In dieser Arbeit werden die beiden Theologen Barth und Bonhoeffer spannungsreich gegenüber gestellt.
Sie kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen. Ihre Väter sind beide Professoren, jedoch entwickeln sie sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Welt zu organisieren sei. Barth nimmt eine Pfarrstelle in einem Schweizer Dorf an und interessiert sich besonders für die Probleme und Belange der Arbeiter der Gemeinde. Er wird dort sozialistisch geprägt, während Bonhoeffer sein Leben lang eine wertkonservative Grundordnung mit einem klaren Oben und Unten annimmt.
Während Barth Mitte der 30er Jahre der SPD beitritt, um die Demokratie zu erhalten, bleibt Bonhoeffer parteipolitisch ungebunden, neigt aber zu einem aristokratischen Staatsmodell. Das soll aber keineswegs bedeuten, dass er damit starr und reaktionär wäre, sondern ganz im Gegenteil ist er ein geistig sehr flexibler Mensch - voller Energie. Auch Barth ist voller Energie und kann in dieser Kopnstellation als langjähriger, väterlicher Freund Bonhoeffers bezeichnet werden. Von dessen theologischem Denken lässt sich Bonhoeffer inspirieren und leiten, obwohl er in manchen Punkten eigene Wege geht, die er aber jeweils innerhalb der Theologie Barths und nicht außerhalb dieser verstanden wissen möchte.
In dieser Arbeit wird untersucht, inwieweit sich diese Ansätze auf die Begründung und Ausführung ihrer jeweiligen Ethik auswirken. Diese unterschiedlichen Ansätze und Grundannahmen zeigen sich besonders in ihrem Verständnis von Gesetz und Evangelium, oder wie Barth sagen würde: Evangelium und Gesetz. Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden die Ursprünge der Begriffe Gesetz und Evangelium im Judentum bzw. im Frühchristentum. Es wird erläutert, wie Paulus in den seinen Briefen mit der Spannung zwischen diesen Polen umgeht und wie sich das Verhältnis und die Betrachtungsweise auf beide im Laufe der Jahrhunderte bis hin zur liberalen Theologie im 20. Jahrhundert entwickelt hat. Die Erläuterung geht spotartig durch die Kirchengeschichte. Auf diesem Hintergrund wird das fachliche und menschliche Aufeinandertreffen von Barth und Bonhoeffer beleuchtet. Wer sich für die Auseinandersetzung mit der christlichen Ethik interessiert, sollte an diesem Werk nicht vorüber gehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsklärung
2.1. Gesetz
2.2. Evangelium
3. Verhältnis von Gesetz und Evangelium dogmengeschichtlich
3.1. Paulus Verständnis
3.2. Augustins Verständnis
3.3. Luthers Verständnis
3.3.1. Erkenntnis Luthers
3.3.2. Verknüpfung von Gesetz und Evangelium
3.3.3. Sinn und Nutzen des Gesetzes bei Luther
3.4. Verständnis im Altprotestanten
3.5. Verständnis im theologischen Liberalismus
4. Karl Barth
4.1. Biographische und zeitgeschichtliche Einflüsse auf die Theologie Karl Barths
4.2. Verhältnis von Evangelium und Gesetz bei Barth
4.2.1. Gegensätzlich und doch geeint
4.2.2. Die Gnade Gottes
4.2.3. Jesus Christus als Gnade Gottes
4.2.4. Das Gesetz Gottes
4.2.5. Gesetz für die weltliche Ordnung
4.2.6. Gesetz als Sündenspiegel
4.2.7. Gesetz zum Handeln
4.2.8. Die Sünde des Menschen
4.2.9. Hineinkommende Gnade
4.3. Barths Begründung der Ethik
4.3.1. Gott als handelndes Subjekt
4.3.2. Erwählung der Menschen
4.3.3. Existieren im Handeln
4.3.4. Das Handeln Gottes im Menschen
4.3.5. Offenbarung Gottes
4.3.6. Die Rede von Gott
4.3.7. Der Anspruch Gottes an den Menschen
5. Wechselseitige Einflüsse von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer
5.1. Erste Begegnungen
5.2. Briefwechsel
6. Dietrich Bonhoeffer
6.1. Biographische und zeitgeschichtliche Einflüsse auf die Theologie
Dietrich Bonhoeffers
6.2. Verhältnis von Gesetz und Evangelium bei Bonhoeffer
6.2.1. Gesetz und Evangelium - Gegensatz und doch geeint
6.2.2. Gnade Gottes
6.2.3. Jesus Christus ist diese Gnade
6.2.4. Christus bindet an das Gesetz – das Gesetz bindet an Christus
6.2.5. Das Gesetz für die weltliche Ordnung
6.2.6. Gesetz als Sündenspiegel
6.2.7. Gesetz zum Handeln
6.2.8. Die Sünde des Menschen
6.3. Bonhoeffers Begründung der Ethik
6.3.1. Wirklichkeitsbegriff
6.3.2. Freiheitsbegriff
6.3.3. Die Kirche (überarbeiten!)
6.3.4. Das Kreuz auf sich nehmen
6.3.5. Relation zu Christus in der Relation zum Nächsten
6.3.6. Sind Jesu Gebote wörtlich gemeint?
6.3.7. Konkrete Ethik
7. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Begründung der Ethik von
Barth und Bonhoeffer
7.1. Gemeinsamkeiten
7.2. Unterschiede
7.2.1. Evangelium und Gesetz - Gesetz und Evangelium
7.2.2. Wirklichkeit und Existenz
7.2.3. Wissen von Gott
7.2.4. Freiheit
7.2.5. Die Kirche – Verkündigerin des Willens Gottes?
7.2.6. Sünde
7.3. Ergebnis
8. Fazit
8.1. Reflexionen von Barth und Bonhoeffer
8.2. Herausforderungen bei der Ausarbeitung der Arbeit
8.3. Ist ihre Ethik noch zeitgemäß?
9. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Mit dieser Arbeit möchte ich die Grundlagen und Hintergründe des theologischen Denkens von Karl Barth (1886-1968) und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) erläutern, um daraus deren jeweilige Begründung der christlichen Ethik aufzuzeigen.
