Diese Examensarbeit befasst sich mit der Talenterkennung und -förderung im Fußball in Deutschland. Theoretischer Hintergrund ist die Systemtheorie von Niklas Luhmann - die Talenterkennung wird also vor diesem Hintergrund analysiert. Im zweiten Teil der Arbeit geht es um die Talentförderung in Deutschland. Hier werden sowohl die Konzepte des Hamburger SV, von Hertha BSC Berlin und vom DFB behandelt. Außerdem wird die Talentföderung in Deutschland mit der Talentförderung in Holland (Beispiel Ajax Amsterdam), in England (Beispiel Everton) und in Frankreich (Fußballinternate) verglichen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Untersuchungsmethode und deren methodologische Begründung
2. Begriffserklärungen
2.1 Theoretische Grundlagen und Stand der Forschung
2.2 Der Begriff „Talent“
2.2.1 Statischer Talentbegriff
2.2.2 Dynamischer Talentbegriff
2.3 Der Begriff „Talenterkennung“
2.4 Der Begriff „Talentförderung“
3. Soziologische Theorie
3.1 Die allgemeine Bedeutung des Fußballs für die Gesellschaft
3.2 Grundlagen der Systemtheorie Luhmanns
3.3 Sport als funktionales Teilsystem der Gesellschaft
3.4 Fußball als funktional differenziertes System
4. Talentförderungsreform des DFB aus dem Jahr 2001
4.1 Gründe für die Reform und Kritik an der Talentförderung von 1980-2000
4.2 Die Bosman-Entscheidung und ihre Auswirkungen für den Fußball
5. Talentförderung des Deutschen Fußball Bundes
5.1 Talentfördermodell des Deutschen Fußball Bundes
5.2 Matthias Sammers Konzept zur Eliteförderung
6. Leistungszentren und Fußballinternate der Bundesligisten im Vergleich
6.1 Leistungszentrum und Internat des Hamburger Sportvereins
6.2 Leistungszentrum und Internat von Hertha BSC Berlin
6.3 Leistungszentrum von Energie Cottbus
7. Talentförderung im Schulsport
7.1 Schulen mit leistungssportlicher Förderung
7.2 Sportinternate
7.3 Rückblick auf die Kinder- und Jugendsportschulen der ehemaligen DDR
7.4 Sportbetonte Schulen – und „Partnerschulen des Leistungssports“ –
Der Idealfall?
8. Talentförderung im Ausland
8.1 Talentförderung in Großbritannien am Beispiel des FC Everton
8.2 Talentförderung in den Niederlanden am Beispiel von Ajax Amsterdam
8.3 Vorteile bzw. Nachteile der Talentförderung im Ausland gegenüber der Talentförderung in Deutschland
9. Integration deutscher Talente in die deutschen Profiligen
9.1 Fallstudien
9.2 Probleme bei der Integration von Talenten
10. Zusammenfassung und Perspektiven der Talentförderung im deutschen
Fußball
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit dem Thema „Talentförderung im deutschen Fußball“ beschäftigen sich momentan sowohl die Medien und die Fachliteratur als auch der Deutsche Fußball Bund[1] und die deutschen Profi-Vereine intensiv. Dabei gibt es innerhalb dieser Institutionen vielseitige Gründe für das Interesse an der Talentförderung. Der DFB erhofft sich durch eine erfolgreiche Talentsichtung und Talentförderung eine Verjüngung des deutschen Fußballs im Allgemeinen und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft im Besonderen. Für die Lizenzspielervereine ist eine erfolgreiche Talentförderung zum einen deshalb interessant, weil die Ausbildung eigener Talente entgegen häufiger Meinungen sehr lukrativ ist, da es die Kosten für den Kauf auswärtiger Spieler spart und man unter Umständen die selbst ausgebildeten Spieler später an andere Vereine verkaufen kann. Zum anderen ist es offensichtlich, dass die Fans eines Vereins sich wesentlich einfacher mit Spielern aus der eigenen Region identifizieren können als mit ausländischen Spielern.
Auch für die Gesellschaft hat eine erfolgreiche Talentförderung im Fußball durchaus positive Effekte, da Fußball oft in der Lage ist, das nationale Prestige und das nationale Selbstbewusstsein zu stärken. Das gute Abschneiden der jungen deutschen National-mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 sei hier nur ein Beispiel. Die Medien und die Wirtschaft sind an einer erfolgreichen Talentförderung interessiert, weil sich junge Spieler gut vermarkten lassen und weil die Medien ständig auf der Suche nach nationalen Hoffnungsträgern im Fußball sind. Den Autor interessiert das Thema Talentförderung deshalb, weil er selbst Fußball spielt und mehr als zehn 10 Jahre lang als Fußball-Nachwuchstrainer in einem Breitensportverein tätig war. Außerdem interessiert er sich für die Entwicklung der deutschen Profi-Ligen, in denen das Problem einer nicht optimalen Talentförderung derzeit eine große Rolle spielt.
Diese Arbeit gliedert sich grob in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich vorwiegend mit theoretischen Aspekten. Zuerst geht es dabei um die Begriffserklärungen solch zentraler Begriffe wie „Talent“, „Talentauswahl“ und „Talentförderung“. Dabei werden verschie-dene Definitionen miteinander verglichen, um am Ende einen umfassenden Talent-begriff herauszuarbeiten. An den Teil der Begriffserklärungen schließt sich die soziologische Theorie an, die dieser Arbeit als Rahmen dient. Dabei wird sich diese Arbeit in erster Linie mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann beschäftigen und versuchen, den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen in diese Systemtheorie einzubetten. Außerdem wird in diesem Punkt verdeutlicht, warum der Fußballsport für die Gesellschaft außerordentlich bedeutsam ist.
