellten Grundinteressen wie Wählerstimmenmaximierung, Kompetenzausweitung oder Einkommensmaximierung problematisch. Spätestens dann, wenn sie zu Annahmen führt wie der, soziale Organisationen bemühten sich vor allem deshalb um die Erfüllung ihres Organisationszwecks, damit die Geldquellen (Spenden, Beiträge, öffentliche Zuwendungen) weiter sprudeln[131], droht diese Methode ad absurdum geführt zu werden.
Da eine klare Trennung äußerst schwierig ist, operiert beispielsweise Sabatier mit dem Begriff der „belief systems“[132], die sowohl Interessen als auch Wertvorstellungen umfassen - wobei Sabatier davon ausgeht, daß bei den verschiedenen Akteuren die normativen „handlungsleitende[n] Orientierungen normalerweise hoch mit Eigeninteressen korrelieren und die Kausalität reziprok ist.“[133] Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit auch der Begriff der Handlungsmotivationen in einem derart weiten Sinne verstanden.
Im Gegensatz zu den grundlegenden Handlungsmotivationen, die über lange Zeit konstant bleiben – Sabatier vergleicht einen Wechsel des ‚belief system’ mit einer „religiösen Konversion“[134] – , müssen die einzelnen Policy- Präferenzen der Akteure über längere Sicht keineswegs konstant sein. Hierbei spielen Lernprozesse und gemachte Erfahrungen eine Rolle.[135] Mögliche Folgen solcher Prozesse sind z.B. die Korrektur von Entscheidungen oder Positionen zu einzelnen Issues, die unter den Bedingungen unvollständiger Information gebildet wurden, oder die Entwicklung von neuen Strategien, die erst durch neue, mit der fortschreitenden Integration entstandene Akteurskonstellationen möglich geworden sind. Dies gilt insbesondere für das Lobbying der Verbände bei den EU-Institutionen, für das sich der betriebene Aufwand erst lohnt, wenn Einfluß und Entscheidungen dieser Institutionen für relevant genug gehalten werden.[136]
Selbst grundlegende Handlungsmotivationen der Akteure – Interessen, aber auch Wertvorstellungen – können einem längerfristigen Wandel unterliegen. Ein Beispiel hierfür ist der Wandel früherer Klassen- oder Milieuparteien, die sich auf feste Stammwählerschaften konzentrierten und deren Vertretung als ihre vorrangige Aufgabe ansahen, zu modernen ‚ Catch-all ’-Parteien, die ihre Stimmenmaximierungsstrategie durch die Aggregation möglichst vieler Interessen und Zielvorstellungen auf (fast) die ganze Bevölkerung auszudehnen versuchen.[137]
Diesem Ziel des legitimitätsheischenden (vorgeblichen) ‚Für-alle-Daseins’ entspringt auch eine Strategie der Verschleierung der Präferenzen im Policy- Prozeß, den Windhoff-Héritier als „Policy-Labeling“ [138] beschreibt:
„Wenn eine Policy ‚schön eingekleidet’ wird, erhöhen sich deren Aufnahmechancen in die Politikagenda. Schön einkleiden heißt in aller Regel, daß einer Policy zumindest der Anschein verliehen wird, einer breiten Öffentlichkeit zu nutzen, auch wenn sie nur kleineren Gruppen zugute kommt.“[139]
Dabei muß es sich keineswegs um bewußte Täuschungsmanöver machtbewußter Politiker gegenüber einem blauäugigen Publikum handeln. Es reicht in der Regel aus, vor möglichst vielen Gruppen die jeweils für sie aus einer bestimmten Policy resultierenden Vorteile besonders hervorzukehren, um die Zustimmung zu erhöhen. Dabei handelt es sich um eine ganz normale Strategie (nicht nur) politischer Argumentation, die hier keinesfalls normativ be- oder verurteilt werden soll.
Schwierig ist schließlich, allgemeine Aussagen darüber zu machen, welche von zwei einander möglicherweise widersprechenden Handlungsmotivationen die Präferenz eines Akteurs mehr beeinflußt, beispielsweise, wenn ein normatives Ziel eines politischen Akteurs angesichts der Entwicklung der öffentlichen Meinung in Gegensatz zu seinem Wiederwahlinteresse gerät. Die Situation in Deutschland im Zusammenhang mit der Währungsunion hat gezeigt, daß in einem solchen Fall keineswegs allein das Wiederwahlinteresse den Ausschlag geben muß: Während Meinungsumfragen eine wachsende Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Einführung des Euro im vorgesehenen Zeitplan zeigten, fällte im Frühjahr 1998 der Bundestag seinen Beschluß, zur Währungsunion überzugehen, mit überwältigender Mehrheit.
2.2.2.4.2. Empirisch-induktive und theoretisch-deduktive Präferenzermittlung
Wie also können angesichts der oben dargestellten Probleme die tatsächlichen Präferenzen der verschiedenen Akteure ermittelt werden? Auf empirisch-induktivem Wege allein aus ihrem offenkundigen Verhalten oder ihren Äußerungen auf zugrundeliegende Präferenzen zu schließen, birgt die Gefahr in sich, zum einen Fehlschlüssen aufgrund von Policy-Labeling zu erliegen, zum anderen aber auch, in einen Zirkelschluß zu geraten: Letztere Gefahr besteht darin, daß versucht wird, Präferenzen aus einem Verhalten abzuleiten, das dann wiederum mit den empirisch-induktiv ermittelten Präferenzen erklärt wird.[140]
Die „theoretische Bestimmung von Präferenzen mit Annahmen über die grundlegende Handlungsmotivation der Akteure“[141] ist aber ebenfalls problematisch: Erstens laufen ihre Verfechter ganz offenkundig Gefahr, normative Handlungsmotivationen auszublenden, wenn sie lediglich die Grund interessen Machtgewinn bzw. -erhalt oder aber wirtschaftlichen Gewinn als Handlungsmotivationen annehmen. Zweitens ist es nicht möglich, auf diesem Weg die Entscheidung eines Akteurs für oder gegen eine bestimmte Policy zu erklären, wenn er, von seinen angenommenen ‚Grundinteressen’ her, zwischen diesen beiden Optionen indifferent ist, weil keine von beiden mehr Macht oder höhere Gewinne als die andere verspricht.[142] Drittens ist es schwieriger, nicht Präferenzen für bestimmte Politik inhalte zu bestimmen, sondern für die Zuweisung politischer Kompetenzen in einem bestimmten Politikbereich an eine bestimmte Ebene in einem Mehrebenensystem. Hier muß noch einmal auf die bereits erwähnte ‚Vermischung’ von Inhalts- und ‚Ebenenpräferenzen’ verwiesen werden: Im Hinblick auf die ebenenübergreifenden Policy -Ergebnisse ist es eben durchaus relevant, ob ein Akteur beispielsweise sozialregulative EU-Politiken ablehnt, weil er in diesem Bereich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips eine Zuständigkeit der Nationalstaaten postuliert oder ob er – aus ideologischen oder wirtschaftlichen Gründen – grundsätzlich sich gegen weitere Regulierungsmaßnahmen ausspricht.[143]
Als letztes kommt hinzu, daß in Parteien oder Verbänden politische Präferenzen – gerade in so komplexen Politikbereichen und Kontexten wie der Sozialpolitik in einem Mehrebenensystem – eben nicht ausschließlich durch rein rationale Überlegungen, ausgehend von machtpolitischen oder wirtschaftlichen Grundinteressen, gebildet werden. Vielmehr dürfte es sich zumindest bei der Mitgliedschaft ebenso wie in der Allgemeinheit durchaus auch um eher diffuse Vorstellungen bzw. Zielsetzungen handeln, wie z.B.: ‚(1) Die Arbeitslosigkeit stellt ein wichtiges Policy -Problem dar. - (2) Die EU wird als Instanz für die Lösung politischer Probleme immer wichtiger. - (3) Die EU sollte etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun.’
Derartige Vorstellungen hängen natürlich mit Erwartungen zusammen, die in der Vergangenheit geweckt worden sind, z.B. mit den sehr optimistischen Erwartungen über die Wachstums- und Arbeitsmarktimpulse, die nach dem sogenannten Cecchini-Bericht von der Verwirklichung des Binnenmarktes hätten ausgehen sollen.
Aufgrund all dieser Überlegungen erscheint es mir sinnvoll, in die Untersuchung der Akteure und ihrer Handlungsmotivationen in Kapitel 4 sowohl Ansätze zur theoretisch-deduktiven Ermittlung ihrer Präferenzen einfließen zu lassen als auch diese teilweise sehr hypothetischen Annahmen anhand der Aussagen der Akteure und, soweit nachvollziehbar, ihres konkreten Entscheidungsverhaltens zu überprüfen. Ein Problem stellt dabei die teilweise schwierige Materiallage dar; denn bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages waren ja Informationen über das letztendliche Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten im Rat allenfalls auf informellen Wegen bzw. aufgrund von Indiskretionen zu erhalten.
2.2.2.5. Annahmen über die Präferenzen der Akteure
Trotz der dargestellten Probleme der theoretisch-deduktiven Präferenzermittlung sollen an dieser Stelle dennoch umrißartig Annahmen über die Präferenzen der behandelten Akteure in bezug auf die in Kapitel 3 untersuchten Policies – EU-Arbeitsschutzregulierung, Arbeitsrecht (Beispiel EBR-Richtlinie), EU-Beschäftigungspolitik – gemacht werden.
Dabei werden folgende Annahmen über Grundinteressen und grundlegende normative Orientierungen gemacht:
Grundinteressen:
(1) Es wird davon ausgegangen, daß bei öffentlichen Akteuren jeweils das Machtinteresse, also das Streben nach Kompetenzerwerb bzw. -erhalt, gegenüber eventuellem ökonomischem Gewinn überwiegt.