Ich bin Bonhoeffer das erste Mal während meines Zivildienstes in Bremen begegnet – wohl bemerkt nur in Form seines Werkes ‚Widerstand und Ergebung’. Dabei war ich gleich fasziniert von seinen warmherzigen Briefen aus der der Kälte der Haft heraus. Er beeindruckte mich mit der Kraft, die er für andere Menschen zu haben schien, während es ihm selbst nicht gut ging. Diese Stärke in schwierigen Situationen begeisterte mich, ließ mich noch andere Werke von ihm lesen und weckte mein Interesse am Christsein. Seine Gedanken und Werke begleiteten mich auch während der Studienzeit. Immer wieder fiel in seinen Arbeiten der Name Karl Barth. Bonhoeffer schien großes Interesse und großen Respekt vor diesen Mann zu haben. Ich wollte daher wissen, was dahinter steckt. Daher hatte ich schon frühzeitig, vor meinem Auslandssemester in Schweden, den Entschluss gefasst, über dieses Themengebiet meine Examensarbeit zu schreiben. Vorweg möchte ich die beiden Menschen kurz vorstellen und daraufhin meine Gliederung darstellen.
Barth und Bonhoeffer kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen. Ihre Väter sind beide Professoren, jedoch entwickeln sie sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Welt zu organisieren sei. Barth nimmt eine Pfarrstelle in einem Schweizer Dorf an und interessiert sich besonders für die Probleme und Belange der Arbeiter der Gemeinde. Er wird dort sozialistisch geprägt, während Bonhoeffer sein Leben lang eine wertkonservative Grundordnung mit einem klaren Oben und Unten annimmt. Während Barth Mitte der 30er Jahre der SPD beitritt, um die Demokratie zu erhalten, bleibt Bonhoeffer parteipolitisch ungebunden, neigt aber zu einem aristokratischen Staatsmodell. Das soll aber keineswegs bedeuten, dass er damit starr und reaktionär wäre, sondern ganz im Gegenteil ist er ein geistig sehr flexibler Mensch, voller Energie. Das gilt auch für Barth, der sich wie Bonhoeffer von der politischen wie liberalen theologischen Grundströmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts absetzt. Dabei kann Barth als langjähriger väterlicher Freund Bonhoeffers bezeichnet werden, von dessen theologischem Denken Bonhoeffer sich inspirieren und leiten lässt, obwohl er in manchen Punkten eigene Wege geht, die er aber jeweils innerhalb der Theologie Barths und nicht außerhalb dieser verstanden wissen möchte.
In dieser Arbeit wird untersucht, inwieweit sich diese Ansätze auf die Begründung und Ausführung ihrer jeweiligen Ethik auswirken. Diese unterschiedlichen Ansätze und Grundannahmen zeigen sich besonders in ihrem Verständnis von Gesetz und Evangelium, oder wie Barth sagen würde: Evangelium und Gesetz. Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden die Ursprünge der Begriffe Gesetz und Evangelium im Judentum bzw. im Frühchristentum. Es wird erläutert, wie Paulus in den seinen Briefen mit der Spannung zwischen diesen Polen umgeht und wie sich das Verhältnis und die Betrachtungsweise auf beide im Laufe der Jahrhunderte bis hin zur liberalen Theologie im 20. Jahrhundert entwickelt hat. Die Erläuterung geht spotartig durch die Kirchengeschichte. Sie startet bei Augustin, macht bei Luther und den Altprotestanten Halt wirft ein Schlaglicht auf die historisch-kritischen Ansätze der liberalen Theologie. Dieser dogmengeschichtliche Teil dient der Verdeutlichung der Bezüge in Anlehnung und Ablehnung der Theologie Barths und Bonhoeffers.
Im Folgenden wird Barths Werdegang mit zeitgeschichtlichen Einflüssen und persönlichen Entwicklungen bis zum Erscheinen der Schrift 'Evangelium und Gesetz' 1935 aufgezeigt, auf der ein Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt. Es folgt seine Begründung der christlichen Ethik. Nach einem kurzen Schlaglicht auf persönliche und briefliche Kontakte zwischen Barth und Bonhoeffer, wird Bonhoeffers Werdegang mit zeitgeschichtlichen und persönlichen Umständen bis zu seinem Werk der 'Nachfolge' 1937 dargestellt. In der Beleuchtung seiner Sichtweise auf Gesetz und Evangelium wird dieses Werk besonders berücksichtigt. Es folgt seine Begründung für die christliche Ethik. Zuletzt werden die Gemeinsamkeiten der theologischen Ansätze in der Abgrenzung vor allem zur liberalen Theologie aufgezeigt und beleuchtet. Außerdem wird dargestellt, in welchen Punkten Barth und Bonhoeffer unterschiedliche Ansätze haben und wie sich diese auf deren jeweilige Ethik auswirken.
Meine Arbeit bezieht sich in der Hauptsache auf die Zeit bis Ende der 30er Jahre. Spätere Werke und Veröffentlichungen treten nur als Randnotizen in Erscheinung.
2. Begriffsklärung
Um den Streit über den Stellenwert von Gesetz und Evangelium in der Geschichte und Zeitgeschichte des Christentums zu verstehen, werden beide Begriffe näher untersucht. Dabei geht es um die Wandlung deren Bedeutung und die Frage, welchen ursprünglichen Stellenwert sie im Judentum bzw. im Urchristentum hatten.