An den ersten Theorie-Teil schließt sich dann der zweite Teil dieser Arbeit an, der sich mit der praktischen Umsetzung der Talentförderung in Deutschland und dem Ausland befasst. Dabei wird zuerst ein Blick auf die Talentförderungsreform des DFB aus dem Jahre 2001/02 geworfen und es wird versucht, die Gründe und die Auswirkungen dieser Reform zu beschreiben, zu denen auch die Bosman-Entscheidung aus dem Jahre 1995 zählt. Danach soll es konkret um eine detaillierte Beschreibung des Talentförder-programmes des DFB gehen und auch das „Konzept zur Eliteförderung“, das erst kürzlich vom neuen DFB-Sportdirektor Matthias Sammer vorgestellt wurde, soll in seinen Kernpunkten dargestellt werden.
Nachdem dann die Talentförderung im Verband behandelt wurde, wird sich diese Arbeit mit einem Vergleich einiger Leistungszentren und Fußballinternate der deutschen Bundesliga-Vereine beschäftigen. Dabei dienen die Leistungszentren des Hamburger Sportvereins, von Hertha BSC Berlin und vom FC Energie Cottbus als Beispiele.
Nach diesem Vergleich geht es im nächsten Kapitel um die Talentförderung im Schulsport. Dabei werden Möglichkeiten und Probleme einer erfolgreichen Talent-förderung in der Schule beleuchtet und es wird ein konkreter Blick auf vier Schul-Modelle geworfen, die beim Versuch, Schule und Sport am effizientesten zu kombinieren, entstanden sind. Nach dem Blick auf die Schulkooperation geht es dann im nächsten Kapitel um die Talentförderung im europäischen Ausland und um die Vor- bzw. Nachteile, die diese Talentförderprogramme gegenüber denen in Deutschland aufweisen. Als Beispiele für diese Talentförderung dienen das Talentzentrum des FC Everton in Großbritannien und die weltberühmte Fußball-Akademie von Ajax Amsterdam in den Niederlanden.
Im letzten Punkt dieser Arbeit wird die Integration deutscher Talente in die Fußball-Bundesliga dargestellt. Dabei werden die Probleme, die bei der Integration junger Spieler auftreten könnten beschrieben und Lösungsmöglichkeiten herausgearbeitet. Am Ende dieser Arbeit folgt dann ein Fazit der erarbeiteten Ergebnisse und ein Ausblick zum Thema „Talentförderung im Fußball in Deutschland“ wird gegeben.
1.1 Untersuchungsmethode und deren methodologische Begründung
Als Untersuchungsmethode für diese Examensarbeit wurde eine Literaturstudie gewählt. Die Gründe dafür sind zum einen, dass es relativ viel aktuelle und ergiebige Literatur zum Thema Talentförderung und Talenterkennung im Sport gibt. Zum anderen gibt es auch Literatur, die sich mit den verschiedenen Fußball-Internaten und Talentförderungsinstitutionen beschäftigt und die deshalb für diese Arbeit interessant ist. Beispiele dafür sind die Internetseiten und Informationszeitschriften des DFB und der Bundesligisten. Die Frage, wie gut und erfolgreich deutsche Talente in die Bundesliga integriert werden können, ist momentan hochaktuell. Der Autor ist der Meinung, dass man das Thema, für das er sich entschieden hat, umfassend durch eine Literaturstudie bearbeiten kann, er wird in diese Arbeit aber auch die Ergebnisse eines Fragebogens mit einfließen lassen, um direkte Informationen von den Bundesligisten zur Verfügung zu stellen. In der Arbeit wird es unter anderem auch Vergleiche zwischen deutschen Talentförderungseinrichtungen und deren europäischen Gegenstücken geben, die wiederum durch eine Literaturstudie vollständig analysiert werden können. Insgesamt erscheint im Bezug auf den theoretischen Rahmen dieser Arbeit (siehe Punkt 3, 4 und 7) und den eher praktischen Bereich der „Talentförderung“ eine Studie der betreffenden Literatur als sinnvolle Methode, um das gewählte Thema umfassend bearbeiten zu können.
2. Begriffserklärungen
In diesem Kapitel sollen diejenigen Begriffe definiert werden, die für das Verständnis dieser Arbeit von elementarer Bedeutung sind. Dabei wird zuerst der Stand der Forschung beschrieben, bevor es detailliert um den Talentbegriff und um die „Talenterkennung“ und die „Talentförderung“ geht.
2.1 Theoretische Grundlagen und Stand der Forschung
Im Folgenden sollen hier nun die Begriffe erklärt werden, die als Basis dieser Arbeit angesehen werden können. Die Talentthematik wird momentan sowohl im Sportbereich als auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens (z.B. Schule, Musik, etc.) sehr intensiv diskutiert.
Das Wort „Talent“ hat vielfältige Bedeutungen in allen Bereichen des sozialen Lebens, wobei hier nur Bezug auf die Bedeutungen des Wortes „Talent“ für die Sportwissen-schaft genommen wird. Um die verschiedenen Begriffe hier zu erklären, werden Definitionen von verschiedenen Autoren einander gegenüber gestellt bzw. miteinander in Zusammenhang gebracht, um so am Ende einen umfassenden Talentbegriff zu entwickeln. In der Literatur werden die Begriffe „Talent“ und „Begabung“ häufig synonym verwendet, wobei in dieser Arbeit der Begriff „Talent“ verwendet wird.