(2) Für die politischen Akteure der nationalen Ebene werden ferner die folgenden detaillierteren Annahmen Scharpfs in die Vermutungen über ihre Präferenzbildung einbezogen:
„Disregarding for the moment ideological differences, one may generally assume that rationally self-interested national governments will consider three criteria in evaluating proposed regulations at the European level: (a) the extent to which the mode of regulation agrees with, or departs from, established administrative routines in their own country; (b) the likely impact on the competitiveness of national industries and on employment in the national economy; and – where these are politically activated – (c) specific demands and apprehensions of their national electorates.“[144]
Das bedeutet, die Kosten-Nutzen-Abwägung der politischen Akteure umfaßt insgesamt drei Dimensionen: (a) die Abwägung der Umsetzungskosten, (b) eine gesamtwirtschaftliche Kosten-Nutzen-Abwägung und (c) die Abwägung des zu erwartenden politischen Nutzens in Form der von einer bestimmten Politik erhofften Stimmengewinne.[145]
(3) Die nationalen Akteure sind zwar grundsätzlich am Kompetenzerhalt interessiert. Allerdings lehnen sie europäische Policies keineswegs grundsätzlich ab, da hiermit für sie nicht unbedingt ein Kompetenzverlust einhergeht: Regierungsmitglieder sind durch die Einbindung in den Rat ja nach wie vor an entscheidender Stelle in das EU- Policy-making einbezogen; ferner begünstigt die sektorielle Integration die Kooperation zwischen nationalen und EU-Bürokratien in ebenenübergreifenden Netzwerken, so daß ein Einflußverlust der nationalen administrativen Akteure nicht unbedingt gegeben ist.[146]
(4) Bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden dominiert dagegen das Interesse an der Gewinn- bzw. Einkommensmaximierung der Mitglieder. Für die Verbände wird jedoch außerdem, insbesondere auf der europäischen Ebene, auf der Einflußstrukturen noch verhältnismäßig instabil sind, ein untergeordnet ebenfalls handlungsbeeinflussendes Machtinteresse vermutet.[147]
Gesamtwirtschaftliche Kosten-Nutzen-Aspekte:
(5) Man kann annehmen, daß alle nationalen Akteure EU-Maßnahmen begrüßen, die dem eigenen Land gesamtwirtschaftlich mehr Nutzen als Kosten bringen – also solche, von denen gesamtwirtschaftlich finanzielle Gewinne oder aber auch ein Rückgang der Arbeitslosigkeit erwartet werden können – sofern die Maßnahmen nicht aus anderen Gründen eigenen Interessen oder normativen Zielvorstellungen widersprechen.
(6) In „armen“ EU-Mitgliedstaaten besteht zumindest tendentiell die Hoffnung, von einer EU-Beschäftigungspolitik auch finanziell im Rahmen umverteilender Maßnahmen, z.B. der Finanzierung von Pilotprojekten zur Beschäftigungsförderung, zu profitieren. In „reichen“ EU-Mitgliedstaaten besteht gegenüber einer EU-Beschäftigungspolitik tendentiell eher die Befürchtung einer Verstärkung der Nettozahlerposition.
(7) Es wird davon ausgegangen, daß „reiche“ Länder eine nationale Arbeitsschutzregulierung auf einem höheren Schutzniveau als „arme“ Länder haben.[148] Aufgrund einer detaillierteren spieltheoretischen Präferenzmodellierung nimmt Scharpf daher an, daß die „armen“ Länder die niedrigen Arbeitsschutzstandards als einen wirtschaftlichen Standortvorteil (niedrigere Produktionskosten) betrachten. Daher lehnen sie die Harmonisierung ‚nach oben’ ab, weil sie hiervon den Verlust von Arbeitsplätzen erwarten.[149] Diese Annahme ist sehr problematisch.[150] Sie soll jedoch an dieser Stelle im Rahmen der theoretisch-deduktiven Präferenzermittlung zunächst übernommen werden, auch wenn sie der empirischen Überprüfung nicht uneingeschränkt standhält. Weniger problematisch ist die umgekehrte Annahme, daß selbst die Unternehmer in den „reichen“ Hochniveauländern eine Harmonisierung ‚nach oben’ begrüßen, da dadurch Wettbewerbsvorteile der Niedrigniveauländer verlorengehen.
Normative Grundorientierung:
(8) Es wird angenommen, bei tendentiell linksgerichteten Akteuren überwiege traditionell eine normative Handlungsmotivation, die am Wert „soziale Gerechtigkeit“ ausgerichtet ist[151] ; tendentiell rechtsgerichtete Akteure orientieren sich dagegen stärker – aber mit Blick insbesondere auf christdemokratische Parteien: nicht ausschließlich! – am Wert „freier Wettbewerb“.
(9) Es wird angenommen, daß Erwartungen in bezug auf den Erfolg makroökonomischer Steuerung bzw. Koordinierung bei tendentiell linksgerichteten Akteuren stärker ausgeprägt sind als bei tendentiell rechtsgerichteten Akteuren.
(10) Schließlich wird noch vermutet, daß in Bürokratien eine ressortspezifische normative Grundorientierung bestehe. Diese dürfte aufgrund der starken Segmentierung in der Kommissionsbürokratie stärker ausgeprägt sein. Daher wird für die Generaldirektion V, die für den Bereich der Sozialpolitik zuständig ist, ein „Ressortethos“ angenommen, daß tendentiell -und insbesondere im Vergleich mit anderen Ressorts wie der für den Binnenmarkt zuständigen GD III- stärker am Wert „soziale Gerechtigkeit“ orientiert ist.
Unter diesen Annahmen ergibt sich das folgende Präferenzmuster:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2-2: Theoretisch-deduktiv ermittelte Präferenzen der Akteure
2.2.2.6. Die Durchsetzungsfähigkeit von Akteuren
Insgesamt hängt die spezifische Durchsetzungsfähigkeit von Akteuren zu einem wesentlichen Teil von ihren Verbindungen zu anderen Akteuren ab, die ihnen einerseits Einfluß eröffnen können, sie andererseits aber auch einer gewissen Kontrolle bzw. gegenseitigen Verpflichtungen unterwerfen.
Die weitestgehende Durchsetzungsfähigkeit haben dabei natürlich Akteure, die über eine Veto-Macht verfügen, also, sofern sie mit bestimmten Politikinhalten nicht einverstanden sind, die gesamte Policy durch ihre Ablehnung blockieren können. Dabei stellt die ‚Totalverweigerung’ oft nicht einmal die wichtigste Strategie dar; erfolgversprechender ist dagegen vielmehr, durch eine Veto-Drohung auf die anderen Akteure in Verhandlungen Druck auszuüben, ggf. solange inhaltliche Zugeständnisse zu machen, bis ein Kompromiß möglich ist.
In den Genuß dieser privilegierten Veto-Macht kommt zunehmend das Europäische Parlament, und zwar in all den Bereichen, in denen das Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EGV) zur Anwendung kommt.[152]
Im Zusammenhang der Verhandlungen unter Beteiligung nationaler Regierungsakteure auf EU-Ebene – sowohl in interinstitutionellen (z.B. im Vermittlungsverfahren zwischen Rat und EP) als auch intergouvernementalen Verhandlungen – sind auch nationale institutionelle Strukturen von entscheidender Bedeutung: Die Handlungsfreiheit von Regierungsakteuren auf europäischer Ebene und damit auch ihr Spielraum in konkreten Verhandlungssituationen hängt in einem durchaus entscheidenden Ausmaß davon ab, wie stark die Regierungen gerade in außen- und europapolitischen Fragen von den nationalen Parlamenten kontrolliert werden.[153] Eine wichtige Rolle spielen hier z.B. die Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten von Parlamentsausschüssen. Daneben nimmt der Einfluß der Parlamentarier auf die Regierungspositionen möglicherweise auch dann zu, wenn die Regierungsmitglieder selbst enger in die Parlamentsarbeit einbezogen sind, z.B. durch eine häufige bis selbstverständliche Überschneidung von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat und die entsprechende Einbindung in die Fraktionen der Regierungsparteien.
In diesen Punkten bestehen zwischen den Mitgliedstaaten wesentliche Unterschiede, von denen im Abschnitt 4.3. noch die Rede sein wird. Die Einschränkung der Handlungsfreiheit einer Regierung durch die nationale parlamentarische Kontrolle wirkt sich jedoch nicht unbedingt negativ auf die Durchsetzungsfähigkeit dieser Regierung auf europäischer Ebene aus - im Gegenteil: eine Regierung kann auf ihren engen, vom nationalen Parlament abgesteckten Handlungsspielraum verweisen, um Zugeständnisse gegenüber anderen Mitgliedstaaten zu verweigern.
Die Kommission verfügt als supranationaler Akteur zwar über kein formelles Veto-Recht im EU-Entscheidungsprozeß, aber ihre bereits angesprochene Kontrolle über die Agenda-Gestaltung im europäischen Policy-Prozeß gibt ihr ein wesentliches Instrument zur Durchsetzung ihrer Präferenzen in die Hand: Schließlich kann die Kommission ja nicht gezwungen werden, gegen ihren Willen auf den Wunsch von Mitgliedstaaten oder des Europäischen Parlaments hin Initiativen auf die europäische Tagesordnung zu setzen. Auch in einem in Gang gesetzten Verfahren der Politikformulierung verfügt die Kommission noch über dieses entscheidende Machtmittel, da sie bis zu einem ergangenen Beschluß ihre Entwürfe ändern oder zurückziehen kann.