2.1. Gesetz
Gesetz ist die deutsche Übersetzung des griech. nomos, mit dem die griech. Bibelübersetzungen der Septuaginta das hebr. Tora wiedergibt. Wörtlich meint Tora jedoch ‚Lehre’. Das in den letzten vier Büchern des Pentateuchs[1] enthaltene Gesetz genießt als Offenbarung Gottes höchste Autorität bei den Juden.[2] Geschriebene Tradition und mündliche Überlieferungen erhielten später dieselbe Autorität wie das Pentateuch selbst, denn beides wurde auf die Gesetzestafeln, die Mose am Berg Sinai erhielt, zurückgeführt. Aus Sicht der Rabbiner ist das Gesetz schon vor der Schaffung der Welt existent gewesen. Gott hat seinen Willen für Israel alleine im Gesetz kundgetan und daher kann der Mensch allein durch das Gesetz ein Verhältnis zu Gott aufbauen. Da Israel von Gott erwählt sei, seien die Juden auch Gott die unbedingte Einhaltung der Gesetze schuldig. Es wird also stets vorausgesetzt, dass die Gesetze erfüllbar sind und die Gebote von Menschen eingehalten werden können. Den Stammvätern Abraham und Mose war es möglich, das Gesetz einzuhalten. Ihnen wird dafür göttlicher Lohn zuteil: Sie werden der Auferstehung der Toten gewürdigt werden und in das Leben der zukünftigen Welt eingehen. Daher ist die Übergabe des Gesetzes an Israel ein Akt der Liebe Gottes, denn er hat seinem Volk dadurch die Möglichkeit gegeben, gute Werke zu vollbringen, sich Verdienste zu erwerben und die Gerechtigkeit zu erlangen. Darum bedeutet das Gesetz Leben; ohne das Gesetz gibt es kein Leben.[3] Die grundsätzliche Aufhebung kann nur Gott selbst bewirken und so wird – wie im Talmud erklärt wird – in den Tagen des ‚Messias’ das weit verästelte Zeremoniell, das allein der Erhaltung und Festigung der jüdischen Gemeinde dient, seine verpflichtende Kraft verlieren.“[4]
2.2. Evangelium
Von dem griech. Euangelion kommend, meint Evangelium die „gute Botschaft“. Mit dem Evangelium ist die Heilsbotschaft von Jesus Christus gemeint. Es wurde ursprünglich nur im Singular verwendet und meinte allein die mündlich überlieferte Rede von Christi Tod und Auferstehung als Heil für die Menschen. Nach dem ältesten Gebrauch geht es nicht um die Lebensgeschichte Jesu, sondern um ihn selbst als Christus, Gottes Sohn und Herr. Wichtig war dabei sein Tod und seine Auferstehung als eschatologisches Heilsereignis. Markus hat als erster der Heilsbotschaft die Geschichte Jesu zugeordnet. Das Evangelium war für ihn jedoch immer noch eine ‚außerhalb seines Buches stehende Größe’. Das irdische Wirken Jesu wird zur Veranschaulichung der Christusbotschaft erzählt.[5]
3. Verhältnis von Gesetz und Evangelium dogmengeschichtlich
Nachdem im vorigen Kapitel die ursprüngliche Bedeutung von Gesetz und Evangelium kurz dargelegt wurde, wird in diesem Kapitel anhand von ausgewählten Vertretern erläutert, wie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium durch die Zeiten gesehen wurde. Der Bogen wird von Paulus, über Augustin, Luther, den Altreformatoren bis zur liberalen Theologie gespannt.
3.1. Paulus Verständnis
In diesem Abschnitt wird Paulus Verständnis von dem Zusammenhang von Gesetz und Evangelium dargelegt. Er greift die Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen diesen beiden besonders im Römer- und Galaterbrief auf. Dabei stellt er zwar Gesetz und Evangelium noch nicht direkt gegenüber, wohl aber Gesetz und Christus, Gesetz und Geist, Leben unter dem Gesetz und Leben im Glauben. Mit diesen Gegensatzpaaren meint er dasselbe wie Luther mit Gesetz und Evangelium. Schon Paulus versteht das Gegenüber von Gesetz und Evangelium als Antithese und damit als Gegensatz.[6] Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt.
Paulus spricht von Gesetz (nomos) und meint damit das konkrete, alttestamentliche Gesetz, wie es auch im Judentum verstanden wurde. Die darin enthaltenen kultischen Ordnungen (Beschneidung, Reinheitsgebot, Opfer), die Israel gegeben waren und durch die es von den Völkern getrennt war, sind für Paulus in Christus aufgehoben. Die aus Juden und Heiden in Christus geeinte Gemeinde ist nicht mehr an diese Gesetze gebunden[7]: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“[8]
Der Weg zum Heil und zur eigenen Rechtfertigung durch das Gesetz ist seit Christi Kreuzestod für den an Christus glaubenden Menschen grundsätzlich nicht vorhanden. Allein der Glaube an Jesus Christus bleibt als Weg[9]: „Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Jesus Christus und nicht durch die Werke des Gesetzes, denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht.“[10] Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Funktion, die Paulus dem Gesetz und dem Glauben zuweist. Gott hat schon Abraham durch den Glauben, und nicht durch seine Werke Gerechtigkeit zugesprochen. Das Gesetz ist als verklagend-richtende Macht dazwischen gekommen, damit dem Sünder ein Spiegel vorgehalten wird und er erkennt, dass er vor dem Gesetz nicht bestehen kann. Wenn er Christus als Befreier erkennt, dann erkennt er auch, dass Christus den todbringenden Fluch des Gesetzes am Kreuz getragen hat[11]: „Wir wissen aber: was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei, weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“[12] Das Gesetz bekommt demnach die Funktion, Sündenerkenntnis zu bewirken. Paulus geht in Röm 7,7ff. aber noch einen Schritt weiter und sagt, dass das Gesetz die Begierde sogar erst durch das Verbot weckt. Christus ist die einzige Möglichkeit, dem todbringenden Fluch des Gesetzes zu entkommen. Diese Möglichkeit zeigt Paulus auch noch einmal in Röm.7,5f. auf: „Denn solange wir dem Fleisch verfallen waren, da waren die sündigen Leidenschaften, die durchs Gesetz erregt wurden, kräftig in unseren Gliedern, sodass wir dem Tode Frucht brachten. Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, so dass wir dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens“.
