Die Beziehungen der EU mit der Türkei spiegeln sich auf eine lange Geschichte zurück und weisen einige Besonderheiten auf. Die Türkei war einer der ersten Beitrittskandidaten, der Beziehungen zur Union aufnahm und ist ausserdem als einziger Kandidat in Form einer Zollunion mit der EU verbunden. Zudem ist die türkische Republik ein wichtiges Mitglied der NATO und spielt eine bedeutende und zunehmend einflussreichere Rolle in der europäischen und internationalen Politik. Schon seit über 40 Jahren versucht die Türkei sich der Europäischen Gemeinschaft anzuschliessen, bisher jedoch mit wenig Erfolg. Bereits 1963 vereinbarte die EWG ein Assoziationsabkommen mit der Türkei, indessen Artikel 28 die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eröffnet wurde. Seither wurde dieses Thema immer wieder aufs Neue diskutiert und hat bis heute nicht an Aktualität verloren. 1987 stellte die Türkei einen Antrag auf Vollmitgliedschaft, der jedoch 1990 abgelehnt wurde, womit sie vom Beitrittsprozess der osteuropäischen Länder ausgeschlossen blieb. Erst 1999 auf dem Gipfel von Helsinki erlangte das Land am Bosporus den Beitrittskandidatenstatus. Während diesen über Jahrzehnte andauernden Prozessen, fühlte sich die türkische Öffentlichkeit oft ungerecht behandelt und beschuldigte Europa eine "Hinhaltepolitik" zu führen. Die Europäische Union wiederum begründete ihre Ablehnung mit der "mangelhaften Demokratie" und der "unstabilen Volkswirtschaft" des Landes. Zum Teil war man in Europa auch der Meinung, die Türkei würde weder geographisch noch kulturell zu Europa gehören, und sie würde im Falle einer Mitgliedschaft nichts als eine Last für die Union darstellen. Andererseits betonten Beitrittsbefürworter die geostrategische Bedeutung des Landes und waren der Ansicht, eine Mitgliedschaft der Türkei würde zu Machtgewinn führen.
Diese Diskussion wird heute stärker denn je weitergeführt, wobei die Argumente grössten Teils immer noch dieselben sind. In dieser Arbeit möchte ich mich aber nur auf die Analyse der ökonomisch fundierten Argumente beschränken, obwohl ich denke, dass die politischen Aspekte in Wirklichkeit die entscheidenden sind. Ich habe versucht vor allem auf Fragen einzugehen, welche mich persönlich besonders interessieren und von denen ich denke, dass sie in der EU-Türkei Debatte grundlegend sind.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der institutionelle Anschluss an den Westen
2.1 Das Assoziierungsabkommen 1963
2.2 Der Antrag auf die EG Vollmitgliedschaft
2.3 Die Zollunion
3 Der optimale europäische Wirtschaftsraum
3.1 Die EU-Osterweiterung
3.2 Überlastet ein Beitritt der Türkei die EU?
