Die Arbeit versucht Nachweise dafür zu finden, dass das Italienische Madrigal seine ersten wichtigen Ansätze bereits noch vor den 1520er Jahren bei einem heute fast unbekannten Florentiner Meister gefunden hat und nicht erst von Philippe Verdelot und weiteren dort ansässigen Nordeuropäern völlig neu konzipiert wurde. Viele Hinweise drängen sich auf, dass Pisano das Madrigal zumindest entscheident vorgeprägt hat.
Inhalt
Einleitung
1. Die Entstehung des Madrigals - Forschungsgeschichte
2. Die Werke im Überblick
3. Texte
3.1. Thematik
3.2. Textdichter
3.3. Formen
4. Musikalische Darstellung
4.1. Text und musikalische Form
4.2. Die musikalische Figur
4.3. Satztechnische Darstellungsmittel
4.4. Die rhythmische Behandlung des Verses
4.5. Melodiebildung
4.6. Madrigalismen
5. Satzstruktur
5.1. Tonart
5.2. Imitation
5.3. Klangstruktur
5.4. Kadenzen
6. Einzelanalysen
6.1. „Chiare, fresche, e dolci acque“
6.2. “Son io, donna”
Schluss
Bibliographie
Einleitung
1520 erschien bei Petrucci - dem Erfinder des Notendrucks, der mit seiner Druckwerkstatt mittlerweile von Venedig nach Fossombrone zog - ein Band, der in mehrfacher Hinsicht einen Bruch markiert. Die „Musica di meser Bernardo Pisano sopra le canzone del Petrarca“ ist der erste Musikdruck, der sich einzig und allein einem einzigen gebürtigen Italiener widmet. Zudem wurde damit zum ersten Mal ein musikalisches Werk in einzelnen Stimmbüchern herausgegeben und Petrucci beschloss mit diesem, seinem letzten Druck sein Arbeitsleben.
Die vorliegende Arbeit will sich mit der Entstehung des Madrigals in Florenz zu Beginn des 16. Jahrhunderts auseinander setzen. Dabei soll am konkreten Beispiel der weltlichen Vokalwerke Bernardo Pisanos erörtert werden, wo Pisano innerhalb des Entstehungsprozess im Übergang von einer Gattung - von welcher auch immer - in die des Madrigals, (der Pirotta zufolge so kurz sei, um eine Entwicklung genannt zu werden), eingeordnet werden kann und ob dies überhaupt möglich ist.1 Darauf, inwiefern sich Pisanos Kompositionen vom nichtöffentlichen weltlichen Repertoire seiner Zeit in Florenz, etwa von dem eines Alessandro Coppini bis zu dem Philippe Verdelots abheben und inwieweit er bereits als Madrigalist gelten kann, soll diese Arbeit diese Arbeit Antwort geben.
Seltsam mag anmuten, dass alle erhaltenen Werke Pisanos bereits vor 1520 geschaffen wurden. Noch ist kein Dokument gefunden worden, das belegt, ob und was er in seinen letzten immerhin 28 Jahren komponiert hat.2
Nirgendwo lässt sich Forschungsgeschichte schöner dokumentieren als über die Entstehung dieser Gattung. Ist Rubsamen 1961 noch Einsteins These - die außerdem noch einen Einfluss der geistlichen Motette sieht - von der Genese des Madrigals aus der Frottola gefolgt, wird dies spätestens seit 1969 bei Osthoff und weiterhin bei Anderen widerlegt.3 Jedoch kommt Pirrotta 1994 wieder zurück zu einem dem Ersteren ähnlichen Ansatz, dass sich das Madrigal aus einer Subform der Frottola, der barzelletta oder frottola-barzelletta, die in Florenz statt der gewöhnlichen Frottola praktiziert worden sein soll, entwickelt habe.4 In dem einen Punkt war die Forschung sich immer einig, dass sich das Madrigal zuerst in Florenz
herausgebildet habe, anschließend über den Umkreis der Medici-Päpste nach Rom gelangt sei und sich danach über die gesamte Halbinsel ausgebreitet habe.
