Goethe griff mit Iphigenie auf einen antiken Stoff zurück, hinzu kam als besondere Grundlage die dramatische Gestaltung durch Euripides. In einem Punkt stimmt die Forschung in ihren Meinungen überein: „In doppelter Weise ist in Goethes Werk der Euripideische Hintergrund ständig bemerkbar, sei es als Ausgangspunkt oder als Gegensatzfolie.“ Aufgrund des großen Zeitabstandes zwischen der Vorlage des Euripides (412 v. Chr.) und der Bearbeitung des Stoffs durch Goethe (1773-1786), ist es für das Verständnis von Goethes Werk interessant, es mit der Vorlage zu vergleichen. Es muss also um das Aufzeigen von Veränderungen gehen, denn „bei der Schlußredaktion der Iphigenie orientiert er sich […] an Euripides.“
Deshalb gilt es zu beweisen, welche Abwandlungen Goethe vornimmt und inwiefern die Vorlage ihn beeinflusst hat. Aus diesem Grund muss man die Frage stellen: Inwieweit bemerkbar wird, dass sich Goethes Iphigenie auf Tauris an der Euripides Iphigenie bei den Taurern orientiert hat?
In dieser Arbeit soll zuerst der Entstehungsgeschichtliche Hintergrund Goethes und Euripides Iphigenie näher beleuchtet werden, womit das Verhältnis der beiden Werke zueinander klar wird. Weiterhin soll deutlich werden, dass nicht erst in Goethes Iphigenie ein humanisierender Aspekt zum Vorschein kommt, sondern dieser schon in der Antiken Vorlage bemerkbar war, wenn auch noch nicht so ausgeprägt wie bei Goethe. Auch die inhaltliche, formelle und stilistische Annährung an das Original soll hier betrachtet werden. Fast noch größer als die Gemeinsamkeiten sind jedoch die Unterschiede zwischen den beiden Versionen. Dazu gehören vor allem die inhaltlichen Veränderungen, die Goethe in Abweichung der Vorlage vorgenommen hat. Anhand von zahlreichen Beispielen aus den beiden Primärtexten wird dies veranschaulicht dargestellt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Euripides Iphigenie – Abänderungen durch Goethe
2.1 Entstehungsgeschichtlicher Hintergrund
2.2 Ideal der antiken Literatur
2.2.1 Humanitätsideal
2.2.2 Inhalt, Form und Stil
2.3 Entfernung Goethes von der klassischen Vorlage
2.3.1 Inhaltliche Änderungen
3. Schlussbetrachtung
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Goethe griff mit Iphigenie auf einen antiken Stoff zurück, hinzu kam als besondere Grundlage die dramatische Gestaltung durch Euripides. In einem Punkt stimmt die Forschung in ihren Meinungen überein: „In doppelter Weise ist in Goethes Werk der Euripideische Hintergrund ständig bemerkbar, sei es als Ausgangspunkt oder als Gegensatzfolie.“[1] Aufgrund des großen Zeitabstandes zwischen der Vorlage des Euripides (412 v. Chr.) und der Bearbeitung des Stoffs durch Goethe (1773-1786)[2], ist es für das Verständnis von Goethes Werk interessant, es mit der Vorlage zu vergleichen. Es muss also um das Aufzeigen von Veränderungen gehen, denn „bei der Schlußredaktion der Iphigenie orientiert er sich […] an Euripides.“[3]
Deshalb gilt es zu beweisen, welche Abwandlungen Goethe vornimmt und inwiefern die Vorlage ihn beeinflusst hat. Aus diesem Grund muss man die Frage stellen: Inwieweit bemerkbar wird, dass sich Goethes Iphigenie auf Tauris an der Euripides Iphigenie bei den Taurern orientiert hat?
In dieser Arbeit soll zuerst der Entstehungsgeschichtliche Hintergrund Goethes und Euripides Iphigenie näher beleuchtet werden, womit das Verhältnis der beiden Werke zueinander klar wird. Weiterhin soll deutlich werden, dass nicht erst in Goethes Iphigenie ein humanisierender Aspekt zum Vorschein kommt, sondern dieser schon in der Antiken Vorlage bemerkbar war, wenn auch noch nicht so ausgeprägt wie bei Goethe. Auch die inhaltliche, formelle und stilistische Annährung an das Original soll hier betrachtet werden. Fast noch größer als die Gemeinsamkeiten sind jedoch die Unterschiede zwischen den beiden Versionen. Dazu gehören vor allem die inhaltlichen Veränderungen, die Goethe in Abweichung der Vorlage vorgenommen hat. Anhand von zahlreichen Beispielen aus den beiden Primärtexten wird dies veranschaulicht dargestellt.