4 Wann wird die türkische Volkswirtschaft Europa reif sein?
4.1 Die Verschuldungssituation der Türkei
4.2 Das Problem der wirtschaftlichen Rückständigkeit
4.3 Sind die Reformen ausreichend?
4.3.1 Das erste ökonomische Kriterium: Funktionsfähige Marktwirtschaft
4.3.2 Das zweite ökonomische Kriterium: Wettbewerbsfähigkeit
5 Die europäische Perspektive
5.1 Arbeitslosigkeit durch Massenmigration
5.2 Die Türkei als Grossmarkt der Zukunft
6 Was erhofft sich die Türkei aus einem EU-Beitritt?
6.1 Anstieg der Direktinvestitionen und Stabilitätseffekte
6.2 Wirkung eines EU-Beitrittes auf die türkische Agrarwirtschaft
7 Diskussion über eine Sonderpartnerschaft
8 Schlusswort
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Beziehungen der EU mit der Türkei spiegeln sich auf eine lange Geschichte zurück und weisen einige Besonderheiten auf. Die Türkei war einer der ersten Beitrittskandidaten, der Beziehungen zur Union aufnahm und ist ausserdem als einziger Kandidat in Form einer Zollunion mit der EU verbunden. Zudem ist die türkische Republik ein wichtiges Mitglied der NATO und spielt eine bedeutende und zunehmend einflussreichere Rolle in der europäischen und internationalen Politik. Schon seit über 40 Jahren versucht die Türkei sich der Europäischen Gemeinschaft anzuschliessen, bisher jedoch mit wenig Erfolg. Bereits 1963 vereinbarte die EWG ein Assoziationsabkommen mit der Türkei, indessen Artikel 28 die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eröffnet wurde. Seither wurde dieses Thema immer wieder aufs Neue diskutiert und hat bis heute nicht an Aktualität verloren. 1987 stellte die Türkei einen Antrag auf Vollmitgliedschaft, der jedoch 1990 abgelehnt wurde, womit sie vom Beitrittsprozess der osteuropäischen Länder ausgeschlossen blieb. Erst 1999 auf dem Gipfel von Helsinki erlangte das Land am Bosporus den Beitrittskandidatenstatus. Während diesen über Jahrzehnte andauernden Prozessen, fühlte sich die türkische Öffentlichkeit oft ungerecht behandelt und beschuldigte Europa eine "Hinhaltepolitik" zu führen. Die Europäische Union wiederum begründete ihre Ablehnung mit der "mangelhaften Demokratie" und der "unstabilen Volkswirtschaft" des Landes. Zum Teil war man in Europa auch der Meinung, die Türkei würde weder geographisch noch kulturell zu Europa gehören, und sie würde im Falle einer Mitgliedschaft nichts als eine Last für die Union darstellen. Andererseits betonten Beitrittsbefürworter die geostrategische Bedeutung des Landes und waren der Ansicht, eine Mitgliedschaft der Türkei würde zu Machtgewinn führen.
Diese Diskussion wird heute stärker denn je weitergeführt, wobei die Argumente grössten Teils immer noch dieselben sind. In dieser Arbeit möchte ich mich aber nur auf die Analyse der ökonomisch fundierten Argumente beschränken, obwohl ich denke, dass die politischen Aspekte in Wirklichkeit die entscheidenden sind. Ich habe versucht vor allem auf Fragen einzugehen, welche mich persönlich besonders interessieren und von denen ich denke, dass sie in der EU-Türkei Debatte grundlegend sind. Dabei habe ich die verschiedenen Ansichten von Politikern, Wissenschaftlern und Schriftstellern verglichen und so versucht, Antworten auf meine Fragen zu finden.
Ich habe im Teil Zwei zur Einführung einen geschichtlichen Überblick der europäisch-türkischen Beziehungen gegeben, was zu einem besseren Verständnis der Argumentationen dienen soll. Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bilden die Abschnitte 3, 4, 5 und 6.
Zunächst wird in Teil Drei auf die EU-Osterweiterung Bezug genommen und das zentrale Argument der Beitrittsgegner - die Aufnahme der Türkei würde die EU überdehnen - angegangen. An dieser Stelle werden vor allem die Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen der Osterweiterung und einer möglichen Erweiterung der EU um die Türkei hervorgehoben, und insbesondere wird die Frage gestellt, wie gross der optimale europäische Wirtschaftsraum sein sollte. Im vierten Teil wird die aktuelle ökonomische Situation der Türkei näher untersucht und die durch die Reformen erzielten Fortschritte diskutiert. Die Vor- und Nachteile, welche Europa von einer türkischen Mitgliedschaft hätte, werden in Teil fünf diskutiert, wobei hier wiederum nur die ökonomischen Aspekte behandelt werden. Dann im sechsten Abschnitt stelle ich die türkische Perspektive dar: Was erhofft sich die Republik durch eine Vollmitgliedschaft in der EU? Die zentralen Themen sind hier die Auswirkung einer Vollmitgliedschaft auf die Direktinvestitionen und die ökonomische Stabilität des Landes, sowie ihre Einflüsse auf die türkische Landwirtschaft. Und zu guter letzt möchte ich kurz das Thema der Sonderpartnerschaft anschneiden, welches im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen, die im Oktober geführt werden sollen, in den Vordergrund getreten ist, jedoch auf der türkischen Seite auf keinerlei Sympathie stösst.