Auch die Durchsetzungsfähigkeit von Interessengruppen hängt zu einem bestimmten Ausmaß von institutionellen Strukturen ab, und zwar dann, wenn Verbände selbst aufgrund korporatistischer Arrangements in solche Strukturen eingebunden sind. Ein Verband, der von der Kommission zu Gesprächen im Rahmen des ‚Sozialen Dialogs’ geladen oder im Vorfeld des Entscheidungsprozesses bereits zu geplanten Gesetzesvorhaben gehört wird, hat zweifelsohne größere Chancen für die Durchsetzungsfähigkeit seiner Präferenzen als eine Organisation, die von diesen Einflußmöglichkeiten ausgeschlossen ist. Um so mehr gilt dies natürlich für Beteiligung an der Ausübung von Regelungskompetenzen durch Verbände in der Form von „privaten Interessenregierungen“[154] in bestimmten Politikbereichen.[155]
Daneben wird die Durchsetzungsfähigkeit der privaten Akteure jedoch mindestens ebenso stark durch die jeweilige Organisationsfähigkeit [156] bzw. den jeweiligen Mobilisierungsgrad [157] bestimmt. Letzteres Konzept unterscheidet weiterhin eine strukturelle Komponente, die weitgehend der Organisationsfähigkeit entspricht, sowie eine situative Komponente:
Zu einem hohen strukturellen Mobilisierungsgrad eines Akteurs bzw. einer Organisation tragen folgende Faktoren bei:
– Repräsentativität eines Akteurs bzw. einer Organisation (Organisationsgrad),
– Vertretungsmonopol,
– hierarchische Struktur,
– feste Einbindung in ein etabliertes Politiknetzwerk (s.o.). Der situative Mobilisierungsgrad wird insbesondere bestimmt durch:
– die Betroffenheit durch eine bestimmte einzelne Policy,
– das Störpotential im Konfliktfall, z.B. die punktuelle Bereitschaft zu Protestaktionen, Streiks etc.
Dementsprechend lassen sich beispielsweise im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten nationale Monopolgewerkschaften von einer heterogenen Arbeitnehmervertretung unterscheiden, wobei die politische Durchsetzungsfähigkeit ersterer bei sonst gleichen Bedingungen mit Sicherheit höher ist. Ebenso wird anhand der Verbandsstrukturen gut der Unterschied zwischen hierarchisch-zentralistischen Bauernverbänden, die in kurzer Zeit ein enormes Störpotential aufbauen können, und ‚individualistisch’-dezentralen Unternehmerverbänden deutlich, die andere Wege der politischen Einflußnahme nutzen müssen und können.
Die Organisationsfähigkeit von Interessen durch Verbände ist, so Traxler und Schmitter, von drei Faktoren abhängig; diese sind:
„(a) die Generalisierbarkeit der Interessen bzw. des verbandlichen Vertretungsanspruchs. Je größer das Spektrum der verbandlich internalisierten Interessen, desto generalisierter (inklusiver) ist die Verbandsdomäne; (b) die Assoziationsfähigkeit innerhalb der abgegrenzten Verbandsdomäne. Sie ist um so größer, je größer der Organisationsgrad des Verbandes, d.h. der Anteil der tatsächlichen zu den potentiellen Mitgliedern ist; (c) die Kontrollfähigkeit des Verbandes bemißt sich an seinen Möglichkeiten, die Interessen innerhalb seiner Domäne zu vereinheitlichen und die Mitglieder auf die gemeinsamen Verbandsziele zu verpflichten.“[158]
Dabei nimmt die Kontrollfähigkeit ab, je größer die Zahl der Mitglieder ist, wobei bei Dachverbänden die Zahl der angehörenden Branchen-, Richtungs- oder sonstigen Verbände zu zählen ist und nicht die der insgesamt repräsentierten Individuen. Besonders gering ist die Kontrollfähigkeit von Dachverbänden, wenn die Vertreter der angehörenden Einzelverbände auf der Dach-Ebene nur einstimmig entscheiden können.
Traxler und Schmitter fassen eine internationale Vergleichsstudie von Arbeitnehmer- und Arbeitgeber- bzw. Industrieverbänden in einer Übersicht zusammen, mit der die folgende Tabelle 2-3 weitestgehend übereinstimmt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2-3: Organisation von Unternehmen und Arbeitnehmern im Vergleich
+/- höhere/niedrigere Organisationsfähigkeit im Vergleich zur Gegenklasse
a Arbeitgeberverbände und Wirtschaftsverbände; b gemessen an der Zahl der vorgefundenen Verbände innerhalb sektoral und national abgrenzbarer Verbändesysteme; c gemessen am Organisationsgrad der durch die nationalen Dachverbände jeweils abgedeckten potentiellen Verbandsmitglieder (Arbeitnehmer, Unternehmer); d gemessen an der Zahl der Mitgliederverbände der nationalen Dachverbände.
Mit kleinen Änderungen nach: Traxler / Schmitter 1994, S. 56.
Diese Tabelle gilt sowohl für die nationalen Verbände als auch für die EU-weiten Zusammenschlüsse: So ist die Zahl der Unternehmerverbände wesentlich größer als die der Gewerkschaften, was auf die Existenz von Wirtschaftsverbänden mit spezifischen Produktmarktinteressen zurückzuführen ist, und auch innerhalb der Dachverbände zerfällt das Unternehmerlager in eine viel größere Zahl schwer zu kontrollierender, einzelner Mitgliedsverbände. Insgesamt, stellen Traxler und Schmitter fest, liege „die zentrale Schwäche aller supranationalen [sic] Unternehmerverbände in der defizienten Steuerungskapazität gegenüber ihren Mitgliedern“.[159]
Umgekehrt ist der Organisationsgrad des Unternehmerlagers wesentlich höher als der des Arbeitnehmerlagers, wobei auf der nationalen Ebene zu berücksichtigen ist, daß in einigen EU-Mitgliedstaaten insbesondere im Unternehmerlager auch Kammern mit Zwangsmitgliedschaften bestehen. Diese sind jedoch nicht Mitglieder der UNICE.
Generell gehen Traxler und Schmitter von einer höheren Durchsetzungsfähigkeit des Unternehmerlagers in der EU aus:
Die höhere Assoziationsfähigkeit und damit größere Repräsentativität sowie die Formulierung ausdifferenzierterer interessenpolitischer Schwerpunkte ist ohnehin ein Vorteil der Unternehmerverbände gegenüber den Gewerkschaften.
Dazu kommt aber folgendes:
„Die geringere Generalisierbarkeit ihrer Interessen bedeutet für die Unternehmer zumindest unter den gegeben Verhältnissen der EU alles andere als einen Nachteil. Wie oben dargestellt, resultiert diese geringere Generalisierbarkeit daraus, daß die Unternehmer die klassenintern disparaten und kontroversiellen Produktmarktinteressen zum Hauptgegenstand verbandspolitischer Anstrengungen machen. Nun standen bislang nicht Arbeitsmarktinteressen, sondern nahezu ausschließlich Produktmarktinteressen im Zentrum sozioökonomischer Regelung der EU, wobei die partikularistischen Strukturen der supranationalen Wirtschaftsverbände durchaus im Einklang mit der fragmentierten, sektionalistischen Bearbeitung dieser Fragen durch die Kommission stehen.“[160]
Die Heterogenität und die geringe Hierarchisierung des Unternehmerlagers wirkt sich jedoch keineswegs nachteilig auf die Durchsetzungsfähigkeit der UNICE in Kollektivverhandlungen mit dem EGB aus: Vielmehr ist ein Phänomen zu beobachten, daß der oben dargestellten geringeren Kompromißfähigkeit und damit stärkeren Verhandlungsposition von Regierungen entspricht, wenn diese unter einer strikteren Kontrolle des Parlaments stehen. Dies gilt nämlich auch für die Vertreter der UNICE: Je schwächer ihr Verhandlungsmandat ist, das ihnen die nationalen Mitgliedsverbände erteilen, desto geringere Zugeständnisse können sie gegenüber dem EGB, aber auch gegenüber der eventuell vermittelnden Kommission machen:
„Im Bereich der Arbeitsmarktinteressen wird die Vereinheitlichungsschwäche der Unternehmer [...] zur Stärke. Bei Geltung des Konkordanzprinzips für einschlägige Fragen war es auch die mangelnde Kontrollfähigkeit der Unternehmerverbände, die den sozialen Dialog bislang leerlaufen ließ. Denn in Verhandlungen findet sich jene Partei in der stärkeren Position, die weniger interessiert bzw. befähigt ist, eine Kompromißlösung zu finden.“[161]
2.2.2.7. Koalitionsbildung
Auch die entsprechend den vorangegangenen Ausführungen durchsetzungsfähigsten Akteure sind jedoch angesichts der großen Zahl an Akteuren und der komplexen Konstellation im EU-Mehrebenensystem in der Regel nicht in der Lage, eigene Politikinhalte im Alleingang durchzusetzen; sie können allenfalls ihnen nicht genehme Entscheidungen verhindern. Zur Formulierung spezifischer positiver Politikinhalte sind dagegen Koalitionen notwendig – und sei es nur zur Schaffung von ‚Öffentlichkeit’ für ein bestimmtes, gemeinsam als solches empfundenes Problem – , die sich über gemeinsame Präferenzen und ggf. Strategien zu deren Umsetzung verständigen. Sabatier formuliert dies folgendermaßen:
„Innerhalb des Subsystems – so die Annahme – werden die Akteure in einer Anzahl von Advocacy-Koalitionen aggregiert; diese setzen sich aus Personen aus verschiedenen Organisationen zusammen, die gemeinsame normative und kausale Vorstellungen haben und ihre Handlungen oft abstimmen. Jede Koalition wendet zu jedem Zeitpunkt Strategien an, deren Ziel eine oder mehrere institutionelle Innovationen sind, von denen angenommen wird, daß sie den Policy-Zielen förderlich sind. Zwischen den konfligierenden Strategien verschiedener Koalitionen wird normalerweise durch eine dritte Gruppe von Akteuren vermittelt, die hier ‚Policy Brokers’, ‚Policy-Vermittler’, genannt werden; deren wesentliches Anliegen ist es, einen vernünftigen Kompromiß zu finden, der die Intensität eines Konflikts reduziert.“[162]
Zwar formuliert Sabatier seinen Advocacy-coalitions -Ansatz als Gegenmodell zu einem zu schematisch verwendeten Phasenmodell des Policy -Prozesses[163], durch das ‚Nadelöhr’ des Kommissionsvorschlags im Punkt der Agenda-Gestaltung ist dieser Prozeß jedoch zumindest in den ersten drei Phasen tatsächlich deutlich gegliedert.