2.2 Der Begriff „Talent“
Umgangssprachlich bezeichnet man als Talent eine Person, die eine besondere Leistungsvoraussetzung, also eine besondere angeborene Fähigkeit für einen bestimmten Bereich aufweist (vgl. Drosdowski, 1991, S. 704). Allerdings gibt es viele verschiedene Definitionen des Wortes Talent. So setzt Tidow (1988, S. 171) Talent mit „Entwicklungspotenzial“ gleich, während Carl (1988, S. 11) Talente als „Personen mit herausragenden spezifischen Veranlagungen und Fähigkeiten [bezeichnet], von denen man annimmt, dass sie bei qualifizierter Förderung außergewöhnliche Leistungen erbringen können.“ Oft wird das Wort Talent auch mit motorischer Begabung gleichgesetzt, wobei auch hier diese motorische Begabung in unterschiedlicher Weise ausdifferenziert wird. So spricht Singer (1981, S. 16) beispielsweise von einem Talent als einer „Person, deren Struktur von anatomisch-physiologischen Merkmalen, Fähigkeiten und weiteren Persönlichkeitseigenschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt, dass diese Person unter bestimmten Trainings- und Umweltbedingungen das Leistungsniveau der nationalen und internationalen Spitzenklasse erreichen kann.“
Klaus Carl versucht, den Begriff des Talents noch weiter auszudifferenzieren und unterscheidet deshalb zwischen einem Sporttalent und einem Spitzensporttalent. Im Zuge dieser Arbeit soll es um Spitzensporttalente gehen, deren Charakteristika von Carl folgendermaßen beschrieben werden:
„Ein Talent für den Spitzensport (Spitzensporttalent) ist eine sich noch in der Entwicklung zur Höchstleistungsfähigkeit befindende Person, von der man aufgrund bisher erreichter sportlicher Leistungen oder diagnostizierter personinterner Leistungsbedingungen begründet annimmt, dass sie, falls sie sich einem nach neuesten Erkenntnissen durchgeführten Training unterzieht und unter leistungsfördernden Umweltbedingungen aufwächst, im Hochleistungsalter in einer Sportart/Sportdisziplin ein Leistungsniveau erreichen kann, das größte sportliche Erfolge ermöglicht.“ (Carl, 1988)
Um zu zeigen, wie viele verschiedene Definitionen des Wortes „Talent“ es gibt, soll die nachfolgende Tabelle dienen. Hohmann et al. schlagen zur Systematisierung der Vielfalt der Talentbegriffe die Parameter eng-weit und statisch-dynamisch vor. Auf die Parameter statisch und dynamisch wird später aus der Sicht von Winfried Joch noch genauer eingegangen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Definitorische Schwerpunkte des Talentbegriffes
Es lässt sich also sagen, dass es viele unterschiedliche Definitionen des Wortes Talent gibt. Diese sind teilweise sehr umgangssprachlich und einfach, teilweise aber auch sehr ausdifferenziert und nur auf einzelne sportartspezifische Aspekte oder psycho-motorische Fähigkeiten bezogen. Auffällig ist jedoch, dass in fast jeder Definition der Begriff „überdurchschnittlich“ vorkommt.
Im Laufe dieses Kapitels soll über die Begriffe des „statischen“ und des „dynamischen“ Talentes (vgl. Joch, 1997, S. 97) versucht werden, einen Talentbegriff zu entwickeln, der alle Aspekte umfasst, die für den Inhalt dieser Arbeit von Belang sind.
2.2.1 Statischer Talentbegriff
Die Begriffe des „statischen“ und des „dynamischen“ Talentes wurden von Winfried Joch geprägt. Im Folgenden werden diese beiden Begriffe kurz erläutert, um danach durch die Kombination dieser Begriffe eine Talentdefinition zu erhalten, die als Grundlage für diese Arbeit dient. Allgemein beschreibt der statische Talentbegriff die Zustandsebene des Talents. Dabei gibt es laut Joch (1997, S. 90) vier charakteristische Aspekte des statischen Talentbegriffs, die hier im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.
Zuerst sind Dispositionen wichtig, die das Können des Talents betonen. Dabei wird das Talent als noch nicht voll entfaltete Begabung verstanden, wobei „Dispositionen“ die individuellen Voraussetzungen somatischer, psychischer und motorischer Art für das Erreichen von sportlichen Höchstleistungen bedeutet. Dieser Aspekt wird von Singer folgendermaßen beschrieben:
„Wenn man jemanden als Talent bezeichnet, so meint man damit im allgemeinen, dass diese Person auf einem bestimmten Gebiet bzw. in einer bestimmten Tätigkeit hohe Leistungen erreichen kann, aber noch nicht (unbedingt) erreicht hat, d.h. dass diese Person eine besondere Begabung für das Erreichen hoher Leistungen auf einem bestimmten Gebiet hat.“ (Singer, 1981, S.14)
Zusätzlich zu den Dispositionen ist aber auch die Bereitschaft seitens des Talents wichtig, Höchstleistungen zu erbringen. Diese Bereitschaft ist die Grundlage dafür, dass die vorhandenen Dispositionen auch tatsächlich genutzt werden. Hahn (1982, S. 85) sagt deshalb, dass zum Talent gehöre, „hohe Leistungen erbringen zu können und zu wollen.“
Neben der Bereitschaft, sportliche Höchstleistungen zu erbringen, ist auch das soziale Umfeld eines Talentes sehr wichtig, da es seine Möglichkeiten der Entwicklung maßgeblich bestimmt. Die Entfaltung des Talents ist dabei sowohl an die Ressourcen gebunden, die dem Talent bei seiner Entwicklung zur Verfügung stehen, als auch an die Akzeptanz seiner Mitmenschen. Denn sollte ein Talent in einer Umgebung aufwachsen, die es nicht als Talent anerkennt und es sogar an seiner Entwicklung hindert, wird dies negative Folgen für das Talent haben.