2 Der institutionelle Anschluss an den Westen
2.1 Das Assoziierungsabkommen 1963
Kurz nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958, bewarb sich die Türkei zum ersten Mal um eine Mitgliedschaft. Als Antwort auf diese Bewerbung schlug die EWG der Türkei eine Assoziierung vor, bis die Konditionen des Landes eine Mitgliedschaft erlaubten. Somit fingen die Verhandlungen an und führten am 12. September 1964 zur Unterzeichnung des Abkommens von Ankara, welches dann schliesslich am 1. Dezember 1964 in Kraft trat. Das primäre Ziel dieses Abkommens war die Errichtung einer Zollunion in drei Phasen und die schrittweise Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das Abkommen sah auch eine Aufhebung der Einschränkungen in Bereichen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs vor und enthielt ausserdem noch weitere Bestimmungen zu anderen Teilbereichen der Wirtschaft. Diese Zusammenarbeit sollte die Lebensverhältnisse in der Türkei verbessern und die Wirtschaftskluft zwischen den beiden Assoziierungspartnern verringern. So erklärte sich die EWG bereit, der Türkei für eine bestimmte Zeit Wirtschaftshilfe zu gewährleisten. Das Abkommen sollte in drei Phasen ablaufen; nämlich in einer Vorbereitungs-, einer Übergangs- und einer Endphase.[1]
Für die Vorbereitungsphase war der Zeitraum vom 1. Dezember 1964 bis zum 31. Dezember 1972 vorgesehen. Mit diesem ersten Schritt sollte das türkische Exportvolumen in die EWG- Länder erhöht werden und eine Umstellung der türkischen Exportstruktur erfolgen. Die Zollkontingente erstreckten sich auf die türkischen Erzeugnisse von Tabak, Rosinen, Haselnüssen und getrockneten Feigen, welche 40% der türkischen Exportprodukte ausmachten. Diese Kontingente sahen jedoch keine Abnahmegarantien vor, was dazu führte, dass das Land kaum Vorteile aus ihnen ziehen konnte. Abgesehen von Haselnüssen konnte keines dieser Kontingente ausgeschöpft werden. Im Gegensatz zu den USA, den EFTA- Staaten und dem Ostblock, ging der Exportanteil an landwirtschaftlichen Erzeugnissen in die EWG-Länder sogar zurück. 1963, ein Jahr vor der Assoziierung mit der Türkei, lag der Exportanteil bei 38%, bis zum Jahre 1972 wuchs dieser auf 39,2% an. Dagegen kam es in diesem Zeitraum zu einem ausserordentlichen Anstieg des Importanteils von 28,5% auf 41,8%, was auf die Meistbegünstigung, welche die Türkei den EWG- Staaten im Gegenzug zu den Zollpräferenzen eingeräumt hatte, zurückzuführen ist. Den Exporterhöhungen in minimalem Ausmass stand ein enormer Anstieg von Importen entgegen; somit führten die Zollkontingente zu einem Defizit in der türkischen Handelsbilanz. In der Vorbereitungsphase stieg das Aussenhandelsdefizit der Türkei im Vergleich zur EWG um 101 Mio. US-Dollar. Der Betrag von 175 Mio. Dollar, der zwischen 1964 und 1969 der Türkei von der EWG als Finanzhilfe zur Beschleunigung des Integrationsprozesses zukam, reichte kaum zur Deckung dieses Defizits. Nach Artikel 1 des als Anlage 2 des Assoziierungsabkommens beigefügten Finanzprotokolls, sollte diese Finanzhilfe der Förderung türkischer Unternehmen dienen indem: „Finanzierungserträge für Investitionsvorhaben, die Verwirklichung der Ziele des Abkommens fördern und sich in den Rahmen des türkischen Entwicklungsplans einfügen“.[2]
Interessant war auch der Aspekt der Migration in der Zeit von 1964 - 1970. Während dieser Periode waren allein in der Bundesrepublik Deutschland 645`951 Erwerbspersonen aus der Türkei beschäftigt. Im Jahr 1971 fiel die Zahl der Erwerbstätigen Türken in der BRD auf 530`725. Allein zu dieser Zeit betrugen die Überweisungen der Immigranten 471 Mio. US-Dollar und im Zeitraum 1964 bis 1970 betrugen sie 805,6 Mio. Dollar. Die Überweisungen lagen also weitaus höher als die Handelsbilanzdefizite, welche die Türkei mit den EWG-Staaten hatte. Diese Zahlen stellen die grosse Bedeutung des Migrationaspektes zwischen der Türkei und den EWG-Mitgliedsstaaten dar. In der Vorbereitungsphase wurde jedoch über diese Problematik nicht verhandelt sondern man regelte sie durch bilaterale Verträge.[3]