2. Euripides Iphigenie – Abänderungen durch Goethe
2.1 Entstehungsgeschichtlicher Hintergrund
Goethe, der seine Iphigenie auf seiner Italienreise 1786 endgültig aus der 1779 entstandenen Prosafassung in Verse übertrug, hält sich in dieser letzten und gültigen Fassung streng an die antiken Vorgaben: „Goethe fand den Stoff zu seiner Iphigenie bei Euripides“[4]. Die Handlung orientiert sich weitestgehend sowohl im formalen Aufbau als auch in der Abfolge des dramatischen Geschehens an dem Vorbild der griechischen Tragödie. Trotzdem ist dies keine Nachahmung der euripideischen Iphigenie, sondern ein wieder Aufgreifen und Verändern des antiken Stoffs. Die Eigenständigkeit Goethes gegenüber den griechischen Dramatikern stellt 1789 der Kritiker Friedrich Jacobs heraus:
Von dem Genie unsers Dichters war es zu erwarten, daß es sich seine eigne Bahn brechen würde. Seine Iphigenie ist keine Nachahmung der Iphigenie des Euripides. Es ist ein eignes Werk, das mit jenem wetteifert, so wie oft jener große Dichter mit Sophokles in demselben Gegenstand wetteiferte. Sie ist das Werk eines Geistes, der der mit dem Geiste der Alten gerungen und sich ihn zueigen gemacht hat; ein Werk voll Einfalt und stiller Größe, so wie es vielleicht Euripides selbst in unsern Tagen geschrieben hätte.[5]
Seit seinen Sprachstudien, der griechischen und lateinischen Literatur, strebt Goethe nach der Harmonie, die er bei den Griechen vorbildlich verwirklicht sieht. Will er sich mit Euripides messen?
„Goethe […] ringt mit der antiken Form! Die Methode der Aneignung original hellenischer […] Formen mußte erst mühsam entwickelt werden. Goethe betrachtet die Iphigenie stets als ein Provisorium […] ,Ich schrieb meine Iphigenia aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzulänglich war. […].’ (Mit Riemer, 20.7.1811.)“[6]
Auch an das für Goethe mit so viel Bedeutung beladene Verhältnis zwischen ihm und Frau v. Stein ist zu erinnern, wenn man Gründe für sein Interesse an der Iphigeniegestalt aufspüren will. Denn in der Gestalt der Iphigenie hat Goethe das lebende und einflussreiche Vorbild Charlotte von Steins nachgebildet.[7] Die Goethe, ähnlich wie Iphigenie, geistige Führung gibt. Doch kommt man über Vermutungen nicht hinaus. Außerdem erhält Goethe neue Eindrücke aus Oberitalien, die er in seiner Iphigeniendichtung verwertet:
So habe ich eine heilige Agathe gefunden, ein kostbares, obgleich nicht
ganz wohl erhaltenes Bild. Der Künstler hat ihr eine gesunde sichere
Jungfräulichkeit gegeben, doch ohne Kälte und Roheit. Ich habe mir die
Gestalt wohl gemerkt und werde ihr im Geist meine Iphigenie vorlesen,
und meine Heldin nichts sagen lassen, was diese Heilige nicht aussprechen möchte. (Italienische Reise, Ferra bis Rom, 19.10.1786)[8]
Für Goethe ist die antike Kultur nicht mehr lebendig. Er hat damit auch keine Möglichkeit, die Tragödie von ihrem kultischen Ursprung her zu begreifen und zu behandeln. Bei ihm ist die Darstellung des Mythos nur eine Wiederbelebung der Antike. Der Mythos bildet dabei den Stoff für ein Drama. Bei Euripides war der Inhalt des Mythos dagegen Wirklichkeit im Sinne eines historischen Stoffes. Als Stoffe dienten ihm die Inhalte der einzelnen Sagen. Für Goethes Zeitgenossen genügt es, den Tantalidenmythos zu kennen, ohne ihn als realistisch zu begreifen, um die Handlung seiner Iphigenie zu verstehen. Goethes Drama braucht also den Mythos nicht nachzuahmen.[9]
Dies ermöglichte Umgestaltungen im Ablauf der von Euripides dargestellten mythologischen Ereignisse und damit Abweichungen von der Struktur des Originals.