Der letzte wichtige Aspekt des statischen Talentbegriffs sind die Leistungsresultate, da sie das Leistungsvermögen dokumentieren. Da ein Talent durch über dem Durchschnitt liegende Leistungen gekennzeichnet ist, sind die Leistungsnachweise letztlich der grundlegende Aspekt der Talentdefinition. Fasst man nun all diese Aspekte des statischen Talentbegriffes zusammen, erhält man eine Definition, die der folgenden von Joch sehr nahe kommt:
„Als (sportliches) Talent kann eine Person bezeichnet werden, die über (vorwiegend genetisch bedingte) Dispositionen zum Erreichen von hohen sportlichen Leistungen verfügt, die Bereitschaft mitbringt, solche Leistungen auch zu vollbringen, die Möglichkeiten dafür in der sozialen Umwelt vorfindet und letztlich mit den erzielten Leistungsresultaten den Eignungsnachweis dokumentiert.“ (Joch, 1997, S. 93)
2.2.2 Dynamischer Talentbegriff
Der dynamische Talentbegriff umfasst die perspektivische Komponente des Wortes „Talent“. Hierbei ist eher die Endleistung eines Individuums das Ziel der Talentförderung und nicht die kurzfristigen Erfolge. Wichtig für den dynamischen Talentbegriff sind der Prozesscharakter und der Entwicklungsvorgang von sportlichen Talenten. Es gibt drei wichtige Aspekte, auf denen der dynamische Talentbegriff basiert.
Der erste dieser Aspekte ist der aktive Veränderungsprozess. Danach gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Talentthematik und der motorischen Entwicklung. Der Veränderungsprozess umfasst alle Bereiche der Persönlichkeit eines Talentes gleichermaßen (allerdings mit unterschiedlicher Intensität) und schließt nicht-lineare Prozesse, Stagnationen und Retardationen mit ein. Der Veränderungsprozess des Talentes ist dabei immer intentional und aktiv gesteuert, womit das oft genannte „Wachsenlassen“ (damit ist gemeint, dass darauf vertraut wird, ein Talent werde sich von allein, auch ohne Förderung, außergewöhnlich entwickeln) ausgeschlossen ist.
Bei diesem Veränderungsprozess ist die Motivation des Talents unerlässlich. Der zweite wichtige Aspekt des dynamischen Talentbegriffes ist die Steuerung durch Training. Die Talententwicklung wird intentional durch Training gesteuert und folgt dabei den anerkannten Prinzipien der Sportwissenschaft. Damit sind die Prinzipien der Ganzheitlichkeit, der Spezialisierung, der Allmählichkeit, der Langfristigkeit, der Systematik und der angemessenen Häufigkeit gemeint. Wie oben schon erwähnt, strebt das Talenttraining eher langfristige Ziele und keine kurzfristigen Erfolge an. Es wird deshalb in drei Phasen eingeteilt:
1. Das motorische Basistraining
2. Das Grundlagentraining der speziellen Sportart
3. Das Aufbautraining und die zunehmende Spezialisierung in der Sportart
Wettkämpfe beeinflussen den Trainingsprozeß und umgekehrt beeinflussen die Leistungen im Training natürlich auch den Ablauf des Wettkampfes.
Der letzte wichtige Aspekt des dynamischen Talentbegriffes ist die pädagogische Betreuung. Zwar gibt es viele Kritiker, die behaupten, dass der Leistungssport unvereinbar mit der Pädagogik sei, aber Autoren wie Harre halten es für selbstverständlich, dass das Training mit der Pädagogik im Einklang steht.
„Training stellt einen Prozess der physischen Vervollkommnung des Menschen (dar), der (sich) auf der Grundlage von Erziehung und Bildung (…) in voller Übereinstimmung mit dem allgemeinen Erziehungsziel befindet.“ (Harre, 1970, S. 14)
Zusammenfassend könnte man den dynamischen Talentbegriff nun also so definieren, wie es Joch hier getan hat:
„Talententwicklung ist ein aktiver, pädagogisch begleiteter Veränderungsprozess, der intentional durch Training gesteuert wird und das Fundament für ein später zu erreichendes hohes (sportliches) Leistungsniveau bildet.“ (Joch, 1997, S. 94)
Setzt man den statischen Talentbegriff in Beziehung zum dynamischen Talentbegriff und kombiniert diese beiden Begriffe, so erhält man einen umfassenden Talentbegriff, der das Verständnis dieser Arbeit gewährleistet. Diese vollständige Talentdefinition (nach Joch) lautet wie folgt:
Talent besitzt, oder: ein Talent ist, wer auf der Grundlage von Dispositionen, Leistungsbereitschaft und den Möglichkeiten der realen Lebensumwelt über dem Altersdurchschnitt liegende (möglichst im Wettkampf nachgewiesene) entwicklungsfähige Leistungsresultate erzielt, die das Ergebnis eines aktiven, pädagogisch begleiteten und intentional durch Training gesteuerten Veränderungsprozesses darstellen, der auf ein später zu erreichendes hohes (sportliches) Leistungsniveau zielstrebig ausgerichtet ist. (vgl. Joch, 1997, S.97)
Dieser umfassende Talentbegriff von Joch ist hier gewählt worden, weil er alles umschließt, was ein Talent ausmacht. Anhand dieser Definition ist es nun möglich, auf die Aspekte der Talentsuche (also der Talentdiagnostik) und der Talentförderung näher einzugehen.