In der ersten Phase, der Problemdefinition, spielen Koalitionen im EU-System eine bedeutende Rolle: Falls nämlich ein bestimmtes, zunächst einmal vage von einem Akteur in den EU- Policy -Prozeß eingebrachtes Anliegen nicht ‚koalitionsfähig’ ist, d.h. falls sich nicht eine ausreichend starke Advocacy coalition zu seiner Unterstützung bilden kann (sei es, weil es sich um einen schlicht nicht realisierbaren Vorschlag handelt, um ein zu spezielles oder dem gegebenen Politikbereich inhaltlich nicht entsprechendes Thema etc.), ist es angesichts der Vielzahl der zirkulierenden Initiativen und Ideen wahrscheinlich, daß dieses konkrete Anliegen, dieser Vorschlag oder diese Forderung schnell im „Mülleimer“[164] der EU-Politikformulierung verschwindet.
Für das Verhalten der Akteure wird angenommen, daß bestehende Koalitionsmöglichkeiten grundsätzlich auch genutzt werden, d.h. daß Akteure, deren Handlungsmotivationen zumindest partiell und deren Präferenzen in bezug auf einen bestimmten Politikinhalt wesentlich übereinstimmen, sofern sie dies voneinander wissen, ihr Handeln untereinander abstimmen – sei es im positiven Sinne zum Voranbringen eines bestimmten Issues, sei es abwehrend in Form einer ‚Stillstandskoalition’ zur Bewahrung des Status quo.[165]
Dabei können sich für die Koalitionsbildung gegenläufige Tendenzen herausbilden:
Zum einen besteht für ‚gleichgerichtete’ Interessenverbände aus verschiedenen Mitgliedstaaten ein Anreiz, gegenüber den supranationalen Institutionen gemeinsam aufzutreten; zum anderen werden aber auch die Verbände aus den Mitgliedstaaten sich weiterhin bemühen, ihre jeweiligen Regierungen von ihren Anliegen zu überzeugen, und – sollte ihnen dies gelingen – ihre Strategien mit diesen abzustimmen.[166]
Allerdings weist Richardson auf das in der EU offenbar nach wie vor bestehende Informationsproblem hin, das darin besteht, daß die Akteure – insbesondere die Vielzahl der mit verschiedensten Handlungsmotivationen und Präferenzen an der Problemdefinition beteiligten – oft nur unvollständige Informationen übereinander besitzen:
„virtually all interest group respondents (and most national officials) who were interviewed in our study of the role of interest groups in the EU policy process emphasised the fluidity and unpredictability of the process [...]. Adopting the rational actor model was difficult for them in situations of high uncertainty and in the absence of crucial information about the policy positions and behaviour of other stakeholders. Indeed they may be totally unaware of other key actors in the process, let alone of the policy preferences and strategies of those actors!“[167]
Man kann jedoch annehmen, daß dieses Problem mit der zunehmenden Verfestigung der EU-Politiknetzwerke über kurz oder lang beseitigt wird, zumal in Politikfeldern, in denen diese Verfestigung sogar durch Vertragsnormen institutionalisiert wird. Genau dies ist aber mit der Entwicklung korporatistischer Strukturen in der Sozialpolitik der Fall. Außerdem verfügen die hier relevanten Akteure im Vergleich mit kleineren Issue -Gruppen in anderen Politikbereichen, z.B. territorial begrenzten Umweltinitiativen o.ä., über eine gute Ressourcenausstattung – Vertretung in Brüssel, Kommunikations- und Informationstechnik – , die die Informationsbeschaffung übereinander erleichtert.
Insbesondere bei der Entwicklung von Sekundärrecht und im Bereich der europapolitischen ‚ low politics ' sind die verschiedenen Akteure nicht mehr unbedingt auf die Aggregation durch (ihre Herkunfts-)Staaten angewiesen, vielmehr können sie sich, auch in transnationalen ‚ advocacy coalitions ', sowohl unmittelbar an die Gemeinschaftsorgane als auch an andere Mitgliedstaaten wenden. Da es für den Agendaerfolg der Initiative eines Akteurs wichtig ist, von der Kommission ‚erhört’ zu werden, kommt es ganz wesentlich darauf an, möglichst viele, möglichst starke und vor allem möglichst bereits im EU- Policy-making etablierte Koalitionspartner zu finden, die das betreffende Problem ebenfalls auf die Agenda setzen wollen oder dies zumindest unterstützen.
Erfolgreiche Koalitionen neigen dabei dazu, sich zu verstetigen, was wiederum nicht ohne Folgen für weitere Initiativen ist:
„Hat ein ‚neues’ Policy-Problem einmal erfolgreich den Zugang zur politischen Agenda gefunden, bereitet es damit den Weg für verwandte Fragen, so daß neue Policies häufig als ‚Cluster’ auftreten [...]. Denn ist eine neue Policy einmal ‚arriviert’, besteht die Neigung, sie in Einzelfragen aufzugliedern. Noch wichtiger aber: Der Agendaerfolg einer politischen Koalition veranlaßt andere Gruppen mit ähnlichen Problemen, dieselbe Koalition wieder für ihre eigenen Zwecke zu aktivieren.“[168]
So können in der politischen Diskussion auf Gemeinschaftsebene durchaus auch Zielvorstellungen relevant sein, die (zunächst) nicht von einzelnen Mitgliedstaaten getragen werden, sondern z.B. von einem etablierten transnationalen Akteur wie dem EGB oder der UNICE oder auch von den europäischen Parteiorganisationen bzw. den EP-Fraktionen aggregiert werden:
„Interests find a multiplicity of access points at the EU level, especially with the acceleration of the Europeanisation of public policy in the member states. They are also alert to any shifts in the distribution of power between existing institutions and between existing levels of government. [...] Interest groups are thus an excellent 'weather vane' of the distribution of power in society; as the distribution of power shifts, interest groups follow.“[169]
Auch in der Phase der Politikformulierung wird mit der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat sowie des Anwendungsbereiches des Mitentscheidungsverfahrens die Koalitionsbildung wichtiger. Dies gilt auch für die Vertreter der Mitgliedstaaten sowohl untereinander zur Bildung von Mehrheiten oder ‚qualifizierten Minderheiten’ als auch institutionenübergreifend; denn das Veto-Recht als Druckmittel – sei es, um eine geplante Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken, oder um sie überhaupt zu verhindern – kann inzwischen in immer weniger Bereichen eingesetzt werden.
Dies hat wiederum Folgen für die Strategien der privaten Akteure in bezug auf die Politikformulierung:
„Die Folgen für Interessengruppen sind evident. Während im erstgenannten Fall [gemeint ist: Einstimmigkeitserfordernis] Lobbying und gute Kontakte auf der nationalen Ebene, im eigenen Land, notwendig und weitestgehend ausreichend waren, da jeder Mitgliedstaat praktisch über ein Veto-Recht verfügte, genügt dies im zweiten Fall [QMA] nicht mehr. Hier ist es vielmehr notwendig, Verbündete in anderen Mitgliedstaaten zu finden, um entweder eine Blockade(-Minderheit) oder eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen.“[170]
Ein weiterer entscheidender Faktor für die Bildung von Koalitionen ist natürlich die zunehmende Einbindung (privilegierter) privater Akteure in die Politikformulierung[171]: Zum einen werden sich andere Akteure, die hiervon ausgeschlossen sind, um dieses Privileg bemühen; zum anderen werden die Akteure, die es besitzen, für sie zu bevorzugten Koalitionspartnern. Dies kann bis hin zum organisatorischen Zusammenschluß führen, z.B. zum Beitritt kleinerer, von der Kommission mit der Begründung fehlender Repräsentativität aus dem Euro-Korporatismus ausgeschlossener Verbände zu einem der großen Dachverbände.
Unter inhaltlichen Gesichtspunkten möchte ich noch auf einen Unterschied zwischen zwei Typen von Koalitionen hinweisen: So können sich innerhalb eines institutionell noch instabilen Politiknetzwerks sowohl „Zielkoalitionen“ als auch „Strukturkoalitionen“ bilden:
(1) Akteure, die sich in einer Zielkoalition zusammenschließen, haben zumindest in bezug auf das konkret angestrebte inhaltliche Ziel übereinstimmende Präferenzen, z.B. die Verbesserung des rechtlichen Arbeitnehmerschutzes. Auch die Zielgruppen, an die sich diese Akteure in der Öffentlichkeit bevorzugt wenden, von denen sie tendentiell eher unterstützt werden bzw. als deren Vertreter sie in der politischen Arena auftreten, überschneiden sich zumindest partiell, z.B. Gewerkschaftsmitglieder und sozialdemokratische Stammwähler oder Mitglieder von Bauernverbänden und Wähler konservativer Parteien. In der Regel gehören die Akteure, die sich zu solchen Zielkoalitionen zusammenschließen, unterschiedlichen Akteursklassen (im Sinne der Klassifizierung in Abschnitt 2.2.2.2.) an, z.B. Vertreter politischer Parteien, administrative Akteure aus einschlägigen Fachministerien bzw. Generaldirektionen und wirtschaftliche Akteure. Eine Ausnahme von dieser „Regel“ sind transnationale Koalitionen oder Multi-Level-Koalitionen von einander entsprechenden Akteuren. Diese Koalitionen tendieren aber in den entsprechenden EU-Politiknetzwerken bzw. auch netzwerkübergreifend oft eher zur Bildung neuer, transnationaler Akteure wie z.B. den europäischen Parteizusammenschlüssen/ EP-Fraktionen oder den großen europäischen Dachverbänden EGB, UNICE etc.
(2) Akteure, die sich in einer Strukturkoalition zusammenschließen, haben dagegen übereinstimmende Präferenzen in bezug auf die Ausgestaltung politischer Entscheidungsstrukturen, z.B. zugunsten einer stärkeren Parlamentarisierung der EU-Ebene oder zugunsten korporatistischer Arrangements. Dabei können durchaus Akteure zusammenfinden, die sich in ihren inhaltlichen Präferenzen deutlich voneinander unterscheiden oder sogar in einem geradezu „notwendigen“ Konfliktverhältnis stehen, z.B. konkurrierende Fraktionen im Europäischen Parlament oder Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Allerdings gehören die Mitglieder einer solchen Strukturkoalition in der Regel der gleichen Akteursklasse an, z.B. als politische Akteure auf europäischer Ebene oder als transnationale wirtschaftliche Akteure.