Für die Analyse, die sich nur auf die Stücke beschränken soll, deren Echtheit als gesichert angesehen werden kann, habe ich mich strukturell auf Hans Muschs Monographie gestützt, die Einzelwerke von Costanzo Festa, eines Zeitgenossen Pisanos nach verschiedenen Parametern wie Textbehandlung, musikalische Form und Satzstruktur behandelt.5 Viele Parallelen zwischen Festas und Pisanos Arbeitsweise können dabei festgestellt werden. An die systematische Untersuchung von „Dé, perchè in odio mai“ schließen sich die Einzelanalysen zweier weiterer Stücke Pisanos an, die die aufgeworfenen Thesen bekräftigen sollen. Würde die These bekräftigt, Pisano als den eigentlichen Vorreiter des Madrigals annehmen zu müssen, wofür bislang nur die Frankoflamen angesehen wurden, bedeutete es, dass nicht die alten Niederländer Verdelot und Acadelt, sondern ein gebürtiger Italiener das Madrigal entworfen hätte. Wenn man mal außer Acht lässt, dass die beiden italienischen Festa-Brüder (Costanzo und Sebastiano) ebenfalls als daran beteiligt zu sein gelten, könnte diese Vermutung die herkömmlichen Entwürfe von Musikgeschichte leicht ins Wanken bringen.
1. Die Entstehung des Madrigals - Forschungsgeschihte
Erstmals bezeugt ist der Gebrauch des Wortes Madrigal in einer Aufforderung Cesare Gonzagas an Marchetto Cara in einem Brief an seine Gattin, ihm ein “madrigaletto” zu komponieren, in der Hoffnung, der “canto” könne ihm die Unzulänglichkeit der “parole” wettmachen.
Einstein zufolge sei das Madrigal keine Erfindung, sondern gewachsen in einem Schaffensprozess, an dem eine ganze Musikergeneration beteiligt gewesen sei. Sein Stil sei aus dem Zerfall oder der Auflösung der Frottola um des musikalischen Ausdrucks willen entstanden, indem mehrstimmige bzw. fast mehrstimmige Phrasen in die Frottola eindrangen.6 Der Druck von Pisanos Musica, der Einsteins Kenntnisstand zufolge gleichzeitig mit dem letzten Frottolenband Tromboncinos und Caras erschien, habe das Ende der Frottolenproduktion (“artistic pause”) eingeleitet.7 Jedoch haben nachfolgende Forscher, insbesondere James Haar und Nino Pirrotta, nachgewiesen, dass es keine Überschneidungen zwischen den oberitalienischen Frottolisten und den Florentiner Musikern gegeben habe und das Madrigal zuerst nur in Florenz bestand.8
Osthoff sieht den Übergang zum Madrigal vor allem in seiner literarischen Seite, was musikalisch gesehen ein Widerspruch sei. Die neuen Texte seien in ihrer Diktion nun gewählter, literarisiert, petrarchisiert und vorrangig Sonette. Die ersten Komponisten, die sich den neuen, ganz freien Formen zuwandten, hätten Probleme im Umgang mit der freien Vers- und Silbenzahl, so dass sie vorerst auf Sonette zurückgriffen. In den Titeln der Übergangszeit stehe häufig Canzone statt Madrigal, wobei sich hier die Frage stelle, ob es sich um die Italianisierung des französischen “Chanson” oder eine Ableitung von cantare im einfachen Sinne von Gesang oder Lied handele. Bevor das Wort Madrigal überhaupt in einem Musiktitel erstmalig auftaucht, was erst 1535 geschehen soll, wurde er erstmals 1510 in einem Brief des Mantuaner Herzogs Gonzaga erwähnt. Die neuen Formen tauchen bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jh. auf, denn die Sonette werden sowohl auch schon von den Frottolisten wie später von den Madrigalisten zweiteilig vertont. Bemerkbar mache sich zudem ein Hervortreten der Kanzonenstrophe, die komponiert wurde wie der Strambotto. Zunehmend erkenne man ein Bewusstsein
für die Anforderungen der gehobenen literarischen Gattungen. Einerseits benötigen die neuen Formen eine andere Musik als die Barzelletten wegen ihres Inhalts, andererseits aber auch ihrer textlichen Struktur wegen. Die Musik erhalte so mehr Verantwortung dem Text gegenüber, denn die klassischen italienischen Verse bieten kein apriorisches rhythmisches Schema mehr.9