Paulus sieht Gesetz und Christus als das Nacheinander zweier heilsgeschichtlicher Zeiten. Durch Adam und den Sündenfall ist die Verdammnis in die Welt gekommen. Durch die Gesetze ist den Menschen die Sünde bewusst geworden. Paulus meint, manche Sünde werde erst durch das Bewusstsein der Sünde geweckt.[13] Christus jedoch starb aus Gnade für die Sünder: „Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen, damit die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden, damit wie die Sünde geherrscht hat zum Tode, so auch die Gnade herrsche durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.“[14]
Paulus meint, obwohl das Gesetz nicht mehr als Weg zum Heil angesehen werden kann, steht in dem Israel offenbarten Gesetz dennoch der unvergängliche Gotteswille geschrieben. Als Forderung Gottes bleibt es in seinem totalen Anspruch an das Leben des Menschen gültig. Dieser Gotteswille wurde Israel in den Gesetzen offenbart und steht über aller Menschheit universell in Kraft[15]: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.“[16]
Für Paulus resultiert aus dem Glauben an Christus auch das richtige Verständnis zur Erfüllung und Aufrichtung des Gesetzes. Der Geist bewirkt die Liebe in dem an Christus glaubenden Menschen.[17] Liebe ist für ihn aber keine Leistung, sondern eine Tat der Freiheit, in der sich Glaube und Hoffnung auswirken und bewähren.[18] „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“[19] Der an Jesus Christus glaubende Mensch erfüllt das Gesetz also dadurch, dass er den Nächsten liebt.
Er fordert auch Abgrenzung von der Welt: „Gestaltet euch nicht diesem Äon gleich, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung des Geistes, dass ihr prüfet, was Gottes Wille ist, das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.“[20]
3.2. Augustins Verständnis
Augustin (354-430 n. Chr.) nahm die Antithese von Paulus wieder auf. Auch für ihn war Gesetz und Gnade ein Gegensatzpaar, das aber zusammen gehört. Der eine Gott spricht im Gesetz und offenbart seine Gnade in Christus und er spricht daraufhin im Gesetz, dass er seine Gnade offenbaren will. Die Forderung des Gesetzes ist final auf die Gnade, der Empfang der Gnade final auf die Erfüllung des Gesetzes bezogen. Insofern gehören Gesetz und Gnade zusammen. Es ist jedoch kein Stufenweg vom unvollkommenen Gesetz zur vollkommenen Gnade Christi, sondern wie bei Paulus gehört für Augustin Gnade und Gesetz als qualitatives Gegensatzpaar zusammen.[21]
Nach Augustin kommt zuerst Rechtfertigung des Sünders und dann die Erwählung. Rechtfertigung des Sünders bedeutet die Gerechtmachung und In-Ordnung-Bringung durch Herstellung des Übergewichts des Geistigen über das Sinnliche in der Einhauchung der Nächstenliebe. Trotz der ‚Prädestinationslehre’[22] hat Augustin am freien Willen des Menschen (liberum arbitrium) zeitlebens festgehalten. Die libertas, das Vermögen, das Gute zu wählen und auszuführen, ist zwar durch den Sündenfall verloren gegangen. Aber das bedeutet nicht den Verlust des liberum arbitrium, mit dem die Spontaneität und Selbstbestimmung des Willens gemeint sind. Gott gibt Glauben und gute Werke durch die Spontaneität des Willens. Die guten Werken des Menschen kommen nicht vom Menschen selber, sondern von Gott. Alles, was von Gott gegeben wird, gehört auch dem Menschen. Die Auserwählten werden zur Freiheit des Willens geführt. Die erwählende Gnade führt dabei zum Guten im Willen. Durch die Liebe werden die Werke gut. Das bezeichnet Augustin mit dem inneren Wort.[23] Es gibt ein mit Gottes Willen und Vernunft identisches ‚ewiges Gesetz’ (lex aeterna). Es ist an Ordnung, Frieden und Schönheit der Natur ablesbar. Sie ist durch die Vernunft bestimmt. Der Mensch kann nach Augustin aus seiner individuellen und sozialen Natur den Willen Gottes ableiten. Das Naturrecht ist dem Menschen besonders in der goldenen Regel ins Herz geschrieben: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“[24] Gott ruft im Gesetz wieder dorthin zurück. Dies ist für Augustin das äußere Wort. Die Rechtswelt ist in drei Bereiche gegliedert: den göttlichen der Christen (lex Christi), den natürlichen der Heiden (lex cordi) und den positiven der Juden (lex mosis).[25]
3.3. Luthers Verständnis
Das Evangelium ist für Luther (1483-1546 n. Chr.) nicht die historische Geschichte von Jesus Christus, sondern das Wort durch das sich Christus dem Sünder zuspricht als sein Befreier aus dem Gericht. Luther knüpft zunächst bei Augustin an und überträgt das ‚äußere’ und ‚innere’ Wort auf ‚Gesetz und Evangelium’.
3.3.1. Erkenntnis Luthers
Anfangs versuchte Luther das sola gratia[26] von Paulus mit den Worten vom Gericht nach Werken aus dem Neuen Testament zu vereinen. So verstand er die unverdiente Zuwendung Gottes anfangs als Kraft, damit der Mensch für seinen Freispruch etwas zu seiner Rechtfertigung mitwirken kann. Aber in der Praxis blieb für den Menschen und für Luther selbst immer die Frage, ob er denn auch genug mitgearbeitet hätte. Daran ist Luther als Mönch gescheitert.