Zwar gibt es auch dann, wenn handlungsfähige Akteure und Koalitionen in einem Politiknetzwerk prinzipiell zusammenarbeiten, „keine Garantie dafür, daß [...] systemrationale kollektive Entscheidungen“[172] das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sein werden. Aber auch für den Fall, daß die Akteure eines Netzwerks die Umsetzung allgemeiner Werte oder die Verwirklichung allgemeiner Wohlfahrtsgewinne überhaupt nicht anstreben, sondern „genauso selbstsüchtig und kurzsichtig handeln wie der individuelle Mensch“[173], kann gleichsam als Fazit der vorangegangenen methodischen Überlegungen eine grundlegende Erwartung formuliert werden. Diese Erwartung könnte vielleicht am besten mit ‚Input-Output-Kohärenz’ umschrieben werden. Sie lautet folgendermaßen:
Sofern keine Vetomöglichkeiten bestehen, stimmt der Policy-Output des Netzwerkes auch tatsächlich mit den Präferenzen des durchsetzungsfähigsten Akteurs bzw. der durchsetzungsfähigsten Akteurskoalition überein. Falls Vetomöglichkeiten bestehen, werden diese entweder nicht genutzt – dann gilt der vorangehende Satz – , ihre eventuelle Nutzung bei der Formulierung von Kompromissen antizipiert oder der (Null-) „Output“ besteht in einer Blockadesituation. Aufgrund von Übereinstimmungen zwischen den feststellbaren Outputs und den Präferenzen der Akteure, die durch eine Kombination aus theoretisch-deduktiven Annahmen und empirischer Untersuchung ihrer eigenen Bekundungen erschlossen werden können, kann nun darauf geschlossen werden, welche Koalitionen bzw. welche Typen von Koalitionen in der Entwicklung von EU-Sozialpolitik erfolgreich sind:
„Wenn es darum geht, unterschiedliche Interessen und Wege der Machtdurchsetzung zu untersuchen, sind ‚Gewinnerkoalitionen’, die strategischen Allianzen, die sich gegen konkurrierende Koalitionen durchsetzen, von besonderem Interesse. Der Integrationsprozeß geht nur weiter, wenn sich die Beteiligten davon einen Gewinn versprechen. Ein ‚Nullsummenspiel’ verhieße dagegen integrationspolitischen Stillstand [...]. Es stellt sich die Frage, welche ‚Gewinnerkoalitionen’ gegenwärtig sozialpolitisch am Werk sind.“[174]
Die Antwort auf diese Frage hat grundsätzliche integrationstheoretische Implikationen, für die im folgenden Abschnitt Hypothesen formuliert werden sollen, die dann anhand der empirischen Untersuchungen des sozialpolitischen Outputs der EU sowie der daran beteiligten Akteure und ihrer Handlungsmotivationen überprüft werden können.
2.3. Integrationstheoretische Hypothesen für die EU-Sozialpolitik
Auf die Prozeßhaftigkeit der europäischen Integration wurde bereits hingewiesen, ebenso darauf, daß sich dieser Prozeß entlang bestimmter ‚Pfade’ vollzieht, deren Endpunkt zwar nicht klar definiert, aber deren Richtung aufgrund bestehender Verpflichtungen vorgezeichnet ist. Aber welche Triebkräfte dominieren nun bei der Vorgabe dieser Richtung und bei den vielen kleinen Schritten auf dem ‚Integrationspfad’? Hierüber haben verschiedene integrationstheoretische Ansätze unterschiedliche Vermutungen gemacht, die hier auf das konkrete Beispiel der EU-Sozialpolitik angewendet werden sollen.
Gerade die Sozialpolitik und insbesondere der Umgang mit diesem Politikbereich zwischen ‚Maastricht’ und ‚Amsterdam’ ist nämlich, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, auf besondere Weise exemplarisch für eine Integration nicht ‚aus einem Guß’ sondern in kleinen Schritten: Die Sonderlösung des Sozialabkommens der elf, später vierzehn Mitglieder ohne Großbritannien, die inzwischen wieder überwunden ist, „kann als erneuter Beleg für die pragmatische Art der Weiterführung des Integrationsprozesses gesehen werden; sie ist allerdings für die Kohärenz der Union, zumal in ihrer Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft, nicht unproblematisch.“[175] Die grundsätzliche, über den konkreten Inhalt des Sozialabkommens hinausreichende Frage, ob mit dieser Sonderlösung der Weg zu einem ‚Europa à la carte’ geöffnet wurde oder ob es sich nicht vielmehr um eine einmalige, vorübergehende ‚Krücke’ der Integrationspolitik, möglicherweise sogar um einen Irrweg, handelte, muß in der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden. Hier wäre es angebracht, auf weitere derartige Konstruktionen zu warten, die ja nach dem Verfahren der „verstärkten Zusammenarbeit“ (Art. 11 EGV) möglich wären, und diese mit der „Opt-out“-Lösung des Sozialabkommens zu vergleichen.
2.3.1. Neofunktionalistische Hypothese
Unter den gegebenen Rahmenbedingungen des mit der EGKS begonnenen und mit der EWG fortgesetzten, sektoralen Integrationsprozesses haben sich von Anfang an supranationale Akteure, insbesondere die EU-Kommission, herausgebildet, deren Aufgabe es ist, konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung der definierten Integrationsziele vorzuschlagen, auszuarbeiten und ggf. umzusetzen. Die Annahme, daß die supranationalen Akteure der europäischen Ebene, insbesondere die Kommission, zu den wichtigsten ‚Antreibern’ des Integrationsprozesses gehören würden, ist eine zentrale Grundannahme der neofunktionalistischen Integrationstheorie. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Laura Cram:
„[I]n Haas's neo-functionalist approach, the very propensity of organisations to maximise their powers, is an important element of the process through which a political community is formed.“[176]
Es wird angenommen, daß im Falle der inhaltlichen Interdependenz zwischen Politikbereichen, deren Vergemeinschaftung bereits vertraglich festgelegt ist, und anderen Politikbereichen, für die (noch) keine klare Gemeinschaftskompetenz besteht, die supranationalen Akteure auf eine Erweiterung ihrer Kompetenzen drängen bzw. ihren Kompetenzbereich ‚weit’ auslegen, um ihrer Ansicht nach systemoptimale Ergebnisse im Sinne der gesetzten Ziele zu erreichen. Anders gesagt: Sie werden es vorziehen, Initiativen zu ergreifen, die der Umsetzung des gegebenen Ziels dienen, auch wenn sie darüber hinausgehende Auswirkungen jenseits des gemeinschaftlichen Kompetenzbereichs haben, anstatt mit eben letzterer Begründung auf derartige Maßnahmen zu verzichten. Dabei ergeben sich jedoch an bestimmten Punkten größere Widerstände als an anderen, so daß auch bei gleichermaßen bestehenden Policy- Interdependenzen derartige ‚Spill-over’ -Möglichkeiten nicht immer ausgenutzt werden; denn, so Ernst B. Haas:
„the functionalist who relies on gradualism and indirection in achieving his goal must choose a strategy that will unite many people and alienate few. He can only move in small steps and without a clear logical plan, because if he moved in bold steps and in masterful fashion he would loose the support of many. He must make decisions 'incrementally', often in a very untidy fashion. The more pluralistic the society in which he labors, the more groups there are that require satisfaction and the more disjointed and incremental the decision-making process will be.“[177]
Die Widerstände sind in den meisten Fällen geringer, solange nur wenige Akteure an der Politikformulierung beteiligt sind und nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung von den entsprechenden Policies betroffen ist.[178] Dann können in der Tat einige wenige ‚Experten’ in segmentierten Netzwerken – die jeweiligen Policy -Spezialisten in Bürokratie, politischen Ausschüssen, Verbänden und ggf. Wissenschaft – von der Öffentlichkeit weitgehend unbehelligt aus den diskutierten wissenschaftlichen Argumenten ‚Sachzwänge’ herleiten und ihre Tätigkeit in kleinen Schritten auf ein neues Politikfeld ausdehnen:
[...]
[1] Kowalsky 1999, S. 13, Anm. 10.
[2] Thibaut 1998, S. 598.
[3] Nach diesem Verständnis jedoch fallen unter den Begriff der 'Sozialen Dimension' nicht nur Policy-Bereiche wie -entsprechend der Gliederung im EGV (Fassung von Amsterdam)- Beschäftigung (Titel VIII.), Sozialpolitik, allgemeine berufliche Bildung und Jugend (Titel XI.), Gesundheitswesen (Titel XIII.) und Verbraucherschutz (Titel XIV.), sondern auch alle Maßnahmen im Rahmen anderer EU-Politikbereiche, sofern sie Auswirkungen haben, für die die obige Definition von Sozialpolitik gilt.
Insofern läßt sich beispielsweise in Politikbereichen wie der Regional- und Strukturpolitik sowie der Landwirtschaftspolitik, aber auch der Freizügigkeit der Arbeitnehmer von einer ' impliziten Sozialpolitik ' sprechen, wenn die politischen Maßnahmen unter anderem Einkommenstransfers beinhalten oder die besondere Stellung von Arbeitsmigranten gegenüber den staatlichen Systemen der sozialen Sicherheit regeln.
Des weiteren hat eine Vielzahl politischer Maßnahmen möglicherweise Auswirkungen im Sinne der obigen Definition, die jedoch nicht deren intendierter Zweck, sondern allenfalls ein 'Nebenprodukt' sind. Beispiele hierfür wären:
- die bessere Vergleichbarkeit der Verbraucherpreise in einer einheitlichen Währung: da sie ein strukturell die Verbraucher benachteiligendes Informationsdefizit beseitigt, ist sie zwar eine sozialpolitisch relevante Folge der Währungsunion; neben deren zentralen Zielen wie der Verhinderung EU-interner Wechselkursschwankungen und dem Abbau von Transaktionskosten ist sie jedoch nur von marginaler Bedeutung;
- Preissenkungen durch die Aufbrechung früherer Monopole: gegenüber einem Monopolisten befinden sich Verbraucher in einer eindeutig nachteiligen wirtschaftlichen Situation.