Am 1. Januar 1973 ging man nun, um zwei Jahre verspätet, in die Übergangsphase über. Es kam jedoch kurz nach der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls für den Übertritt in die zweite Phase zu heftigen Diskussionen. Die EWG-Gegner in der Türkei gelangen zu dem Entschluss, dass die Türkei bei den Verhandlungen „hinters Licht geführt“ worden sei. Wesentliche Kritikpunkte waren die Artikel 10 und 11 des Zusatzprotokolls, welche die Türkei verpflichteten, die Einfuhrzölle für Industriegüter aus den EWG-Ländern bis Januar 1985 abzubauen. Die Einwände können in Kürze wie folgt aufgezählt werden.[4]
1. Die Begünstigungen, welche die EWG der Türkei gewährte, hätten mittlerweile ihre Bedeutung verloren, da durch die Mittelmeerpolitik der EWG die übrigen Anrainerländer des Mittelmeers im Vergleich zur Türkei gleich oder teilweise sogar bessergestellt seien.
2. Der Schutz der türkischen Industrie sei durch das Zusatzprotokoll weitgehend aufgehoben und somit habe diese mit den Industrieprodukten der hochindustrialisierten EWG-Staaten kaum Wettbewerbschancen.
3. Das Zusatzprotokoll würde Handelserleichterungen der Türkei mit anderen Drittstaaten erschweren, da die EWG-Türkei Verträge der Türkei nicht die Möglichkeit der Wahl liessen, eventuell durch bilaterale Verträge mit Drittstaaten ihren Export zu steigern.
Eine weitere Verzögerung zur Vollendung der Zollunion, kam aufgrund des Staatsstreiches im Jahr 1980, durch das türkische Militär, zustande. Hier ist zu erwähnen, dass das Militär als Hüterin des kemalistischen Erbes gilt und sich zum Eingriff in die Politik immer dann autorisiert sah, wenn es ihrer Auffassung nach gefährdet erschien.[5] Obwohl der türkische nationale Sicherheitsrat in einer Pressekonferenz seine Ziele klarstellte, die in erster Linie die Bindung der Türkei an den Westen und vor allem die bald mögliche Rückkehr zur Demokratie betonten, war eine Militärregierung mit dem Selbstverständnis der EG nicht zu vereinbaren. So entschied die Europäische Gemeinschaft am 22.01.1982 die Beziehungen zur Türkei einzustellen.[6]
2.2 Der Antrag auf die EG Vollmitgliedschaft
1983 erfolgten in der Türkei die Parlamentswahlen womit die Rückkehr zur Demokratie wieder realisiert werden konnte. Damit verbesserten sich auch die EG-Türkei-Beziehungen und mit der Tagung des Assoziationsrates am 16.09.1986 wurden die offiziellen Gespräche wieder aufgenommen. Am 14. April 1987 beantragte die Türkei, gestützt auf Artikel 28 des EWG-Türkei Vertrages, die EG-Vollmitgliedschaft.[7] Hinter dieser Antragsstellung stand der Konsens der Parteien. Mit Ausnahme der islamistischen Wohlfahrtspartei waren sich alle links und rechts orientierten Parteien in der Türkei der Bedeutung einer EG-Mitgliedschaft bewusst und befürworteten eine solche.[8] Die Stellungnahme zu diesem Antrag erfolgte zwei Jahre später, am 17. Dezember 1989; in dieser gab die EG-Kommission bekannt, dass die EG bis zur Vollendung des sogenannten Einheitlichen Binnenmarktes, also bis zum 1. Januar 1993, beschlossen hatte, mit keinem Land Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.