Erst als Luther den Vers in Röm 1,17 neu als eine Zusage Gottes verstanden hat, konnte er seine Theologie der Gnade entfalten: „Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4):’Der Gerechte wird aus Glauben leben’ [oder: ‚Der aus Glauben Gerechte wird leben.’[27] ]“. Die Gerechtigkeit, die Gottes Gesetz fordert, spricht Gott in Christus dem Sünder bedingungslos zu. Der Mensch bekommt durch den Kreuzestod Christi nicht eine Kraft, die ihm beim Erreichen seiner Gerechtigkeit hilft. Der Mensch bleib also Sünder. Es ist für ihn nicht möglich, das Gesetz zu halten. Aber Christus hat seinen Tod für das Gericht des Menschen gegeben und seine Auferstehung für sein neues Leben. Gericht ist die Verurteilung des Menschen. Die Gnade ist die Aufhebung dieses Urteils durch Christus. Der Christ ist für Luther gleichzeitig Sünder und Gerechtfertigter (simul iustus et peccator). Luther fasste dies in das biblische Wort: „Gott tötet und macht lebendig; er führt in die Hölle und wieder heraus.“[28] Den Freispruch des Evangeliums kann nur erfahren, wen vorher der Schuldspruch des Gesetzes getroffen hat. Dem Selbstgerechten und auf seiner Selbstgerechtigkeit beharrenden kann die Gnade nicht helfen. Erst der Spiegel des Gesetzes zeigt ihm seine Ungerechtigkeit. Wenn das Gesetz richtig verstanden ist, muss es in die Gnade Christi hineinführen. Der Freispruch ist schon da, es kann und muss nichts mehr dafür getan werden.[29] Es gibt ein Spannungsmoment in Gottes Handeln zwischen Gesetz und Evangelium, der nur als trinitarisches Walten geglaubt werden können. Die Folge ist die Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment. Diese zwei Reiche Gottes sind getrennt, wirken aber ineinander. Im Reich Gottes zur linken herrscht der Kaiser mit dem Schwert. Hier wird gestraft und es gilt keine Gnadenverordnung, sondern die Ordnung der Gerechtigkeit. In dieses Reich gehört auch die Ehe, Familie und Wirtschaft. Dieses weltliche, linke Reich dient dem rechten, geistlichen Reich, da es den Frieden fördert und die Verkündigung ermöglicht. Im rechten Reich Gottes herrscht Christus durch Wort und Sakrament. Doch hier wird nicht durch ein Gesetz regiert, sondern lediglich durch die sündenvergebende Gnade. Die Dinge die im linken reich durch Zwang geschehen, werden im rechten Reich freiwillig getan. Der Christ tut hier Gutes in freier Spontaneität. Der Christ lebt in beiden Reichen als simul iustus et peccator. Beide Reiche sind in Leiden und Kreuz Jesu eins. Doch das linke Reich der Welt wird vor dem geistlichen Reich vergehen.[30]
3.3.2. Verknüpfung von Gesetz und Evangelium
Luther sah die besondere Schwierigkeit im Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Er selbst sah die Unterscheidung dieser beiden deshalb als „sehr hohe, die höchste Kunst in der Christenheit“[31]
Gesetz und Evangelium sind für Luther zwei Weisen des Wortes Gottes, die gegeneinander stehen. Es ist für ihn richtig, dass Christus die Erfüllung des Gesetzes schenkt und im Evangelium das Gesetz als Gebot bestätigt. Aber Evangelium und Gesetz sind ein Gegensatzpaar. In diesem Gegensatzpaar tötet das Gesetz damit das Evangelium lebendig machen kann, es stürzt in Anfechtung, damit das Evangelium daraus retten kann. Die entscheidende Frage dabei ist, welches Wort jetzt an der Zeit ist, dass des Gesetzes oder das des Evangeliums. Daraus ergibt sich für Luther sowohl die Unterscheidung, als auch die Aufeinanderfolge von Gesetz und Evangelium. Diese Aufeinanderfolge zeigt sich für ihn in den zwei Teilen des einen Wortes Gottes in der Heiligen Schrift. Luther will trotz der Gegensatzpaare ‚Gesetz und Evangelium’ und ‚Altes Testament und Neues Testament’ die Einheit des einen Wortes Gottes im Zeugnis der Heiligen Schrift unterstreichen und stellt sie deshalb in die sichernden Schranken der chalcedonensischen[32] Formel: ‚ungetrennt und ungeteilt - unvermischt und unverwandelt’.[33]
Der Christ kann nach Luther nichts zu seiner Rechtfertigung tun. Er kann nur hören und glauben, erst dann als Gerechtfertigter kann er im Glauben handeln. Luther sah die Aufhebung des Gesetzes (abrogatio legis) auf das ganze, unteilbare, mosaische Gesetz einschließlich des Dekalogs bezogen. Er meinte, die tora hat keine Gesetzeskraft für den Christen, dennoch ist sie für ihn relevant. Selbst der Dekalog ist nicht offenbarungspositivistisch zu sehen, denn dort sind nur die natürlichen Gesetze (lex naturalis) formuliert, die das Gewissen jedes Menschen treffen. Auch sonstige mosaische Vorschriften können als Vorbild für Gesetzgebung dienen. Die eigentliche Bedeutung des Alten Testaments liegt jedoch in dem, was wir nicht von Natur haben: den Verheißungen und den Beispielen des Glaubens und der Liebe.[34]
Bei Luther zeigt sich beispielsweise in der Predigt das Ineinander von Gesetz und Evangelium. Eine »absolute« Evangeliumspredigt ist für Luther Ausdruck angemaßter Sicherheit.[35] Beides soll und muss für Luther gepredigt werden, das tötende Gesetz, wie das lebendig machende Evangelium. Jedoch darf für Luther beides auf keinen Fall vermischt werden („permixtio legis et evangeleii“).[36] Das Gesetz würde zum Evangelium gemacht werden, wenn das Gesetz als ein Weg zum Heil angesehen wird. In diese Richtung ging die Scholastik mit der aristotelischen Tugendlehre zur Auslegung der Existenz vor Gott.[37] Auf der anderen Seite und nicht weniger verkehrt empfand Luther die Schwärmer mit ihrer Vergesetzlichung des Evangeliums. Dadurch würde es als Vorgabe einer Gnade gepredigt werden, die das Mitwirken des Menschen zum Erlangen des Heils einfordert. In beiden Fällen wird das Evangelium von Christus abgelöst und das Wort Gottes in die eigenwillige Verfügung des Menschen genommen.[38]