[4] Hervorhebungen PT.
[5] Engel 1995, S. 299.
[6] Vgl. die vorangehende Anmerkung 3.
[7] Leibfried/Kodré 1996, S. 245. – Entsprechende formuliert die Aufgabe und Funktion der Strukturfonds auch Anderson (1998, S. 158f): „Durch eine Korrektur der vom Markt erzeugten Ungleichheiten soll die räumliche Verteilung von Lebenschancen beeinflußt werden. Doch die Strukturfonds unterscheiden sich in Inhalt und Begründung von einer anspruchsorientierten Sozialpolitik, deren Subjekte die Bürger sind. ESF und EFRE legen die förderungswürdigen, aber nicht die anspruchsberechtigten Nutznießer unter jenen funktionalen Akteuren – Arbeit, Kapital und lokale Gemeinwesen – fest, die sich in einer für Hilfsmaßnahmen bestimmten Region befinden. [...] Das Territorialitätsprinzip bei der Verwaltung der Fondsmittel hat [...] der Ausrichtung des ESF entgegengewirkt, sich stärker an sozialen Rechten der Bürger zu orientieren.“
[8] Mayer 2000, S. 23. – Vgl. auch Scharpf 1985, S. 331.
[9] Dies gilt für die ESF-Mittel ebenso wie für Mittel aus verschiedenen anderen EU-‚Fördertöpfen’. Beispielsweise habe ich selbst während eines Praktikums im EP die Erfahrung gemacht, daß die Kommission auf die schriftliche Anfrage eines Europaabgeordneten nicht einmal annähernd darüber Auskunft geben konnte, wieviel Fördermittel der EU insgesamt innerhalb eines festen Zeitraumes in ein bestimmtes Bundesland fließen, teilweise auch nicht darüber, wie die Mittel innerhalb dieses Bundeslandes verteilt und für welche Projekte sie ausgegeben wurden.
Gerade bei den Mitteln des ESF war nur zu erfahren, wie die insgesamt nach Deutschland (!) fließenden Mittel auf die verschiedenen Förderziele verteilt waren. Bereits bei der Frage nach den Anteilen der Bundesländer bei der Verteilung auf die festgelegten Zielgebiete (in diesem Fall Ziel-2- und Ziel-5b-Gebiete entsprechend der bis 1999 geltenden Einteilung) mußte die Kommission teilweise darauf verweisen, daß ihr über die in nationaler Zuständigkeit verteilten Mittel keine Informationen vorlägen.
[10] Vgl. z.B. Kowalsky 1999, S. 245-250; Leibfried/Kodré 1996, S. 245.
[11] Tschirner 1998.
[12] „ Entscheidungsprozedurale Policy regelt den Ablauf und die relativen Entscheidungsanteile von Gruppen und Personen, im Rahmen eines Entscheidungsprozesses.“ (Windhoff-Héritier 1987, S. 173 (Hervorhebung im Original).)
[13] Pierson / Leibfried 1998b, S. 423.
[14] Leibfried / Pierson 1996, S. 203.
[15] Zwar ist die für die klassische Industriegesellschaft gemachte Annahme eines weitgehend homogenen Produktionsfaktors ‚körperliche Arbeit mit niedrigen Qualifikationsanforderungen’ heute durch die weit fortgeschrittene Spezialisierung und hohe Anforderungen an erworbene Fähigkeiten und Qualifikationen weitgehend überholt. Die Tatsache, daß der herkömmliche Markt für menschliche Arbeitskraft zumindest teilweise durch einen Markt für den Produktionsfaktor ‚Humankapital’ ersetzt worden ist, bedeutet jedoch noch lange nicht, daß die im folgenden zitierten Ausführungen Polanyis obsolet geworden sind – ganz im Gegenteil, wie beispielsweise der Umgang mit Arbeitsschutznormen, Arbeitszeitregelungen oder Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der ‚New Economy’ zeigt.
[16] Polanyi 1944/1978, S. 242f.
[17] Kowalsky 1999, S. 26.
[18] Vgl. dazu z.B. Falkner 2000, S. 284.
[19] Ein 'Paradebeispiel' für einen derartigen Tausch der Form 'Investition gegen Beschneidung von Arbeitnehmerrechten' stellt die Produktionsverlagerung der Firma Hoover (Haushaltsgeräte) aus Frankreich nach Schottland dar, die in den 90er Jahren in Frankreich großes Aufsehen erregte. (Vgl. dazu Lefresne 1993.)
[20] Leibfried/Kodré 1996, S. 248.
[21] Vgl. Pierson / Leibfried 1998a, S. 38.
[22] Keller 1997, S. 174.
[23] Kowalsky 1999, S. 31.
[24] Platzer 1999, S. 176.
[25] Vgl. Kowalsky 1999, S. 31.
[26] Vgl. Scharpf 1996, S. 15.
[27] Ein entscheidender Schritt auf dem Wege der negativen Integration war das ‚ Cassis de Dijon ’-Urteil von 1979, mit dem der EuGH das ‚Prinzip der gegenseitigen Anerkennung’ durchsetzte: Demnach darf ein Mitgliedstaat die Einfuhr von Produkten aus anderen Mitgliedstaaten nicht von der Erfüllung eigener technischer Produktionsstandards o.ä. abhängig machen, sofern die Produkte in ihrem Herkunftsland nach den dort geltenden Vorschriften erzeugt wurden. (Vgl. Weidenfeld/Wessels 2000, S. 97, 357, 402.)
[28] Leibfried/Kodré 1996, S. 248; vgl. auch Kowalsky 1999, S. 14f.
[29] Platzer 1999, S. 177 (Hervorhebung im Original).
[30] Herrmann 1997, S. 77 (Hervorhebung PT).
[31] Streeck 1998, besonders S. 403ff.
[32] Streeck 1998, S. 403.
[33] Scharpf 1996, S. 15 (Hervorhebung PT).
[34] Jacques Delors (zitiert nach: Eichener 2000, S. 15) in Anspielung auf objet volant non-identifié (OVNI), die französische Bezeichnung für UFO.
[35] Dazu s.u., 2.1.4.
[36] Dazu s.u., 2.3.1.
[37] Dazu s.u., 2.3.3. und 4.1.2.
[38] Pierson / Leibfried 1998a, S. 20.
[39] Pierson/ Leibfried 1998a, S. 12 (Hervorhebung PT).
[40] Vgl. Richardson 1996b, S. 3f.
[41] Hooghe, Lisbet (1995): „The European Union and Multi-level Governance in Practice“, zitiert nach: Falkner 1998, S. 18.
[42] Schumann 1994, S. 93.
[43] Zu Konflikten zwischen ‚Domänen’ sind z.B. Kompetenzkonflikte zwischen Ressortbürokratien oder zwischen Staat und Tarifpartnern zu zählen.
[44] Schumann 1994, S. 93.
[45] Art. 5 Satz 2 EGV.
[46] Zur zumindest in den vertraglichen Bestimmungen vorgesehenen Stärkung der Rolle der Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs bis hin zur ‚verhandelten Gesetzgebung’, s.u., 3.2.4.
[47] Däubler 1996, S. 150.
[48] Däubler 1996, S. 150. - Zu den sozialpolitischen Kompetenzen der EU und ihren Grenzen, s.u. 3.3.2, für den Überblick: Tabelle 3-1.
[49] Kommission 1995a, S. 8 (Hervorhebung PT).
[50] Streeck 1998, S. 397.
[51] Traxler / Schmitter 1994, S. 47 (Hervorhebungen PT).
[52] Eine Ausnahme hiervon sind Einheiten mit einem Sonderstatus, wie sie auch in herkömmlichen Mehrebenensystemen teilweise existieren. Zwar gibt es solche ‚besonderen’ Einheiten nicht in Deutschland, aber beispielsweise in den USA – mit auch untereinander sehr unterschiedlichem, von dem der Bundesstaaten abweichendem Status – einerseits den District of Columbia, andererseits Puerto Rico. Am häufigsten gibt es solche ‚besonderen’ Einheiten jedoch in traditionell zentralistischen Staaten, wenn diese für bestimmte Gebiete beispielsweise Autonomieregelungen schaffen (z.B. Korsika, Schottland, Südtirol, die Azoren etc.).
[53] Vgl. hierzu Kowalsky (1999, S. 23, Anm. 53):
„Die Perspektive des Links-rechts-Gegensatzes rekonstituiert politische Freiheitsräume, indem sie ein Spektrum alternativer Europa-Entwürfe - jenseits des globalen Für oder Wider Europa - in die Diskussion einbringt, zwischen denen Wahlmöglichkeiten bestehen jenseits der vertikalen Perspektive. [...] Eine Quelle des vielzitierten Demokratiedefizits rührt aus der Unfähigkeit der institutionellen Konstruktion, interne Konflikte und Alternativrepräsentation darzustellen, Richtungsdebatten zu führen und Richtungsentscheidungen darzustellen.“
Außerdem zu diesem Punkt: Kowalsky 1997, S. 104ff und 146ff.
[54] Hierzu s.u., 4.3.
[55] Marks / McAdam 1996, S. 119.
[56] Leibfried / Pierson 1996, S. 204.
[57] Leibfried / Pierson 1996, S. 204.
[58] Vgl. Pierson/ Leibfried 1998a, S. 22f.
[59] Vgl. EU-Nachrichten, 22.10.1997, S. 2f.
[60] Le Monde diplomatique, 1/1999, S. 5 (Übersetzung PT).
[61] Pierson / Leibfried 1996, S. 22f.
[62] Schmitter 1996a, S. 5.
[63] Vgl. dazu Giering 1997, S. 259f.