Auch Haar widerspricht dem traditionellen Standpunkt von der Entstehung des Madrigals aus der Frottola als Ergebnis gestiegener literarischer Standards, denn die Frottola sei regional auf Oberitalien, das frühe Madrigal jedoch auf Florenz beschränkt gewesen. Es könne anfangs möglicherweise mehr als eine Form des Madrigals gegeben haben. Die gebürtigen Florentiner, die vor der Ankunft Verdelots 1521 in Florenz italienische Texte vertonten, schrieben in ganz anderer Manier, die der franko-flämischen Tradition eines Heinrich Isaac entsprang statt des Verdelot’schen Chanson-Stil. Einst begann sich das neue Madrigal des Verdelot im Umfeld der Medici-Päpste in Rom auszubreiten, wo Verdelot 1523 einen Besuch machte. Costanzo Festa war dort Musiker in päpstlichen Diensten als einer der wenigen Komponisten außerhalb von Florenz, der das Madrigal zu dieser Zeit kultivierte. Im Gegensatz zur Frottola, deren Schaffen das Werk ausschließlich gebürtiger Italiener war, ist das frühe Madrigal hauptsächlich das Verdienst der oltremontani. Es sei keine Überraschung, wenn das Madrigal enger als jedes italienische Genre mit der französischen Chanson verbunden wäre. Hatte die ältere französische Generation Josquins nur spärlich italienische Texte vertont, waren die oltremontani nun regelmäßig gefragt, Musik für die italienische Dichtung zu schreiben. Von Verdelot hingegen existiert keine einzige französische Chanson, obwohl er das Genre sehr gut kannte. Arcadelt schrieb die meisten seiner Chansons erst nach seiner Rückkehr in den Norden in den 1550er Jahren. Einstein sieht seine These in den gehobenen literarischen Anforderungen begründet, wovon Haar sich nicht überzeugen kann. Tatsächlich tauchen in Petruccis frottolen-Drucken auch häufiger Sonette von Petrarca auf. Diese kamen in dieses Repertoire jedoch nicht als Modeerscheinung, sondern als Ergebnis eines Verbesserungsdrangs. Diese Art von Petrarchismus am Beginn des Jahrhunderts sei eine Art Vorspiel zum Neo-Petrarchismus der 1520er Jahre. Auch Bembos frühe Verse finden sich bereits in diesen frottolen-Drucken. Der Drang nach Petrarca-Vertonungen sei eine große Beliebtheit bei den improvvisatori (Serafino dall’Aquila) um die Jahrhundertwende gewesen. Die Musik dafür (z.B. Tromboncino) unterscheide sich kaum von jener
für bescheidenere Gedichte. Haar sehe kaum Unterschiede im Dichterischen zwischen barzelletta und Madrigal. Sozusagen sei die Dichtung des Madrigals keine Bessere als die der frottola. Zudem wurden den frühen Madrigalisten viel weniger Texte von Petrarca vertont als viel mehr anonyme Verse. Wenn die Komponisten mal auf Petrarca zurückgriffen, wählten sie seine Kanzonenstrophen, Sestinen und vier Madrigale viel häufiger als die Sonette. Das neue Repertoire sei in seiner Absicht nicht unbedingt zielstrebiger, aber anders hinsichtlich seines literarischen Charakters als das der Frottolisten. Angehörige der gebildeten Florentiner Schicht wie Lorenzo Strozzi, Niccolò Machiavelli, Ludovico Martelli schrieben Gedichte oder sammelten sie in Zyklen, die von Dichtern geschrieben wurden, die von Rom aus V
2. Die Werke im Überblick
Laut Rubsamen soll wie zum Beispiel Alessandro Coppini, Bartolomeo degli Organi und Alexander Agricola auch Pisano in Lorenzo de‘ Medicis Patronage gestanden haben und wie diese seine Kanzonen vertont haben, die im Codex Magliabechi XIX auftauchen.10 Dass Pisano Lorenzos Kanzonen nach 1500 noch komponierte, kann sicher nicht ausgeschlossen werden. Jedoch ist Lorenzo “Der Prächtige” bereits 1492 gestorben und Pisano erst zwei Jahre vor dessen Tod geboren. So waren aber die nachfolgenden Herrscher des Hauses Medici wie Giovanni de‘ Medici, vorerst Kardinal, dann Papst Leo X., der nachfolgende Giulio de‘ Medici als Clemens VII. sowie Mitglieder der Familie Strozzi seine Auftraggeber. Die falsche chronologische Einordnung taucht bereits bei Einstein auf, der Pisano ebenfalls älter glaubte als er tatsächlich war.11