3.3.3. Sinn und Nutzen des Gesetzes bei Luther
Für Luther gibt es zwei Gebräuche und Nutzen des Gesetzes: Der erste Gebrauch ist der usus civilis oder usus politicus. Durch diesen Gebrauch des Gesetzes zeigt sich Gott in der Regelung des bürgerlichen Lebens und damit in den Gesetzen durch die Obrigkeit. Luther sagt, weil die Obrigkeit dieses Amt im göttlichen Auftrag innehat, ist in der weltlichen Autorität, Gottes Autorität zu ehren und in ihrer Strafe eine (vordergründige) Strafe Gottes zu sehen. Durch den usus civilis werden jedoch nur die Hände von Gewalttätern gebunden, nicht aber die Ungerechtigkeit der Menschen oder gar die Selbstgerechtigkeit gerichtet. Der zweite Gebrauch, der usus theologicus, usus elenchticus oder usus paedagogicus, wird vom Evangelium begründet. Er ist der wichtigste, oder wie Luther meinte, ‚vornehmste’ Gebrauch des Gesetzes. Er bezeichnet das richtende Wirken des Gesetzes durch das gepredigte Wort der Schrift. Durch das Wort in der Predigt und den Heiligen Geist ist das Erkennen und Aufdecken der Sünden für den Gläubigen möglich.[39] Es wird darin an das Gewissen appelliert, damit der Raum frei wird zum Hören auf das Wort der Vergebung. Vom Evangelium und der Rechtfertigung aus gesehen, ist für Luther allein der usus elenchticus legitim. Das Wort in der Predigt deckt dem Menschen seine Sünden auf. Es ist aber bei Luther stets in das Evangelium eingebettet und umklammert (Evangelium facit ex lege paedagogum in Christum[40]) Dieses Aufdecken der Sünden hat bei Luther die Funktion, dem Menschen sein Sündersein und vor allem die Unmöglichkeit seiner Selbsterlösung aufzuzeigen. Bei Luther ist der usus elenchticus aber auch stets wieder mit dem usus civilis verbunden. Das ordnende Gesetz des Staates steht im Dienst des geistlichen Regiments Christi.[41]
3.4. Verständnis im Altprotestanten
Während Luther nur die beiden Gebräuche usus civilis und usus elenchticus nennt, ist für Melanchton (1497 – 1560 n. Chr.) und Calvin (1509 –1564 n. Chr.) zusätzlich noch eine dritte Anwendung des Gesetzes (usus tertius legis) vorhanden. Diese ist für Calvin die wichtigste. Er ordnet dem Gesetz die Funktion des dankbaren Gehorsams als Wegweisung für den an Christus gläubigen Menschen zu. Der Wille Gottes soll dem gläubigen Menschen durch das Gesetz näher gebracht werden. Keiner hat den Willen Gottes ein für allemal verstanden. Das Gesetz zeigt dem Glaubenden, was Gott von ihm erwartet. Für ihn war nicht so sehr der sich tröstend zuwendende Gott im Vordergrund, als vielmehr die Verpflichtung des Menschen zum „unbedingten Gehorsam“[42]. Die Erfüllung der göttlichen Gebote ist nicht nur Konsequenz des Glaubens, sondern es ist die Aufgabe des Menschen, die Erde nach Gottes Willen zu gestalten.[43] Diesen, später usus didacticus und usus in renatis genannte Gebrauch des Gesetzes hatte Luther mit Absicht außen vor gelassen. Für Luther befreit das Evangelium aus dem Gericht und er hob die spontane, freie Tat des Gläubigen, der befreit durch das Evangelium handeln kann, hervor. Für die reformierte Theologie ergab sich diese Spannung aus Gesetzesgehorsam und befreitem Handeln durch das Evangelium nicht so stark.[44] Für sie ist das Hören auf das Gesetz nicht mehr aus Angst und Druck, sondern mit frohem, gläubigem Herzen hervorzuheben. Das geschöpfliche Sein des Menschen hat bei ihnen nicht so eine große Bedeutung wie bei Luther. Calvin hebt vor allem die Herrschaft Christi und seiner Gemeinde über die Welt hervor.[45]
3.5. Verständnis im theologischen Liberalismus
Die liberale Theologie war eine breite, nicht homogene Strömung vor allem im 19. Jahrhundert, die von verschiedenen philosophischen Richtungen beeinflusst wurde. Die Bibel als Heilige Schrift wird nicht als alleinige Offenbarungsquelle angenommen. Eines der Kennzeichen der liberalen Theologie ist, dass sie keine festen Glaubenswahrheiten (Dogmen) anerkennt, sondern sie nach den jeweiligen Umständen entsprechend verändert, da sie eine fortschreitende Entwicklung vom Urchristentum zur Moderne annimmt. Anstatt der Dogmen geht es um das subjektive Gefühl der Erfahrung. In diesem undogmatischen Christentum sollen sich Glauben und Vernunft versöhnen und sich nicht mehr widersprechen. Die Offenbarung geschieht nicht allein im Wort Gottes, sondern auch in der Natur, der Geschichte und im Selbstbewusstsein des Menschen. Die biblisch-reformatorische Rechtfertigungslehre wird durch eine ethische ersetzt und damit auch das Sündenverständnis moralistisch gesehen. Anstatt die Sündhaftigkeit des Menschen zu betonen, ist der liberalen Theologie die Würde des Menschen wichtig. Der Mensch steht im Mittelpunkt des liberal-theologischen Denkens. Zum optimistischen Menschenverständnis tritt ein ebensolches für die Geschichte hinzu. Aufgrund des Optimismus und Fortschrittglaubens wird ein weltgestaltender Glaube vertreten. Von Harnack beschreibt den Weg des Christentums als einen Fortschritt vom Alten Testament zum Evangelium im Neuen Testament im Anheben des Gesetzes „auf die neue Stufe“[46] Er sieht diesen Fortschritt also lediglich in einer besseren Ethik und in einer „besseren Gerechtigkeit“.[47] In der frühen Kirchengeschichte sieht er einen Irrweg, auf dem sich im Christentum Evangelium und griechische Metaphysik verbinden. In dieser Zeit entstanden erst die Dogmen. Schließlich werden die Dogmen durch Luther wieder aufgelöst und es kommt zu einer reinen „Gesinnungsgemeinschaft“.[48] Letztendliches Ziel ist nicht mehr das heraufgeführte Reich Gottes mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde, sondern das Reich Gottes soll sich innerweltlich durch menschliche Gestaltung verwirklichen. Staat und Kirche sollen enger zusammenwachsen.