[64] Titel VII EUV n.F., Art. 11 EGV n.F.
[65] Dazu s.u., 4.3.4.
[66] Europäische Zeitung, 11/1998, S. 1.
[67] S.u., Kapitel 3, insbesondere 3.4.
[68] Windhoff-Héritier 1987, S. 21ff.
[69] Windhoff-Héritier 1987, S. 22.
[70] Windhoff-Héritier 1987, S. 22.
[71] Windhoff-Héritier 1987, S. 25.
[72] Windhoff-Héritier 1987, S. 26.
[73] Windhoff-Héritier 1987, S. 173.
[74] Windhoff-Héritier 1987, S. 173.
[75] Windhoff-Héritier 1987, S. 35ff.
[76] Windhoff-Héritier 1987, S. 39.
[77] Windhoff-Héritier 1987, S. 175 (Hervorhebung im Original).
[78] Windhoff-Héritier 1987, S. 64-114.
[79] Windhoff-Héritier 1987, S. 67.
[80] Vgl. Schumann 1994, S. 96.
[81] Vgl. Windhoff-Héritier 1987, S. 68.
[82] Vgl. ebd., S. 69ff. – Selbst für die nationalen politischen Systeme nimmt Windhoff-Héritier einen nur geringen Anteil ‚neuer’ Themen auf der politischen Agenda an, gegenüber einer großen Zahl routinemäßig behandelter, regelmäßig oder unregelmäßig wiederkehrender, also ‚alter’ oder ‚zyklischer’ Themen an. Gerade in der EU, in der die Unionsebene überhaupt nur für bestimmte Segmente der politischen Agenda zuständig ist, gilt hier eine starke Pfadabhängigkeit gegenüber früheren Entscheidungen, z.B. die Dominanz der Landwirtschaftspolitik, insbesondere auch in der Feststellung des Haushalts (Stichwort „obligatorische Ausgaben“). Dagegen stellt die dauerhafte Hineinnahme eines Policy-Problems oder eines ganzen Problembereichs in die Agenda eine Besonderheit dar, die weithin Aufmerksamkeit erregt.
[83] Schumann 1994, S. 97.
[84] Vgl. Richardson 1996b.
[85] Windhoff-Héritier 1987, S. 74.
[86] Scharpf 1985, v.a.S. 337ff.
[87] Windhoff-Héritier 1987, S. 84.
[88] Dies gilt in der EG/EU insbesondere für die Gleichstellungspolitik: Hier beinhaltete der EG-Vertrag zwar von Vornherein den Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit, ohne jedoch eine Kompetenz der Gemeinschaft für Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Grundsatzes zu begründen. Gerade in diesem also zunächst sehr unbestimmten Bereich der EG-Sozialpolitik hat der Europäische Gerichtshof auch und vor allem deshalb eine so bedeutende Rolle erhalten. Diese kann jedoch in der vorliegenden Arbeit, deren Schwerpunkt auf der Politikformulierung durch politische und wirtschaftliche Akteure liegt, nicht behandelt werden. (Zur Begründung der Auswahl der berücksichtigten Akteure: 2.2.2.3.)
[89] Eine Ausnahme hiervon stellen allenfalls Staaten dar, in denen sehr unterschiedliche Kulturen und Entwicklungsniveaus nebeneinander existieren, wie z.B. China, Indien oder auch Brasilien.
[90] Vgl. Windhoff-Héritier 1987, S. 85.
[91] Eichener/Voelzkow 1994b, S. 19f.
[92] Mayntz 1993, S. 39.
[93] Vgl. Mayntz 1993, S. 40.
[94] Mayntz 1993, S. 41.
[95] Windhoff-Héritier 1987, S. 46.
[96] Vgl. Richardson 1996b, S. 10.
[97] Vgl. Mayntz 1993, S. 44f.
[98] Vgl. Mazey/ Richardson 1996, S. 200.
[99] Im Gegensatz zu Wettbewerb als Handlungslogik in Marktsituationen und Autorität und Gehorsam in Hierarchien. (Vgl. Mayntz 1993, S. 45.)
[100] Vgl. Mayntz 1993, S. 46ff.
[101] S.u., Abschnitt 4.1.
[102] Vgl. Windhoff-Héritier 1987, S. 50.
[103] Windhoff-Héritier 1987, S. 81 (Hervorhebung PT).
[104] Bach 1994, S. 126.
[105] Richardson 1996b, S. 11.
[106] Vgl. Richardson 1996b, S. 19.
[107] Art. 137 (4) EGV n.F.
[108] Diese Kofinanzierung ist m.E. den „Gemeinschaftsaufgaben“ von Bund und Ländern in Deutschland durchaus vergleichbar. Auch hier bietet die obere Ebene der unteren Ebene Mittel zur Verwirklichung von gemeinsam geplanten und finanzierten Projekten an; da bei der Planung jedoch offenbar ein struktureller Machtvorteil zugunsten der oberen Ebene besteht, wurde dieses Finanzierungssystem im Bund-Länder-Verhältnis in Deutschland bereits häufig als „Angebotsdiktatur“ der oberen gegenüber der unteren Ebene kritisiert (Vgl. z.B. Laufer/Münch 1998, S. 263ff).
[109] Marks / McAdam 1996, S. 103 (Übersetzung PT).
[110] Schumann 1994, S. 91f.
[111] Wallace, W. 1996, S. 449.
[112] Héritier 1993b, S. 435.
[113] Vgl. Eichener/Voelzkow 1994b, S. 13.
[114] Schmitter 1996a, S. 5.
[115] Schmitter 1996a, S. 6.
[116] Mit Ausnahme des französischen Staatspräsidenten, der zumindest in einer Situation der Cohabitation als individueller Akteur zu betrachten ist, da er aus der Arbeit des Ministerrates weitgehend ausgeschlossen ist. Zu dieser institutionellen Besonderheit s.u., 4.3.3.3.
[117] Z.B. nicht bei Schumann 1993, S. 396.
[118] Kowalksy 1999, S. 32.
[119] Kowalsky 1999, S. 32.
[120] Kowalsky 1999, S. 26.
[121] Ziebura, Gilbert 1992: „Nationalstaat, Nationalismus, supranationale Integration: Der Fall Frankreich“, zitiert nach: Kowalsky 1997, S. 162.
[122] Interessant wäre natürlich auch die Behandlung eines umfangreicheren Samples, gerade auch mit, z.B. hinsichtlich ihrer Größe oder ihres Entwicklungsniveaus, unterschiedlicheren Mitgliedstaaten. Dies ist jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich.
[123] Schmitter 1996a, S. 13.
[124] Hrbek 1996b, 300.
[125] Hrbek 1996b, 301.
[126] Vgl. z.B. Kommission 1995b.
[127] Vgl. Eichener/Voelzkow 1994b, S. 14.
[128] Vgl. dazu Weinmann 1999. - S.u. 4.2.2.
[129] In Großbritannien dürften zudem aufgrund der starken Konzentration der Medienlandschaft die Interessen Murdochs eine besondere Rolle spielen, zumal kaum ein anderer Medienkonzern so dezidiert zur, bzw. gegen die Integrationspolitik Stellung bezieht. Nonnenmacher (1997, S. 165ff) spricht von bewußter „Panikmache“ (S. 166) durch „Euro-Mythen“ (S. 166 passim), die von angeblichen EU-weiten Verboten von historischen Dampfzügen, Kräutertee, krummen Gurken etc. über Einheitsgrößen für Kondome und Weihnachtsbäume bis hin zu absurden Vorschriften wie einer Haarnetztragepflicht für Fischer oder der Klassifizierung von Schnecken als „landgestützte Fische“ (S. 167) reichen. Fraglich wäre in der Tat, weshalb Teile der britischen Presse – und nicht nur der Regenbogenpresse – die abenteuerlichsten Geschichten über die EU verbreiten und damit selbst erst das europafeindliche Klima schaffen, das sie anschließend mit ihrer „Brüssel“-Kritik bedienen und weiter anheizen. Welche Interessen oder andere Handlungsmotivationen können dahinter vermutet werden? Erstaunlich ist dabei vor allem, daß selbst seriöse Blätter wie die Times teils kuriose „Enten“ drucken, ohne dabei ihre Reputation oder ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen, obwohl doch eigentlich gerade diese Gefahr sie aus wirtschaftlichem Interesse davon abhalten müßte, zumal die Dementis durch das Foreign Office – auch unter der konservativen Regierung – oder durch die Londoner EU-Vertretung in der Regel nicht lange auf sich warten lassen. (Nach ebd., S. 166ff.) Schon allein anhand der Fülle des Stoffes zu diesem Thema könnte diese Frage jedoch Gegenstand einer eigenen Arbeit sein.
[130] Windhoff-Héritier 1987, S. 68f.
[131] Nach: Bienen/Freund/Rittberger 1999, S. 25f.
[132] Sabatier 1993, S. 130 passim.
[133] Sabatier 1993, S. 130.
[134] Sabatier 1993, S. 132.
[135] Vgl. Sabatier 1993, S. 137ff. – Interessant ist in diesem Zusammenhang die bereits genannte Fallstudie über den europapolitischen Lernprozeß der britischen Labour Party und der Gewerkschaften von Weinmann (1999), von der in den Abschnitten 4.2.2. und 4.3.4. noch die Rede sein wird.
[136] Vgl. u.a. Schmitter 1996a, S. 5; Van Schendelen 1993b, S. 5ff; besonders: Van Schendelen 1993c.
[137] Vgl. Kirchheimer 1965.
[138] Windhoff-Héritier 1987, S. 72.
[139] Windhoff-Héritier 1987, S. 72.
[140] Vgl. Bienen / Freund / Rittberger 1999, S. 17.
[141] Bienen / Freund / Rittberger 1999, S. 18.
[142] Vgl. ebd.