2.3 Der Begriff „Talenterkennung“
Es ist sehr schwierig, die richtigen Kriterien für Sport-Talente zu finden. Deshalb werden häufig Merkmale wie Charaktereigenschaften, genetisches Potential, Trainingsfleiß oder auch der Körperbau als Kriterium genommen um zu bestimmen, ob es sich um ein Talent handelt oder eben nicht. Die Kriterienvielfalt hängt dabei von der jeweiligen Sportart ab und ist sehr komplex. Im Fußballsport würden solche Kriterien etwa Schnelligkeit, Ballgefühl oder Spielintelligenz sein. Der wohl problematischste Aspekt der Talenterkennung ist die Prognoseunsicherheit. Talentsichter beobachten junge Sportler einige Male und sollen aufgrund dieser Beobachtungen eine Prognose darüber abgeben, ob das entsprechende Kind in zehn oder fünfzehn Jahren zur nationalen und internationalen Spitze im Fußball gehören könnte.
Deshalb ist auch die dynamische Talentdefinition so wichtig, da sie nicht nur auf den Ist-Zustand des Sportlers eingeht sondern auch auf den Entwicklungsprozess. Die Probleme allerdings, die das für die Talentsichtung aufwirft, sind offensichtlich. Das würde nämlich bedeuten, dass Sichtungsmaßnahmen bei einzelnen Spielen objektiv nicht vertretbar wären, da dort ja nur der Ist-Zustand der betroffenen Sportler an nur einem bestimmten Tag beobachtet werden kann. So müssten Sportler über einen längeren Zeitraum und in unterschiedlichen Entwicklungsphasen beobachtet und diese Entwicklung auch dokumentiert werden, um letztlich zu entscheiden, ob es sich um ein Talent handelt oder nicht.
Dies ist allerdings in der Praxis nicht umsetzbar, und deshalb wird weiter auf die üblichen Sichtungsmaßnahmen vertraut und die Prognoseunsicherheit billigend in Kauf genommen. Dabei gehen die Verantwortlichen davon aus, dass die natürliche Selektion von Talenten über das verbandlich organisierte Wettkampfsystem nicht nur effektiv und ökonomisch ist, sondern letztlich auch die einzig realistische Entscheidungsgrundlage liefert (vgl. Joch, 1997, S. 60). Das bedeutet für die derzeitige Sportlandschaft, dass jemand ein Talent ist, der sich über Wettkampferfolge bis in die obersten sportlichen Leistungsklassen durchsetzt. Dass dabei eine große Anzahl von Talenten nicht berücksichtigt wird, ist für die Verantwortlichen solange egal, bis es irgendwann zu einem Engpass an Talenten kommt. Das größte Problem der Talenterkennung bleibt also die Diskrepanz zwischen der prognostischen Komponente (also der Praxis) und der wissenschaftlich fundierten Definition eines Talentes, die es aber bis heute noch nicht gibt. Man könnte also mit Joch argumentieren und feststellen:
„Die Talentthematik verknüpft wissenschaftlich begründete Erkenntnisgewinne mit praktischer Bedeutsamkeit.“ (Joch, 1997, S. 61)
In der Talentthematik gibt es heute verschiedene Strategien der Talenterkennung. Diese sollen hier nun kurz beschrieben werden. Die erste und einfachste Strategie, um ein Talent zu erkennen, ist ein Blick auf die Leistungsauffälligkeit des entsprechenden Sportlers. Demnach gilt als Talent, wer möglichst früh durch seine Leistungen aus dem Durchschnitt Gleichaltriger herausragt. An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass eine frühe Spezialisierung, also sehr gute Leistungen im frühesten Alter, eher negativ gesehen wird, da durch Studien belegt wurde, dass Sportler, die allzu früh sehr gute Leistungen erzielten, im Entwicklungsprozess oft stagnierten und ein paar Jahre später nicht mehr durch herausragende Leistungen auffielen. Das bedeutet für die Talentthematik, dass ein Blick auf die Anfangsleistungen eines Talentes wahrscheinlich nicht ausreicht. Vielmehr sollte die mögliche Endleistung in den Mittelpunkt des Interesses rücken. So würde der Talentbegriff dann durch den Veränderungsprozess, der nun im Mittelpunkt steht, eine dynamische Komponente und einen dynamischen Charakter erhalten (vgl. Roth, 1967). Eine Methode, die mögliche Endleistung zu ermitteln, ist die retrospektive Analyse. Sie besagt, dass es erst rückblickend (also wenn sich das Talent bereits durch gute Leistungen bewährt hat) möglich sei zu erkennen, wer ein Talent ist. Letzelter erklärt die Notwendigkeit einer retrospektiven Analyse folgendermaßen:
„Weder sei die Talentdefinition eindeutig, weil z.B. einmal lediglich die juvenile Leistungsauffälligkeit, ein anderes Mal auch die Bewährung im Erwachsenenalter mit in die Talentdefinition einbezogen würde, noch könnten derzeit – aus den vielfältigsten Gründen – befriedigende Erwartungen an Talentprognosen geknüpft werden.“ (Letzelter, 1981, S. 38-51)
Die retrospektive Analyse bezieht sich also einerseits auf die Leistungen im Kinder- und Jugendalter und andererseits auf die Bewährung im Erwachsenenalter. Ein weiterer Aspekt, der für die retrospektive Analyse spricht, ist die Tatsache, dass es auch immer wieder Quereinsteiger und Spätentwickler gibt, die zwar in jungen Jahren keine guten Leistungen erbrachten, sich aber trotz des späten Einstiegs im Erwachsenenalter zur Weltspitze hocharbeiteten. Ein Beispiel aus dem Fußball für diese Spätentwickler ist der Bremer Nationalspieler Miroslav Klose, der erst mit 21 Jahren aus dem Amateurbereich in den Profibereich wechselte und bis zum 15. Lebensjahr gar nicht Fußball gespielt hatte. All diese Argumente sprechen für die retrospektive Analyse als geeignete Methode zur Talenterkennung, wobei klarzustellen ist, dass diese Methode für die Praxis fast bedeutungslos ist, da sie mit zuviel Aufwand verknüpft ist und da die Verantwortlichen frühzeitig eine Prognose darüber erhalten möchten, ob sie es mit einem Talent zu tun haben oder nicht.