2.2 Ideal der antiken Literatur
2.2.1 Humanitätsideal
Im klassischen Vorbild findet Goethe die Forderung nach einer universalen Menschlichkeit, die alle nationalen Grenzen aufhebt, verwirklicht. Denn Euripides lebte in einer Zeit, als in Athen die geistige Bewegung der ersten griechischen Aufklärung einsetzte.[10] Man merkt seinem Werk den neuen Geist der Zeit an, denn der Mensch steht im Mittelpunkt der Handlung. Doch der Iphigenie des Euripides fehlt durchaus noch der humane Anspruch. Die Entwicklung, dass Iphigenie die Absicht verfolgt, die taurische Sitte abzuschaffen. Dennoch wird hier aus Iphigenies menschlicher Sicht der Opferbrauch verurteilt: „O grause Pflicht!“ (V. 41)[11]. In Goethes Iphigenie wird der humanisierende Aspekt im Aufbegehren der Iphigenie gegen die Wiedereinführung des schrecklichen Brauchs noch deutlicher hervorgehoben: „Um meinetwillen hab ich’s nie begehrt.“ (V. 522)[12], so wie es in der klassischen Vorlage nicht zu finden ist. Es ist der aufklärerische Ton, der Goethes Iphigenie auf Tauris mit der euripideischen Iphigenie bei den Taurern verbindet.[13] Vor allem wird dies bei Euripides’ Orests leidenschaftliche Auflehnung gegen den Gott Apoll deutlich, denn Orest wirft ihm vor, ihn bewusst betrogen zu haben: „In welches Netz, o Phoibos, lockst du wieder mich/ Durch dein Orakel“ (V.77-78). Goethes Absicht war es, den antiken Stoff für ein mit dem Aufklärungsgedanken vertrautes Publikum aufzubereiten. Das bedeutet, dass das Verständnis des antiken Stoffes mit Hilfe der Aufklärung umgedeutet wird. Dafür wird in Goethes Iphigenie der Wahlspruch der Aufklärung: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“[14] klar und deutlich gebraucht. Iphigenie ist es, die auf den Weg freier Selbstentscheidung gelangt. Ihr wird im fünften Akt nicht durch das Eingreifen irgendwelcher Gottheiten geholfen, sie muss sich ganz autonom von Lug und Trug abwenden und alles auf die Wahrhaftigkeit setzen. Am Ende vom Lied der Parzen hat Iphigenie weitergedichtet: Sinnt Tantalus, der „Alte“, an das grausige Schicksal der Kinder und Enkel denkend, kopfschüttelnd darüber nach, ob denn nicht einer endlich vom Fluch freizukommen vermag? Im entscheidenden Moment bringt sie es nicht über sich, bei der Lüge zu bleiben. Sie hält die Täuschung nicht durch, sie verfällt ins Stottern: „Sie sind - sie scheinen - für Griechen halt ich sie“ (V. 1889), und dann bekennt sie sich zu den wahren Zusammenhängen und pocht auf Thoas' Großmut. Und er folgt tatsächlich dem Appell an seine Menschlichkeit.
Goethe hat sein Drama recht kritisch beurteilt. Als er 1802 „hie und da hineingesehen" hatte, kam es ihm "ganz verteufelt human" vor (an Schiller, 19. 1. 1802)[15]. Beim flüchtigen Hineinsehen wurde ihm wohl bewusst, dass die Grundführung der Orest- und Iphigenienhandlung allzu glatt die Konflikte löst und das Individuum, sofern es nur das Humane will, zu sicher vor dem Scheitern erscheint.
[...]
[1] Vgl. Brendel, Otto J.: Iphigenie auf Tauris. Euripides und Goethe. In: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Hrsg. von Albrecht Dihle. 1. Aufl. Bd. 27. Berlin: Walter de Gruyter 1981. S. 53.
[2] Ebd. S. 52.
[3] Vgl. Petersen, Uwe: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit. 1. Aufl. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1974. S. 48.
[4] Vgl. Nikolaidou-Balta, Dimitra: Euripides’ Iphigenie bei den Tauriern, Goethes Iphigenie auf Tauris. Die Umarbeitung eines antiken Stoffes. In: Mit Goethe Schule machen? Hrsg. von Peter Pabisch. Bd.68. 1. Aufl. Bern: Peter Lang Verlag 2002. (=Jahrbuch für Internationale Germanistik), S. 26.
[5] Vgl. Iphigenie auf Tauris. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. Bd.5: Johann Wolfgang Goethe. Dramen 1776-1790. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1988 (=Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher, und Gespräche), S. 1303-1304.
[6] Ebd. S. 1283.
[7] Vgl. May, Kurt: Goethes Iphigenie. In: Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. 3. Aufl. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1972. S. 75.
[8] Vgl. Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher, und Gespräche, S. 1291-1292.
[9] Vgl. Brendel, Otto J. 1981. S. 58-59.
[10] Nikolaidou-Balta, Dimitra. 2002. S. 17-18.
[11] Primärtext: Euripides: Iphigenie bei den Taurern. Hrsg. v. Hans Strohm. 1. Aufl.
Stuttgart 2005 (=Philipp Reclam Nr. 737). Im Folgenden werde ich nach dieser Ausgabe zitieren.
[12] Primärtext: Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Hrsg. v. F. Bruckner u. K. Sternelle. 1. Aufl. Husum 2006 (=Hamburger Lesehefte). Im Folgenden werde ich nach dieser Ausgabe zitieren.
[13] Vgl. Zimmermann, Bernhard: Euripides’ und Goethes Iphigenie. In: „… auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Hrsg. von Olaf Hildebrand. Bd.1. 1. Aufl. Freiburg: Rombach Verlag 2004. (=Paradeigmata), S. 137.
[14] Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd.6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. 5. Aufl. Darmstadt: Insel Verlag 1998. (=Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 53.
[15] Vgl. Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher, und Gespräche. 1988. S. 1289.
- Citar trabajo
- Christiane Scheiter (Autor), 2007, Die Iphigenie des Euripides. Die Bearbeitung des Mythos durch Goethe, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74049
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