[9] Dann, am 5. Februar 1990, wurde der Antrag auf die EG-Vollmitgliedschaft einstimmig abgelehnt. Der Kommissionsbericht für den Ministerrat 05.06.1991 zeigte, dass der Rat mit seinem Beschluss die türkische Vollmitgliedschaft nicht völlig blockierte, da er als primäres Ziel die Vollendung der Zollunion bis 1995 vorsah. Um dies zu erreichen schlug er die Zusammenarbeit in allen Bereichen vor. Die Türkei erklärte sich daraufhin bereit, alle erforderlichen Massnahmen zur Bildung der Zollunion innerhalb des von der EG angegebenen Zeitrahmens zu verwirklichen. Dazu musste sie das innerstaatliche Recht, insbesondere soweit es den wirtschaftlichen Bereich betrug dem Rechtsstand der EG angleichen. Zu diesem Zweck wurden von der Türkei in der Folgezeit rund 100 Gesetze abgeändert bzw. erlassen. Weiterhin wurde beschlossen, dass die Türkei ihre zugesprochenen Finanzhilfen, welche man ab 1981 vorsah, bekommen sollte. Doch dieser Betrag wurde auf Grund des griechischen Vetos nicht ausbezahlt.[10]
2.3 Die Zollunion
Am 13. Dezember 1995 stimmte das Europäische Parlament mit breiter Mehrheit der Vollendung der Zollunion mit der Türkei zu. Daraufhin trat am 1.1.1996 die Endstufe der Zollunion in Kraft. Die Zölle und zollähnliche Abgaben wurden gegenseitig vollumfänglich abgebaut und es wurde ein gemeinsamer Aussenzolltarif gegenüber Drittländern angewendet. Allerdings betraf die Zollunion zwischen der EU und der Türkei lediglich Industriegüter. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse blieben vorerst ausserhalb ihres Anwendungsbereichs. Die türkische Regierung war im Bewusstsein, dass sich für die Türkei, durch die Zollunion kurz- bis mittelfristig wirtschaftliche Nachteile ergeben würden; während die EU von ihrer Vollendung sofort profitieren könnte. Trotzdem war sie an einer raschen Realisierung interessiert. Die Kenner der Zusammenhänge der türkischen Aussenpolitik waren der Ansicht, dass die Vollendung der Zollunion möglicherweise den letzten Trumpf für die Türkei, zu einer engen, langfristigen Anbindung an die EU darstellte. Denn es war klar zu sehen, dass das Interesse der ehemaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in den sechziger und Anfangs der siebziger Jahre, an „einer umfassenden Türkeipolitik“, mit dem 1981 erfolgten Beitritt Griechenlands und den Beitritten von Spanien und Portugal, abgenommen hatte. Diese Länder wiesen vor allem im Agrarbereich ähnliche Spezialisierungsmuster wie die türkischen Exporte auf. Die Vollmitgliedschaft der Türkei hätte also eine direkte Konkurrenzsituation zu den Produkten dieser Länder geschafft. Dies erklärt u.a. auch die Bestreben Griechenlands zur Verhinderung, nicht nur einer eventuellen Mitgliedschaft der Türkei, sondern sogar einer Zollunion. Ein weiterer Grund warum die Türkeipolitik der sechziger Jahre an Interesse verlor, ist die Überwindung der ideologischen Ost-West-Gegensätze. Damit war auch die strategische Bedeutung der Türkei abgeschwächt und die Interessen Europas haben sich vorerst nach Nordosten verlagert.[11] Kurz gesagt; man war davon überzeugt, dass angesichts der veränderten Bedingungen in der EU und in der Weltpolitik, durch die unverzügliche Vollendung der Zollunion die langfristige, potentielle Vollmitgliedschaftsperspektive sichergestellt wurde. Die Türkei war somit das erste Land, das mit der EU durch eine gemeinsame Zollunion verbunden war, ohne gleichzeitig Vollmitglied gewesen zu sein. Dies hatte zur Folge, dass das Land davon ausgeschlossen blieb, die durch die Integration in den EU-Binnenmarkt entstandenen strukturellen Anpassungslasten durch eine Inanspruchnahme der EU-Strukturfonds oder des sogenannten Kohäsionsfonds abmildern zu können.[12]