[143] Wenn in den EU-Mitgliedstaaten die Forderung nach der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips erhoben wird, müssen die dahinter stehenden Interessen genauer untersucht werden: In Großbritannien, aber auch in Frankreich, sind es vor allem politische Akteure der nationalen Ebene, die eine Rückverlagerung oder eine Begrenzung der EU-Kompetenzen fordern, während in Deutschland vor allem von der Seite der Länder ein „Mehr“ an Subsidiarität eingefordert wird, wenn es um EU-Kompetenzen in Bereichen geht, die in die Zuständigkeit der Länder fallen oder in denen diese zumindest wichtige Mitbestimmungsrechte haben.
Außerdem muß beachtet werden, welche Interessen jeweils im Einzelfall hinter der „Brüssel“-Kritik stehen, die sich vordergründig auf das Subsidiaritätsprinzip beruft, z.B. die Interessen der deutschen Medienkonzerne Kirch und Bertelsmann im Fall von wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen gegen deren Fusion oder die Interessen der Krankenversicherungen im Fall des EuGH-Urteils, nach dem diese auch Leistungen ausländischer Anbieter in Deutschland bezahlen müssen. In beiden Fällen wurde die Kritik, die ursprünglich von einzelnen Unternehmen ausging, auch von politischen Akteuren aufgegriffen (vgl. EUmagazin, 10/1998, S. 16ff), wobei genauer untersucht werden müßte, ob daraus und aus weiteren ähnlichen Fällen eine generelle Tendenz zu geringerer Integrationsbereitschaft im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich resultiert.
[144] Scharpf 1996, S. 20.
[145] Fraglich ist hierbei unter (c), inwieweit politische Akteure die Erwartungen bestimmter Wählergruppen besonders berücksichtigen, weil sie diese z.B. als Stammwähler betrachten, die sie auf keinen Fall verlieren wollen, oder ob nur die ‚Stimmung’ in der gesamten Wählerschaft ausschlaggebend ist, im Sinne der bereits angesprochenen ‚ catch all ’-Strategie der idealtypischen Volkspartei.
[146] Schmitter weist auf einen wichtigen Gewöhnungs- und/oder Lernprozeß hin, den die nationalen Akteure im Zusammenhang mit dem Integrationsprozeß durchlaufen haben:
„This impressive expansion in the number and variety of EC activities has meant a vast increase in the frequency with which national representatives meet, e.g. the Council of Ministers in its various guises meets over one hundred times a year and the quantity of national expert reunions runs well into the thousands. And this seems to have induced important learning effects in the ranks of these representatives and even to have resulted in shifts in conceptions of national interest which may have been more important than the upward shift to regional interest politics predicted by neo-functionalists.“ (Schmitter 1996a, S. 11 (Hervorhebungen im Original).)
Neben dem Verständnis des ‚nationalen Interesses’ habe sich dabei tendentiell auch das Selbstverständnis vom Vertreter eben dieser nationalen Interessen zum ‚Zwei-Ebenen-Spieler’ gewandelt.
[147] Dem Interesse der Dachverbände bzw. ihrer Funktionäre, in den sozialpartnerschaftlichen Entscheidungsprozeß eingebunden zu werden, um in dem sich herausbildenden Euro-Korporatismus an Einfluß zu gewinnen, steht jedoch das Interesse der Mitglieder auf Partizipation und Vertretung 'ihrer' Positionen möglicherweise entgegen. Dieses Dilemma formulieren Traxler und Schmitter folgendermaßen:
„Verbände können auf Dauer nur bestehen, wenn es ihnen gelingt, ihre Politik gleicherweise legitim und effektiv zu halten. Ihre Legitimität bemißt sich vor allem an ihrer Fähigkeit, relevante Interessen ihrer Mitglieder aufzugreifen und als anerkanntes Repräsentationsorgan in politikfähige Ziele zu transformieren. Die Effektivität der Verwirklichung dieser Ziele ist primär eine Frage realitätsgerechter Einflußnahme auf die maßgebenden Gesprächspartner. Das Dilemma liegt dabei in dem Umstand, daß effektive Einflußnahme und legitimitätssichernde Mitgliederintegration widersprüchliche Anforderungen an die Verbände stellen [...].“ (Traxler/ Schmitter 1994, S. 45.)
[148] Zu dieser Gleichsetzung, s.u., 3.3.1.1.
[149] Scharpf 1996.
[150] Dazu s.u., 4.3.1.
[151] Diese Zielvorstellung „soziale Gerechtigkeit“ kann durchaus auch allein auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränkt sein. Auch dann jedoch kann, wie in Abschnitt 2.1.1. bereits angesprochen, ihre Verwirklichung, gerade im Kontext fortschreitender wirtschaftlicher Integration, von supranationaler Sozialpolitik abhängen. Somit besteht kein Widerspruch zwischen der hier gemachten Annahme (8) und der Diagnose Schmitters, der davon ausgeht, daß in der EU keine ausgeprägte zwischenstaatliche Solidarität existiert:
„The actors in the process of European integration will, for the foreseeable future, remain independent in the formation of their preferences and disregarding of the welfare of each other. In other words, the basic problem is how to make 'Europe without Europeans'.“ (Schmitter 1996a, S. 3.)
[152] Dazu s.u., 3.2.3.
[153] Vgl. Schumann 1994, S. 87.
[154] Streeck / Schmitter 1985: „Private Interest Government: Beyond Market and State“, zit. n.: Czada 1992, S. 218.
[155] Zur autonomen Rechtsetzungskompetenz der Kollektivvertragspartner im Rahmen der ‚verhandelten Gesetzgebung’, s.u., 3.2.4.3.
[156] Vgl. Traxler / Schmitter 1994, S. 55ff.
[157] Vgl. hierzu beispielsweise Bienen / Freund / Rittberger 1999, S. 29ff mit weiteren Verweisen.
[158] Traxler / Schmitter 1994, S. 55.
[159] Traxler / Schmitter 1994, S. 59.
[160] Traxler / Schmitter 1994, S. 60.
[161] Traxler / Schmitter 1994, S. 60f. – Im Fall der Haltung der UNICE zu kollektivvertraglichen Vereinbarungen mit dem EGB läßt sich hier sogar weitgehend sagen: weder interessiert noch befähigt.
[162] Sabatier 1993, S. 121.
[163] Sabatier 1993, S. 116ff.
[164] Richardson (1996b, S. 11ff) spricht von „garbage can politics“ als einer ersten Stufe der Politikformulierung in Politiknetzwerken wie dem der EU: zunächst einmal werden Themen, Vorschläge oder Forderungen eher testweise und diskret in einschlägigen Entscheidungsarenen lanciert, in denen sich dann in der noch unverbindlichen Diskussion herauskristallisiert, welche ursprünglich nur angedeuteten Ideen ernsthaft verfolgt und konkretisiert werden, während die übrigen (d.h. die meisten!), wenig erfolgversprechenden Ideen, Initiativen etc. ohne größeren Schaden wieder von der Bildfläche verschwinden.
Ausgehend von diesem Modell erklärt Richardson seine Beobachtung, daß es oft sehr schwierig sei, den Ursprung von Ideen auszumachen, die in der EU erst vage in der Luft lägen – bzw., wie Richardson es ausdrückt, in einer politischen „Ursuppe“ („primeval soup“, Richardson 1996b, S. 16) herumschwämmen – , bevor sie im Laufe der Diskussionen dann konkretisiert würden oder wieder verschwänden. Die Entscheidung eben gerade darüber ist jedoch auch in einem nicht hierarchisch gegliederten Politiknetzwerk nicht dem Zufall unterworfen: „One reason why the process is not random is, of course, that policy problems and policy ideas attract coalitions of actors.“ (Richardson 1996b, S. 17 [Hervorhebung PT].)
[165] Daß bestimmte Akteure in extremen Konfliktkonstellationen untereinander nicht ‚koalitionsfähig’ sind, kann in den hier untersuchten EU- Policy -Netzwerken weitgehend vernachlässigt werden. Anders stellt sich beispielsweise die Situation in umweltpolitischen Netzwerken dar, in denen auch dann, wenn es z.B. um die Verringerung von CO2-Emissionen geht, eine strategische Koaliton zwischen Greenpeace und der Kernenergielobby ausgeschlossen scheint.
[166] Beides hat gegenläufige Auswirkungen auf die Position der Regierungsakteure:
„The very fact that EU policy-making is a collective exercise involving large numbers of participants, often in intermittent and unpredictable 'relationships', is likely to re-enforce the process by which national autonomy is being eroded. [...] We can therefore expect to see the emergence of two apparently contradictory trends. First, the need to construct complex transnational coalitions of actors will force all actors to become less focused on the nation states as the 'venue' for policy-making. Just as many large firms have long since abandoned the notion of the nation state, then so will other policy actors; they will seek to create and participate in a multi-layered system of transnational coalitions. Second, the 'politics of uncertainty' will lead national governments and national interest groups to try to co-ordinate their Euro-strategies [...]. In that sense, Euro-policy-making may bring them closer together.“ (Richardson 1996b, S. 18f.)
[167] Richardson 1996b, S. 12.
[168] Windhoff-Héritier 1987, S. 70.
[169] Mazey / Richardson 1996, S. 200.
[170] Schumann 1994, S. 82.
[171] Dazu s.u., 3.2.4. und 4.2.
[172] Mayntz 1993, S. 45.
[173] Mayntz 1993, S. 45.
[174] Kowalsky 1999, S. 49.
[175] Hrbek 1996a, S. 26.
[176] Cram 1996, S. 44f.
[177] Haas 1968, S. xxiv.
[178] Eine Ausnahme stellt hiervon wohl die Agrarpolitik dar: Die Einkommenssicherung für die Landwirte betrifft zwar als solche nur eine verhältnismäßig kleine Bevölkerungsgruppe, die aber über eine – unter anderem wegen ihres hohen Organisationsgrades, ihrer straffen Hierarchien und ihrer, zumindest in einigen EU-Mitgliedstaaten, hohen Konfliktbereitschaft – äußerst durchsetzungsfähige Interessenvertretung verfügt. Außerdem richten sich hier die Widerstände ja nicht gegen die EU-Agrarmarktordung, sondern vielmehr gegen ihre eventuelle Änderung.
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