Eine letzte Strategie zur Talenterkennung, die sich auch wieder auf den dynamischen Talentbegriff bezieht, ist die Talenterkennung als Prozess (vgl. Joch, 1997, S. 64). Diese Strategie zeichnet sich durch eine Verknüpfung von Talenterkennung und Trainings-prozess aus. Thiess formuliert das folgendermaßen:
„Sportliches Talent und sportliches Training sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Das sportliche Talent entfaltet sich nur im zielstrebigen und effektiven Training, also in der Tätigkeit. Und umgekehrt: Wer im Verlaufe des Trainings eine für ihn besonders anzustrebende sportliche Leistung (…) erzielen will, muss dafür die erforderlichen Fähigkeiten besitzen und diese ständig durch Tätigkeit entwickeln.“ (Thiess 1989, S. 11)
Ein weiteres Argument für die Talenterkennung als Prozess ist die Tatsache, dass Talentdiagnostik unweigerlich Prozesscharakter besitzt, der aktiv im Sinne von Training zu gestalten ist. Damit wird es unmöglich, den Prozess der Talenterkennung von dem Prozess der Talentförderung zu trennen. Erst die Integration der Talenterkennung in Maßnahmen der Talentförderung gewährleistet eine hinreichende Diagnosesicherheit (vgl. Joch, 1997, S. 65).
2.4 Der Begriff „Talentförderung“
Nach der erfolgreichen Talenterkennung setzt im Allgemeinen die Talentförderung ein, um die jungen Sportler möglichst effektiv auf spätere sportliche Höchstleistungen vorzubereiten. Wie oben argumentiert kann der Talenterkennungsprozess als Teil der Talentförderung angesehen werden, was umgekehrt natürlich auch zutrifft. In der Sportwissenschaft haben sich mehrere Strategien der Talentförderung etabliert, die hier im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Eine grundlegende Methode der Talentförderung ist das „Wachsenlassen“. Bei der Talenterkennung kommt es zwangsläufig zu einer Prognoseunsicherheit, da sich Entwicklungsverläufe von jungen Sportlern nicht einfach in das Erwachsenenalter hochrechnen lassen. Deshalb sind bei der Talentförderung Strategien zu bevorzugen, die möglichst wenig in den Entwicklungsprozess normativ eingreifen und größten Wert auf den Aspekt der individuellen Entfaltung legen.
Die Theorie des „Wachsenlassens“ stammt ursprünglich aus der Pädagogik und meint, dass auf die dem Kind innewohnenden Kräfte gebaut werden sollte und pädagogische Maßnahmen nur angewandt werden sollten, um schädigende Einflüsse fernzuhalten. In dieser Theorie steckt die Hoffnung, dass sich Talente auch ohne gezielte Förderung bestmöglich entwickeln und sich am Ende mit Sicherheit durchsetzen werden. Allerdings wird die Strategie des „Wachsenlassens“ inzwischen auch stark kritisiert, da belegt wurde, dass es mit Hilfe von gezielter Förderung möglich ist, Leistungen zu optimieren und den Entwicklungsprozess der jungen Sportler optimal zu steuern. Dennoch vertrauen heute noch viele Trainer und Sportlehrer darauf, dass es für die Talente am besten sei, nicht einzugreifen und sie sich allein entwickeln zu lassen. In Bezug auf den Fußballsport müsste nach dieser Theorie der Straßenfußball als größtes Talentreservoir angesehen werden, und mit Erreichen des Erwachsenenalters müssten talentierte Straßenfußballer dann weit genug entwickelt sein, um in den professionellen Bereich zu wechseln. Es ist offensichtlich, dass diese Theorie sehr naiv ist und praktisch nicht funktionieren würde.