Schon im ersten Jahr wurden bereits die negativen Seiten durch den immensen Anstieg an Importen und den Rückgang an Exporten ersichtlich. Ausserdem erhielt die Türkei, bedingt durch das Veto Griechenlands und die Entscheidung des Europäischen Parlaments, trotz vertraglich vorgesehener Verpflichtung der EU keine Finanzhilfen. Die EU unternahm auch im Weiteren keine Schritte zur Erleichterung der Anpassungen der Türkei an die Bedingungen der Zollunion. Durch die Abschaffung der Zölle bei den Importen aus den EU Ländern, hat die Türkei einen Verlust von ca. 5 Mrd. Dollar erlitten. Dieser Betrag entspricht dem Fünffachen der Finanzhilfen, den die Türkei von der EU bekommen sollte. Ausserdem besitzen die türkischen Industriellen bis heute keine Freizügigkeit in der EU, weshalb sie jedes Mal, wenn sie in die EU- Länder reisen ein Visum benötigen. Dies schränkt ihre Flexibilität im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen, welche ohne Visum in die Türkei reisen können, erheblich ein. Aber der grösste Nachteil für die Türkei ist, dass sie bei der Gestaltung von EU- Verträgen sowie bei Entscheidungsprozessen kein Mitspracherecht hat, da sie kein Vollmitglied ist. Damit leistet sie einen freiwilligen Souveränitätsverzicht und muss die Entscheidungen, die in Brüssel ohne ihre Beteiligung gefällt werden, akzeptieren. Einen Vorteil aus der Zollunion zieht die Türkei aber doch noch, die türkische Industrie konnte sich dank ihr international wettbewerbsfähiger machen und eine verstärkte Innovation realisieren. Die Tatsache, dass die Zollunion von der türkischen Seite akzeptiert wurde, obwohl man die wirtschaftlichen Schäden bereits absehen konnte, ist ein Beweis dafür, dass diese Zusammenarbeit nicht in erster Linie zur Verbesserung der eigenen Wirtschaft dienen sollte, sondern als ein weiterer Schritt in der Westintegration erachtet wurde. Die türkische Regierung sah in der Zollunion ein Mittel, dass das Land einer EU-Mitgliedschaft näher bringen würde und hoffte auf baldige Beitrittsverhandlungen.[13] Wie auch in der Abbildung 1 ersichtlich ist, hat die Abschaffung der türkischen Importzölle und die Einführung des gemeinsamen Aussentarifs auf Industrieprodukte die Importe der Türkei aus den EU-Ländern stark begünstigt. Da aber die meisten verarbeiteten Erzeugnisse ohnehin schon seit längerem zollfrei geliefert werden konnten und die Liberalisierung im Agrarsektor noch nicht realisiert ist, nahmen die türkischen Exporte in die EU deutlich weniger zu.[14]
[...]
[1] Vgl. H. Gümrükcü, Türkei und Europäische Union im Lichte der vollendeten Zollunion. Die Geschichte der Irrungen und Wirrungen der EU- Türkei- Beziehungen, in: ITES, Bd. 6, Istanbul 1997, S. 34, 35.
[2] Ebd., S. 37, 38.
[3] Vgl. H. Gümrükcü, S. 39.
[4] Ebd., S.41.
[5] Nach den neusten Reformen in der Türkei wurde die Autorität des Militärs stark eingeschränkt.
[6] Vgl. C. Akkaya, Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Zentrum für Türkeistudien, Essen 1996, S. 1 ff.
[7] Vgl. H. Gümrükcü, S. 43.
[8] Vgl. Özak, Halil/Dagyeli, Yildirim, die Türkei im Umbruch, Frankfurt 1989, S. 238.
[9] Vgl. EG- Kommission: 23 Jahresbericht (1989), Ziff. 801.
[10] Vgl. A. Eralp, Soguk Savastan Günümüz Türkiye- Avrupa Birligi Iliskileri, in: Türkiye ve Avrupa, Ankara 1997, S. 106-112.
[11] Vgl. H Gümrükcü, S.76 ff.
[12] Vgl. H Gümrükcü, S. 106 ff.
[13] Vgl. F. Şen, Die Situation der Türkischen Wirtschaft nach der Zollunion, in: Zentrum für Türkeistudien, Essen 1996, S. 4.
[14] Vgl. W. Quaisser , A. Reppegather (2004), EU-Beitrittsreife der Türkei und Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft; Schriftenreihe: Arbeiten aus dem Osteuropa-Institut München; 252, S. 35-37.
- Citation du texte
- Betül Celem (Auteur), 2005, Die ökonomischen Aspekte eines EU-Beitrittes der Türkei, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72545
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