Von der Musica Pisanos von 1520 sind zwei Stimmbücher (Altus und Bassus) in der Biblioteca Columbina in Sevilla erhalten. Glücklicherweise sind vollständige Abschriften in den Handschriften Basevi 2440 (Florenz, Conservatorio Musicale) und dem Codex Magliabechi XIX (Florenz, Biblioteca Nazionale) sowie Q 21 (Conservatorio Bologna) erhalten geblieben. Jedoch blieb Pisano bereits seit seinem endgültigen Weggang aus Florenz nach Rom unbekannt bis zur Wiederentdeckung der Handschrift Basevi 2440 durch Riccardo Gandolfi 1911. Kaum zu glauben, dass er von seinen Zeitgenossen hochgelebt wurde und seine spätere Vergessenheit seinem beruflichen Erfolg völlig widerstrebt. Bereits mit 21 Jahren erlangte Pisano das höchste musikalische Amt der Stadt Florenz. Er wurde 1511 Kapellmeister an der Florentiner Kathedrale und gelangte 1514 als Sänger an die päpstliche Kapelle in Rom. Insgesamt konnte D’Accone aus den erhaltenen Handschriften und dem Druck 35 Stücke ausmachen. Davon sind fünf unvollständig erhalten, da sie nur in der “Musica” auftauchen. Bei 13 Werken ist die Echtheit nicht völlig gesichert. D’Accone hat bei ihnen aus stilistischen Gründen eine Zuschreibung vorgenommen.
Pisano vertonte sowohl volkstümliche Lyrik als auch hochstilisierte Kanzonen und Madrigale aus Petrarcas Canzionere, wie der Titel seines Musikdruckes von 1520 verrät. Von den 17 Werken im Musica-Druck sind jedoch nur sieben Kanzonen Petrarcas vertont. D’Accone teilt Pisanos Werk in einen Früh- und Spätstil ein.12 So
sollen die fünf frühen Ballate-Kompositionen, die nur in der ältesten Handschrift auftauchen, zwischen 1505 und 1515 entstanden sein, die späteren Werke zwischen 1510 und 1518.13 Die frühen sind nicht durchkomponiert, sondern enthalten im Stil einer Frottola-barzelletta - wie man sie bei den älteren Florentiner Komponisten der Karnevalslieder kennt - einen durch Wiederholungszeichen gekennzeichneten Mittelteil. Unübersehbar ist hier der Einfluss Alessandro Coppinis und Bartolomeo degli Organi zu sehen. Auch die franko-flämischen Techniken eines Heinrich Isaac schienen ihm für die späteren Werke nicht fremd gewesen zu sein. Entweder hat er noch in seiner Florentiner Zeit bei Isaac gelernt oder bei einer der nordeuropäischen Komponisten an der päpstlichen Kapelle in Rom.14
Die Lyrik als auch die Kompositionen verraten aber - abgesehen vom stilistischen Niveau, das hier nicht bestritten werden soll und vielleicht gerade dadurch - unterschiedliche Funktionen je nach Aufführungskontext. Geht man davon aus, dass Pisano für öffentliche Festivitäten zu Vertonungen volkstümlicher Texte herangezogen wurde - reine Gebrauchsmusik also - ebenso wie für hochstilisierte Kompositionen der nichtöffentlichen Literaturzirkel und Gelegenheiten am Hofe, so hat das eine das andere wohl kaum abgelöst. Dann sind seine Kompositionen erst einmal nach ihrem Aufführungskontext zu trennen, und innerhalb dessen eventuell stilistische Verfeinerungen zu erkennen. Die Zuordnung der ballate- und canzonetten-Kompositionen zu Pisanos Frühstil in Abgrenzung der Kanzonen- und Madrigalvertonungen zum Spätstil scheint bei dem kurzen Entstehungszeitraum, der spätestens bis zu seinem 30. Lebensjahr reicht, nur bedingt geeignet. Wahrscheinlich kann aber davon ausgegangen werden, dass er in routinierten volkstümlichen frottola-barzelletten neue Techniken ausprobierte, um sie in den Madrigalen zu verfeinern.
Offensichtlich besteht auch ein Zusammenhang zwischen seinem Wechsel zur durchkomponierten musikalischen Form mit seinem Weggang aus Florenz nach Rom 1513. Sicher war er dem Kreis um Bembo am päpstlichen Hof nicht fremd. Die oben genannten fünf frühen frottola-barzellette, die nicht später als 1515 entstanden sein sollen, sind die einzigen, nicht durchkomponierten Stücke.