Um dem modernen Menschen den Glauben einsichtig machen, sollen die Methoden der Wissenschaft auch in der Theologie angewendet werden. Die liberalen Theologen bemühen sich um eine saubere Literatur- und Quellenkritik. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die liberale Theologie zunehmend von Kants Philosophie geprägt. Einer der herausragenden Vertreter der späten liberalen Theologie war Adolf von Harnack (1851-1930). Das Wesen des Christentums besteht von Harnack zufolge in dem schlichten Evangelium des historischen Jesus, was dem modernen Gebildeten keine Verleugnung seiner wissenschaftlichen Überzeugung abverlangt. Die Aufgabe der Menschen ist es, den Willen des ‘liebenden Vaters Gottes’ zu tun. Als einzige wissenschaftliche Disziplin in der Theologie ließ Harnack als Kirchengeschichtler eben diese gelten. Jesus wollte die Menschen zu Gott führen, indem er selbstständiges, religiöses Leben entzündet hat.[49] Jesus ist für von Harnack nicht der Erlöser und damit nicht Christus. Dadurch lehnt er den Kern des Evangeliums, der Jesus als Christus verkündet, ab: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“[50]
Durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges erwies sich der positive Fortschrittsglaube als nicht tragfähig und die liberale Theologie erlitt einen Dämpfer.[51]
4. Karl Barth
4.1. Biographische und zeitgeschichtliche Einflüsse auf die Theologie Karl Barths
Karl Barth wurde 1886 als Sohn des Theologen Fritz Barth als ältester von fünf Kindern geboren und wuchs in Bern auf, wohin sein Vater als Professor berufen wurde. Auch Karl Barth studierte Theologie bei liberalen Theologen in Deutschland (u.a. bei von Harnack) und wurde dort vom Neuprotestantismus und Neukantianismus geprägt. Er wurde schnell Hilfsredakteur der Zeitschrift „Christliche Welt“. 1911 nahm Karl Barth eine Pfarrstelle in der kleinen Arbeiter- und Bauerngemeinde Safenwil in der Schweiz an. Dort wirkte er zunächst im Geist des religiösen Sozialismus und trat entschieden für die Arbeiter ein. Barth hatte das Gefühl, die Sozialdemokraten wären dem lebendigen Gott näher als die im „Mittelbaren steckengebliebene Kirche“[52]. Viele Intellektuelle in Deutschland unterschrieben ein Bekenntnis zur Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. Darunter waren auch Barths verehrte theologische Lehrer (u.a. von Harnack). Dieses Ereignis hat Karl Barth so stark getroffen, dass er deren Ethik, Dogmatik, ihrer Bibelauslegung und Geschichtsdarstellung nicht mehr folgen konnte und wollte.[53] Karl Barth war schockiert über die Christen, die im Zeitgeist unreflektiert mitströmten. Seine Erschütterung war wohl auch deshalb so groß, weil die sich so weltoffen gebende deutsche, liberale Theologie, aus seiner Sicht, in dieser Situation versagte.[54] Hinzu kam für Barth die drückende Frage, was er in seiner Landgemeinde in Safenwil mit gutem Gewissen noch predigen könne. Dieses Problem hat ihn noch lange beschäftigt.
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles andere ist daneben Kinderspiel“[55]
In dieser Zeit der Krise kommt er auf die Ursprünge des Christentums zurück: Das Wort Gottes in der Bibel. Er begründete seine eigene dialektische Theologie[56] oder „Theologie der Krise“. Bekannt geworden ist Barth durch seinen ersten Römerbriefkommentar von 1919. Dies war kein Kommentar im herkömmlichen Sinn, sondern ein Manifest als Herausforderung zur Diskussion. Internationale Bekanntheit erlangteBarth durch seine 1921 erschienene stark überarbeitete zweite Version des Römerbriefkommentars.[57]. Auch im zweiten Band ging es allein darum, die Verkündigung des sich offenbarenden Gottes in Jesus Christus, herauszuarbeiten. Barth wurde kurz darauf auf die neu eingerichtete Professur für reformierte Theologie nach Göttingen berufen und das obwohl er nie eine Dissertation oder Habilitation geschrieben hatte. 1923 hielt es der liberale Theologieprofessor von Harnack für angebracht, mit seinem ehemaligen Schüler einen öffentlichen Streit zu beginnen, denn er sah in Barths theologischem Ansatz einen radikalen Angriff. Daraufhin antwortete Barth: „Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt. Sie besteht darin, das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben“[58]. Barth wendete sich schon damals gegen die „Erlebnis- und Herzensfrömmigkeit“[59] der liberalen Theologen und das idealistisch-pietistisch missgedeutete Christentum. Er begründete seine Position damit, dass Gott ganz anders als alles Menschliche ist, „auch als alle menschliche Religion und Kultur“.[60] Barth wechselte 1925 an die Universität Münster.