Ein völlig anderes Konzept der Talentförderung ist die Reduzierung von Freiheitsgraden. Dieses Konzept wurde vor allen Dingen vom Sportsystem der ehemaligen DDR angewandt. Während beim „Wachsenlassen“ alle Freiheitsgrade für die Kinder erhalten bleiben sollen, werden bei diesem Konzept verschiedene Freiheitsgrade bewusst reduziert, um den Entwicklungsprozess der Kinder möglichst günstig und effektiv zu steuern. Begründet wurde dieses Konzept wie folgt:
„Wenn die Vielzahl der (beinahe unendlich vielen) Einwirkungen auf die individuelle Entwicklung eher als Störgrößen für einen normierten, programmierbaren und prognostizierbaren Verlauf der Leistungsentwicklung angesehen werden, dann ist es nur konsequent, die Entwicklung der sportlichen Leistungsfähigkeit möglichst eindimensional zu kanalisieren, also auf eine konsequente Reduzierung der Freiheitsgrade zu setzen, damit die vorgegebenen Leistungsziele störungsfrei erreicht werden.“ (Joch, 1991)
Dieses System war sehr erfolgreich, was die vielen Erfolge und Rekorde der damaligen DDR-Sportler beweisen. Allerdings ist es auch kritisch zu betrachten, da die Sportler zum einen sehr früh spezialisiert und damit einseitig ausgebildet wurden und die Normierung der Trainingsabläufe zum anderen eine individualisierte Sportlerpersönlichkeit mit nicht linearen Entwicklungsverläufen negierte. Der Grund für den Erfolg wird häufig in der Verknüpfung von monopolistischem Staat und Sport gesehen.
Eine völlig andere Strategie der Talentförderung ist die intentionale Vielseitigkeit. In der Sportwissenschaft hat sich die Auffassung etabliert, dass sich Talentförder-maßnahmen am Grundsatz der Vielseitigkeit zu orientieren haben. Diese Vielseitigkeit soll vor allem in die Grundlagen-Phase der Talentförderung einfließen, was praktisch bedeutet, dass ein Fußballtalent im Fördertraining nicht zwangsläufig nur Fußball spielen soll, sondern auch andere Sportarten erlernen darf. Besonders im Bereich der Koordination ist ein vielseitiges Training vor allem für sehr junge Talente extrem wichtig, da die Koordination von Bewegungsabläufen schon ab einem Alter von sechs Jahren gut trainierbar ist, und da Versäumnisse im koordinativen Bereich häufig noch bis in das Erwachsenenalter hineinwirken können.
Vielseitigkeit kann im Zuge der Talentförderung unterschiedlich gemeint sein. Es kann zum einen um vielseitiges (d.h. abwechslungsreiches) Training gehen oder um die Vielseitigkeit der Bewegungserfahrungen. Heute erfolgt der Weg der Leistungsentwicklung im Sport über die Vielseitigkeit zur Spezialisierung. Das bedeutet, dass die jungen Sportler im Entwicklungsprozess immer weiter spezialisiert und auf die kommenden Aufgaben vorbereitet werden.
Intentionale Vielseitigkeit bedeutet also, den jungen Sportlern vielseitiges Training anzubieten, damit sie neben verschiedenen Bewegungsangeboten (also z.B. verschiedene Erfahrungen in unterschiedlichen Sportarten oder koordinative Grundlagenausbildung) auch abwechslungsreiches Training genießen, was sich wiederum positiv auf die Motivation auswirkt.
Vergleicht man die drei Talentförder-Strategien des „Wachsenlassens“, der Reduzierung der Freiheitsgrade und der intentionalen Vielseitigkeit, so ist zu beobachten, dass jede dieser Strategien neben offensichtlichen Vorteilen auch einige Nachteile hat. Für den Fußballsport erscheint das Konzept der intentionalen Vielseitigkeit am geeignetesten, da es zwar in die Entwicklung der Talente eingreift, diese dabei aber vielseitig und umfassend ausbildet und gleichzeitig den Lerner in den Entwicklungsprozess einbezieht. Die verschiedenen Talentförder-Philosophien der Bundesliga-Vereine und des DFB unterstützen diese Meinung, da auch hier darauf Wert gelegt wird, die jungen Kinder möglichst vielseitig auszubilden, um eine zu frühe Spezialisierung zu vermeiden.
Auch der Vorschlag des DFB-Sportdirektors Matthias Sammer (auf dieses Konzept wird zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit noch näher eingegangen), in Kindergärten und Schulen künftig Koordinationsangebote anzubieten, ist ein Beleg für das Interesse an intentionaler Vielseitigkeit.
3. Soziologische Theorie
Der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen haben vielfältige Bedeutungen für die Soziologie. Dieses Kapitel soll beleuchten, inwieweit sich die Sportart Fußball in die Soziologie eingliedern lässt, bzw. wie sich heutige soziologische Theorien auf das Sportartensystem anwenden lassen. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann gelegt. In diesem Kapitel soll es zuerst darum gehen, die allgemeine soziologische Bedeutung des Fußballs zu erklären und die Funktionen herauszustellen, die der Fußball für die Gesellschaft leistet. Danach soll ein kurzer Blick auf die theoretischen Grundlagen der Systemtheorie Luhmanns geworfen werden, bevor die differenzierungstheoretischen Erkenntnisse Luhmanns dann auf das funktional differenzierte Sportartensystem angewendet werden soll. Bezug genommen wird dabei in erster Linie auf Schulze (2005), da dieser sich detailliert mit dieser Problematik auseinander gesetzt hat.