Denkbar liegt der Grund der Aufgabe der frottole, canzonetten, barzellette usw.
eher im fehlenden Bedarf an solchem Repertoire in Rom, dass jedoch nicht durch die Madrigale ersetzt wurde, die ja, wie eben erwähnt, eine andere Funktion erfüllten. Damit wäre auch wieder der Bogen zur Entstehung des Madrigals geschlagen. Wohl kaum kann da das nichtöffentliche Repertoire des kultivierten Adels direkt der frottola entsprungen sein. Die chronologische Zuordnung seiner Werke in eine frühere vorwiegende frottolen-Produktion geht allerdings nicht fehl, da die Handschrift Basevi 2440 auf 1515 datiert werden könne, fünf Jahre vor dem “Musica”-Druck alle 16 von D’Accone ausgemachten Ballata-Vertonungen enthält. Der Druck von 1520 hingegen enthält die vier ballate, die der Auffassung D’Accones gemäß die fortschrittlicheren darstellen, durchkomponiert in der Art eines Madrigals. Die Handschrift Magliabechi XIX, die auf 1525 datiert werden könne, enthält mit 19 Stücken sieben mehr als der Druck und zu den vier ballate aus der “Musica” noch “Già mai non vider gli .occhi”. Die übrigen stellen Vertonungen von Kanzonen und Madrigalen dar. Als einziges kommt “Quanto più desiar” in keiner bislang bekannten Quelle vor. Diese Fakten dürften zugegebenermaßen die alte These von der Entstehung des Madrigals aus der öffentlichen, speziell florentinischen Musik stützen.
Möglicherweise ist das Repertoire nicht so einfach zu trennen, insofern, dass das öffentliche Repertoire auch im privaten Raum am Hof aufgeführt wurde oder der Bedarf an derartiger öffentlicher Musik existierte nun nicht mehr, doch wurde deren Funktion aber nicht vom Madrigal, der späteren Musica reservata übernommen. Die Frottola und verwandte Genres könnten möglicherweise von anderen Gattungen abgelöst worden sein. Offenbar hat sich Pisano dann vermehrt dem Madrigal zuwenden können, weil er vielleicht nicht mehr allzu sehr vom zusätzlichen Broterwerb durch schnell produzierbare öffentliche Kompositionen abhängig war. Die oben erwähnte Verteilung der formal verschiedenen Werke in den jeweiligen Quellen bezeugt die Hinwendung zum Madrigal.
Alfred Einstein noch sah in Pisano die Kulmination der älteren Frottolen-Produktion. D’Accone jedoch sieht bereits viele Merkmale des frühen Madrigals in Pisanos Spätwerken von 1520.15 Pisano habe im Alter von 30 Jahren bereits einen bemerkenswerten Beitrag zur Entstehung des Madrigals geleistet. Er und seine Werke wären den Frühmadrigalisten wohl bekannt gewesen durch seine berufliche Beziehung zu ihnen. Seine Dienstzeit in der päpstlichen Kapelle deckt sich weitestgehend mit der Zeit, die Costanzo Festa eben dort (1517-1554) gewirkt hat. Jacob Arcadelt kam 1539 hinzu. Arcadelt und Pisano waren Mitglieder der Privatkapelle von Papst Paul III. Philippe Verdelot erhielt 1523 Pisanos früheres Amt als Kapellmeister an der Florentiner Kathedrale. Wahrscheinlich kam er bereits ein Jahr vorher nach Florenz. Festa und Verdelot hatten Kontakt zu Pisano während der 1520er Jahre. Es bestehe kein Zweifel, dass die als Gründer” des Madrigalstils ihre ersten Madrigale, die sie um 1530 veröffentlichten, zu dieser Zeit schrieben. Jedoch sind zu dieser Zeit keine Drucke herausgekommen, weshalb Einstein den Ausdruck von der “artistic pause” geprägt hat. Wahrscheinlich aber gab es eine gleichmäßig ununterbrochene Entwicklung von dem letzten Petrucci-Druck von 1520 bis zum ersten Dorico-Druck 1530. Pisano stünde sozusagen chronologisch und stilistisch am Beginn dieser Entwicklung. Dank seines musikalischen Talents und einer Umgebung, die seine Kunst pflegte habe er erfolgreich seine Aufgabe gemeistert. In diesem intellektuellen und künstlerischem Klima haben Verdelot, Festa und Arcadelt die Ideale weiter getragen, die sich in Pisanos Pionierarbeiten zeigten.16