1927 meinte Barth, er komme sich vor wie „einer, der, in einem dunklen Kirchturm sich treppaufwärts tastend, unvermutet statt des Geländers ein Seil ergriffen, das ein Glockenseil war und nun zu seinem Schrecken hören musste, wie die große Glocke über ihm soeben und nicht nur für ihn bemerkbar angeschlagen hatte.“[61]
Doch auch die Zukunft blieb turbulent. 1930 führte Barths Weg an die Universität Bonn. Er wollte sich als Schweizer von jeder Politik, auch der Kirchenpolitik fernhalten und sich ausschließlich der theologischen Arbeit widmen. Doch die politischen Verhältnisse in Deutschland wurden schwieriger und Barth trat am 1. Mai 1931 der SPD bei, um den Protest gegen den Nationalsozialismus und seine Solidarität mit der Demokratie zu bekunden. Im Juni 1932 schrieb Barth in einem offenen Brief: „Die Verkündigung der Kirche ist per se politisch, sofern sie die in Unordnung befindliche heidnische Polis zur Verwirklichung von Recht aufzurufen hat. Gut ist sie dann, wenn es das konkrete Gebot Gottes, ungut ist sie dann, wenn es die abstrakte Wahrheit einer politischen Ideologie ist, was sie vertritt.“[62] Im März 1933 legte die SPD besonders ihren exponierten Mitgliedern nahe, die Partei um der Karriere willen zu verlassen und sich fortan nur noch innerlich solidarisch zu zeigen. Barth lehnte dies ab und meinte, man könne ihn nur so an der Universität haben oder gar nicht.[63] 1933 trat Barth den neu entstandenen, nationalen Deutschen Christen als scharfer Gegner gegenüber. Für Juli 1933 wurden Kirchenwahlen angeordnet und von Karl Barth wurde ein klares Wort dazu erwartet. Es gab jedoch keine offizielle Verlautbarung seinerseits. Stattdessen schrieb er am Vorabend der Wahl, dass er weniger zur Lage als mehr zur Sache reden wolle. Er bemühte sich auch jetzt, in den Wirren dieser Zeit, mit seinen Studenten „nach wie vor und als wäre nichts geschehen – vielleicht mit einem leicht erhöhten Ton, aber ohne direkte Bezugnahme – Theologie und nur Theologie zu treiben“[64] Er leistete folgerichtig keinen aktiven, politischen Widerstand, wurde aber der geistige Führer der Bekennenden Kirche im kommenden Kirchenkampf. Barths neues Publikationsorgan wurde die Schriftenreihe ‘Theologische Existenz heute’. Im Mai 1934 fand die Synode von Barmen statt, zu der Barth eine theologische Erklärung verfasst hatte, die auch verlesen und einstimmig angenommen wurde. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern antwortet im Juni 1934 darauf mit dem Ansbacher Ratschlag. Im Ansbacher Ratschlag formuliert sie eine in der Barmer Theologischen Erklärung nicht enthaltene Ergebenheitsnote an Hitler.“[65]
[...]
[1] griech. „Fünfgefäß“, meint die fünf Bücher Moses.
[2] Jüdisches Lexikon, S.1104.
[3] Vgl. RGG Bd. 2, S. 1515f.
[4] Jüdisches Lexikon, S.1105f.
[5] Vgl. RGG Bd. 2, S. 749.
[6] Joest, Dogmatik, S.487f.
[7] Joest, Dogmatik, S.488f.
[8] Röm. 3,28.
[9] Joest, Dogmatik, S.488f.
[10] Gal 2,16.
[11] Joest, Dogmatik, S.488f.
[12] Röm.3,19 f.
[13] Vgl. Joest, Dogmatik, S. 488f.
[14] Röm. 5, 20f.
[15] Vgl. Joest, Dogmatik, S. 488f.
[16] Röm. 3, 31.
[17] Vgl. Joest, Dogmatik, S. 488f.
[18] Vgl. RGG Bd. 2, S. 1520.
[19] Röm 13, 8.
[20] Röm 12, 2.
[21] Joest, Dogmatik, S.489 ff.
[22] Die Frage von dem Heil des Menschen sei von Gott vorbestimmt.
[23] Vgl. RGG Bd. 1, S. 745f.
[24] Mt. 7,12.
[25] Vgl RGG Bd.4, S. 1360
[26] nur die Gnade, Lehre Luthers von der Rechtfertigung des Menschen allein aus der Gnade Gottes, Vgl. Röm. 3,21-28.
[27] Anmerkung der Elberfelderübersetzung an dieser Stelle
[28] 1. Sam. 2,6.
[29] Vgl. Joest, Dogmatik, S.491 ff.
[30] Vgl. RGG Bd. 6, S.1946.
[31] Luther, Werke, Bd. 36, S.9.
[32] festgelegt auf Konzil von Chalcedon 451 n.Chr., demnach ist Christus zugleich ganz Mensch und ganz Gott.
[33] Vgl. RGG Bd. 2, S. 1523.
[34] Vgl. RGG Bd. 4, S. 508.
[35] Vgl. RGG Bd. 2, S. 1523f.
[36] Vgl. Joest, Dogmatik, S.491 ff.
[37] Vgl. RGG Bd. 4, S. 501.
[38] Vgl. Joest, Dogmatik, S.491 ff.
[39] A.a.o., S.494 ff.
[40] M. Luther, Werke, Bd. 39/I, S. 446.
[41] Vgl. RGG Bd. 2, S. 1523f.
[42] Möller, Christentum, S.256.
[43] Vgl. Möller, Christentum, S.258.
[44] Joest, Dogmatik, S.494 ff.
[45] Vgl. RGG, Bd.2, S. 713f.
[46] Harnack, Christentum, S. 93.
[47] A.a.O., S. 45.
[48] Vgl. RGG Bd. 3, S. 79.
[49] Vgl. Harnack, Christentum, S.93.
[50] Harnack, Christentum, S.92, auf den Widerspruch, dass Evangelium eine Christologie impliziert, möchte ich hier nicht eingehen.
[51] Vgl. RGG Bd. 4, S. 353.
[52] Kupisch, Barth, S.32.
[53] Vgl. a.a.O., S.8.
[54] Vgl. a.a.O., S.34.
[55] Barth, Gesammelte Vorträge, 1924, S. 158.
[56] Dialektik geht auf den Philosophen Hegel (1770-1831) zurück mit der Vorstellung, dass es unterschiedliche Stufen im Prozess der Wahrheitserkenntnis gibt. Dass die Wahrheit aber im Fließen bleibt. Grundlegend ist eine These und eine hinterfragende Antithese, zusammen wird beides in der Synthese auf eine höhere Stufe gestellt.
[57] Kupisch, Barth, S.46.
[58] Kupisch, Barth, S.47.
[59] A.a.O., S.58.
[60] A.a.O.
[61] A.a.O., S.11.
[62] Busch, Barth, S.229.
[63] Vgl. Kupisch, Barth, S.75.
[64] Kupisch, Barth, S. 79.
[65] Müller/Siemen, Sterben, S. 21.
- Arbeit zitieren
- Fabian Labahn (Autor:in), 2006, Wie ist die christliche Ethik zu begründen? Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bei Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72993
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