3.1 Die allgemeine Bedeutung des Fußballs für die Gesellschaft
Sowohl der Sport allgemein als auch speziell der Fußball erfüllen eine Vielzahl von Funktionen. Es gibt dabei Funktionen für den Einzelnen (also den Aktiven), Funktionen für die Zuschauer und Funktionen für die Gesellschaft. Es ist in der Literatur unbestritten, dass der Sport Funktionen für die heutige Gesellschaft erfüllt. So wird durch das Sportsystem das Leistungssystem der Gesellschaft bestätigt, wobei es im Sport besonders auf die Prinzipien der Leistung, der Konkurrenz und der Gleichheit ankommt. Der Fußball stellt somit eine Art „Ideal-Realisierung“ des Leistungssystems der Gesellschaft dar, da im Gegensatz zur Gesellschaft im Sport ein grenzenloser Aufstieg verwirklicht werden kann. So ist es z.B. Talenten aus den untersten sozialen Schichten möglich, sich innerhalb weniger Jahre zu Millionären mit außerordentlichem sozialem Ansehen hochzuarbeiten. Zwar ist diese Entwicklung prinzipiell auch in anderen Bereichen der Gesellschaft möglich (z.B. in der Wirtschaft), kommt aber nicht so häufig und meist nicht so ausgeprägt vor wie im Sport.
Im Vergleich zu anderen Subsystemen der Gesellschaft gibt es im Fußball einen hohen Grad an Transparenz, was den Sport insgesamt glaubwürdig macht. Hierarchien im Sport werden durch Leistung legitimiert, und da besonders Spitzensportler ständig unter Beobachtung der Öffentlichkeit und der Medien stehen, werden selbst kleinste Fehler und Formschwankungen frühzeitig erkannt. Nur wer im Sport konstant herausragende Leistungen erbringt ist auch in der Lage, sich langfristig im Spitzensport zu etablieren. Diese Transparenz ist ein Gegensatz zu den Verhältnissen im „normalen“ Berufsleben, wo die Hierarchien oft durch Beziehungen und Bevorzugungen zustande kommen und wo Fehler und Schwächen viel öfter unbemerkt und somit ohne Konsequenzen bleiben (z.B. im Lehrerberuf).
Eine weitere wichtige Funktion, die der Fußball für die Gesellschaft leistet, ist die Stärkung des nationalen Prestiges. So meint etwa Norbert Elias, dass „besonders Fußball-Wettspiele zu einem friedlichen Kampfplatz der Nationen geworden sind. Das ist natürlich etwas außergewöhnlich Gutes, dass die Nationen in der Lage sind, ihre Rivalitäten sportlich auszutragen.“ (Elias, in Lindner 1983, S. 20-21)
Teilweise ist diese Aussage von Norbert Elias sicherlich schlüssig, aber es gibt auch viele Beispiele, die das Gegenteil unterstützen. Es steht außer Frage, dass Fußball verschiedene Menschen und auch verschiedene Kulturen verbindet, aber der Fußball vermag es nicht in letzter Konsequenz, politische Konflikte zu verhindern. Ein Beispiel dafür stellt das Freundschaftsspiel zwischen der Nationalmannschaft der U.S.A. und der Nationalmannschaft des Iran dar. Im Vorfeld dieses Spiels, welches Ende der neunziger Jahre stattfand, wurde von den Medien mehrfach darauf hingewiesen, welch politisch positive Bedeutung dieses Spiel für die Zukunft dieser beiden Länder habe. In der Realität aber änderte sich am politischen Verhältnis zwischen diesen beiden Ländern wenig, und momentan scheint es fast so, als stünde ein militärischer Konflikt unmittelbar bevor. Aber auch wenn dieses Beispiel deutlich macht, dass Fußball politische Konflikte nicht vollständig lösen kann, so hilft der Sport doch häufig bei der Integration von Minderheiten. So verwundert es nicht, dass viele der Programme, die heute in Deutschland dazu beitragen sollen, kulturelle Minderheiten besser in die Gesellschaft zu integrieren, etwas mit Sport zu tun haben. Denn gerade weil es im Sport oft nicht auf verbale Kommunikation ankommt, sondern häufig durch Bewegungen kommuniziert wird, sind Menschen unterschiedlicher Kulturen, die sich sprachlich vielleicht nicht verständigen könnten, doch durch den Sport in der Lage zu kommunizieren.
Dass der Fußball zur Stärkung des nationalen Prestiges beitragen kann, hat im besonderen Maße die vergangene Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland bewiesen. Vor diesem sportlichen Großereignis galten Deutschland und die deutschen Bürger im Ausland als unfreundliches, kühles und distanziertes Volk, und auch die Stimmung innerhalb Deutschlands war eher pessimistisch und unsicher. Die Nationalmannschaft konnte vor und während der WM als Spiegelbild der deutschen Gesellschaft angesehen werden, nicht zuletzt, weil sowohl der Nationalmannschaft als auch den Deutschen generell international wenig Beachtung und Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Euphorie aber, die durch die Erfolge der deutschen Fußball-Nationalmannschaft beim Volk entfacht wurde führte dazu, dass sich sowohl das Selbstbild der Deutschen als auch die Sicht der ausländischen Beobachter gründlich veränderten. Plötzlich traten dem allgemeinen Negativismus der Deutschen neue Hoffnung und ein positives Selbstbild entgegen, und auch die ausländischen Besucher erlebten Deutschland plötzlich als lebensfrohes und gastfreundliches Land.
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[1] Im Laufe dieser Arbeit wird der Deutsche Fußball Bund mit „DFB“ abgekürzt werden. Nähere Informationen zu anderen Abkürzungen findet der Leser im Abkürzungsverzeichnis am Ende der Arbeit
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- Florian Schumacher (Author), 2006, Talentintegration in Deutschland. Talenterkennung und -förderung im Fußballsport, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73095
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