3. Texte
3.1. Thematik
Es handelt sich bei den meisten Texten um Minnelyrik mit der obligatorischen Pointe in der Schlusszeile. Sie besingen die Topoi der Amor-Allegorie, des Feuers oder der gentilezza (Lieblichkeit). Mit den Reformen reagierten die Dichter, allen voran Pietro Bembo, auf die Verse der Improvisatoren, deren Hauptaugenmerk mehr auf dem Vortrag als dem Inhalt lag. Petrarcas Texte, die Pisano dessen Canzionere entnimmt, sind Klagelieder, in denen das lyrische Ich Donna Laura anbetet. Die Petrarchisten in Bembos Zeit zeichnen sich in der Nachahmung Petrarcas aus durch Pointensucht, mit der Details aus Petrarcas Dichtung herausgegriffen werden. Sie übernehmen dabei Schlüsselwörter wie “Donna” bzw. “Madonna”.17
3.2. Dichtungsformen
3.2.1. Die Ballata
Wesentlich ist ihr das Vorkommen eines Refrains sowie die Wiederholung des letzten Refrainreims am Strophenende. Charakteristisch ist ebenso die Wiederholung des letzten Reims der piede im ersten Vers der volta. Meist bestehen Auf- (piede) und Abgesang (volta) aus zwei symmetrischen Teilen. Im 14. Jahrhundert gehörte die Ballata aus settenari und endecasillabi zur Kunstdichtung, wurde aber zum Beispiel von Petrarca nur selten verwendet. Auch bei den Petrarchisten des frühen 16. Jahrhunderts fand sie kaum Gebrauch, sondern erst wieder bei Chiabrera ab der zweiten Jahrhunderthälfte. Hingegen kam in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft Lorenzos Il Magnifico (“Der Prächtige”) die volkstümliche Form der Ballata in isometrischen ottonari auf. Typisch für die Gedichte Lorenzos de‘ Medici selbst und seines Hofdichters Angelo Poliziano, die keine Kunstdichtung mehr darstellen, ist die vierzeilige ripresa (bei Polizian auch zwei- oder dreizeilig), die der meist achtzeiligen, ersten stanza vorangestellt ist. Bei Polizian kommen auch gelegentlich heterometrisch wechselnde settenari und endecasillabi vor. Die Verslehre nennt sie frottola-barzelletta in Abgrenzung von der Trecento-frottola.
[...]
1 Pirrotta: From Barzelletta to Madrigal, 1996, S. ?.
2 D’Accone: Bernardo Pisano, 1963, S. 115-135.
3 Einstein, The Italian Madrigal, 1949, S. 119-133; Osthoff: Theatergesang, 1969, S. 206-7; J. Haar: Essays, 1986, S. 59-66.
4 Pirrotta: From Barzelletta to Madrigal, 1996, S. ? sowie Ders.: Before the madrigal, 1994, S. 238.
5 Hans Musch: Costanzo Festa als Madrigalkomponist, Baden-Baden 1977, S. 51-128.
6 Einstein: The Italian Madrigal, 1949, S. 116-119.
7 Ebd.: S. 133.
8 Osthoff: Theatergesang, 1969, S. 206-7; J. Haar: Essays, 1986, S. 59-66; Pirrotta: From Barzelletta to Madrigal, 1996, S. ?
9 Osthoff, Theatergesang, 1969, S. 206.
10 Rubsamen: Literary Sources, S. 20.
11 Einstein, Italian madrigal, S. ???
12 D’Accone:Bernardo Pisano, 1963, S. 126.
13 Frank D’Accone über Bernardo Pisano in: André Verchaly u.a.: Critical Years in European Musical History 1500-1530, in: Report of the Tenth Congress Ljubljana 1967, hg. v. Dragotin Cvetko, Ljubljana 1970, S. 96-206.
14 D’Accone/Verchaly: International Congress, S. 97-99.
15 D’Accone/Verchaly: International Congress, S. 97.
16 D’Accone/Verchaly: International Congress, S. 105-106.
- Citation du texte
- Ulrike Stürzkober (Auteur), 2005, Bernardo Pisano (1490-1548) - Ein Florentiner Musiker als Vorreiter des frühen Madrigalismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74116
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